Archiv

Russland und der Westen
"Putin hat alle Karten in der Hand"

Der französisch-deutsche Publizist Alfred Grosser glaubt nicht daran, dass Russlands Präsident Wladimir Putin bei der Gedenkveranstaltung zum D-Day in Frankreich auf den Westen zugehen wird. "Er hat alle Karten in der Hand, niemand weiß, was er will," sagte er im Deutschlandfunk.

Alfred Grosser im Gespräch mit Jasper Barenberg |
    Der deutsch-französische Publizist Alfred Grosser
    Alfred Grosser ( picture alliance / dpa / Arne Dedert)
    Die Spannungen zwischen Russland und dem Westen seien zwar störend für die D-Day-Feierlichkeiten. Gleichzeitig sei es aber richtig, dass Putin daran teilnehme. Man dürfe den Anteil der Roten Armee am Sieg über Deutschland im Zweiten Weltkrieg nicht unterschätzen.
    Putins Anerkennung des neuen ukrainischen Präsidenten Poroschenko reicht ihm nicht aus: "Eine große Geste wäre, wenn er zu Poroschenko sagen würde, du bist der Souverän über die ganze Ukraine, so wie sie heute ist - das wird er jedoch nicht sagen."
    Die Haltung Europas gegenüber Russland beschreibt Grosser als gespalten. Es sei schwierig zu beurteilen, inwiefern Sanktionen sinnvoll für den Westen seien. Der Dialog mit Russland müsse jedoch weiter gehalten werden. Er glaubt dabei jedoch nicht an ein Nachgeben Putins.

    Das Interview in voller Länge:
    Jasper Barenberg: Können die Feierlichkeiten in der Normandie auch eine Chance sein, eine Chance für eine Annäherung im Konflikt um die Ukraine? Das Gedenken in der Normandie scheint ja kein schlechter Anlass für Begegnungen zu sein, und Begegnungen sind durchaus erwünscht und geplant, aber dann wiederum auch bitte nicht zu viel der Begegnung. Offen ist ja immer noch, ob es etwa ein Treffen zwischen US-Präsident Obama und Wladimir Putin geben wird und wie der Kreml-Chef dem neu gewählten ukrainischen Präsidenten Poroschenko begegnet.
    Am Telefon begrüße ich den deutsch-französischen Politikwissenschaftler und Publizisten. Schönen guten Morgen, Alfred Grosser.
    Alfred Grosser: Guten Morgen.
    "Es war eine Tragödie"
    Barenberg: Alfred Grosser, das Gedenken an die Landung der Alliierten hat ja schon seine ganz eigene Geschichte. Jetzt kommt noch der Ukraine-Konflikt hinzu und die Sorge vor einer neuen Spaltung quer durch Europa, und dann gibt es ja schließlich auch noch den Streit um die nächste EU-Kommission und damit auch einen Streit ein wenig über die Zukunft der EU insgesamt, über den Weg, den sie einschlagen wird. Sehr viele verschiedene Bezüge, sehr viele verschiedene Aspekte, heute eingerahmt auf dieser großen Bühne der Feierlichkeiten in der Normandie. Welches Bild ergibt sich für Sie?
    Grosser: Zuerst einmal wird gefeiert. Ich hätte das Feuerwerk weggelassen. Es war eine Tragödie, die Landung. Es waren einige Franzosen dabei unter englischer Uniform, denn de Gaulle durfte nicht. De Gaulle durfte erst am 14. nach Frankreich reisen. Es wurde geheim gehalten, wo und wann gelandet wird, weil man Angst hatte, die Franzosen verraten das Datum. Und man feiert die Amerikaner und die Engländer, die gelandet sind, und das ist schon sehr viel, denn unter de Gaulle wurde das ein bisschen vergessen, dass Frankreich sich nicht selbst befreit hat. Wir sind ja im Süden, ich war in Marseille, damals war die Befreiung schon im September davor, sodass die Landung in der Normandie war ein Ereignis, aber befreit war man schon im Süden seit September 1944.
    Die Feier ist eingerahmt natürlich in heutige Ereignisse, aber ich bin nicht sicher, ob das wirklich überwiegt in der französischen Bevölkerung. Man gedenkt diesem tragischen Tag und es ist sehr schön, dass man in Cannes auch gedenkt an die Opfer. Das ist in Deutschland nach dem Krieg überhaupt nicht bewusst geworden, dass Caen so zerstört worden ist wie jede deutsche Stadt von den alliierten Bombardierungen. Das ist überwunden worden. Man feiert zusammen, auch mit den Überlebenden dieser Kriege.
    "Er hat alle Karten in der Hand"
    Barenberg: Jetzt beobachten die internationalen Beobachter natürlich sehr genau, was sich mit Blick auf den Ukraine-Konflikt tut heute an diesem Tag, wie sich Wladimir Putin, der russische Präsident verhält, wie sich die anderen Staats- und Regierungschefs ihm gegenüber verhalten. Ist das ein störendes Element aus Ihrer Sicht, oder ist es geradezu passend, dass dieser Anlass gewählt wird, um möglicherweise eine Annäherung zu erreichen?
    Grosser: Natürlich ist es passend, dass Putin dabei ist. Ohne die Rote Armee wäre der Krieg nicht gewonnen worden, und das muss man auch in Deutschland immer wieder sagen. Die Rote Armee war nicht von einem freien Land, aber hat befreit, jedenfalls in Westdeutschland, mitgemacht, dass Hitler stürzt. Auf der anderen Seite ist man sehr davon gestört, weil man nicht weiß, was Putin will, und die ganze Diskussion, wer diskutiert mit wem, wer ist mit Putin, wer nicht mit Putin, geht um eine Frage, auf die keiner eine Antwort hat: Was will eigentlich in der Ukraine Putin? Bis wohin will er gehen? Inwiefern fühlen sich zurecht Estland und so weiter bedroht, weil jetzt Putin so dasteht, als würde er die Sowjetunion wieder neu aufstellen, im Vergessen von dem, was die Sowjetunion negativ gewesen ist? Das weiß eigentlich niemand und die Frage, die jeder sich stellt, ist: Was will er? Bis wohin will er gehen? Er hat alle Karten in der Hand.
    Barenberg: Können Sie sich vorstellen, dass die Begegnungen heute in der Normandie, dass auch Gesten, dass auch Worte die bisher beste Chance bieten für ihn, für ein Stück Entspannung zu sorgen?
    Grosser: Ja, er kann für Entspannung sorgen und trotzdem alles weitermachen im Osten der Ukraine. Er stützt sich auf die dortige russische Bevölkerung, er stützt sich auf die sogenannten unabhängigen Leute, die mit Gewalt alles an sich reißen, gegen die Regierung in Kiew. Die große Geste wäre, dass er den Chef in Kiew nicht nur begrüßt, sondern sagt, Du bist auch das Souverän über die ganze Ukraine, so wie sie heute ist. Vielleicht wird es mal föderal, aber vorläufig bist Du der Chef der ganzen Ukraine. Aber das wird er nicht sagen.
    Barenberg: Das glauben Sie nicht, dass er das sagen wird?
    Grosser: Nein.
    "Kanzlerin scheint härter als der Außenminister zu sein"
    Barenberg: Das ist ja eine Erwartung, die jetzt von allen Seiten, aus den USA, aus Großbritannien, auch vom französischen Präsidenten formuliert wird, dass es so etwas wie eine offizielle Anerkennung gibt des neugewählten Präsidenten in der Ukraine.
    Grosser: Ja. Die Anerkennung wird kommen. Aber die Anerkennung über welches Gebiet? Dass er in Kiew anerkannt wird, ist normal. Bis wohin geht seine Macht? Wird Putin unterstützen, dass seine Macht bis an die Grenze geht der Ukraine, so wie sie heute ist?
    Barenberg: Sie schildern, Alfred Grosser, ja sehr anschaulich, wie Putin sich verhalten hat in den letzten Wochen, dass unklar ist, was er mit seiner Eskalationspolitik erreichen will. Hat denn Europa, hat der Westen die richtige Haltung gefunden gegenüber diesem Vorgehen?
    Grosser: Es ist sehr schwer. Gestern und vorgestern gab es französische Industrielle, die zu Hollande gegangen sind, genau wie die deutschen, und sagen, wir können keine Wirtschaftssanktionen machen, wir haben zu viele Interessen der Industrie, der Banken und so weiter in Russland, keine Sanktionen bitte, sonst werden wir gegenbestraft. Was kann man dann tun?
    Barenberg: Die Öffentlichkeit in Deutschland beispielsweise ist mit großer Mehrheit dafür, weiter alle Gesprächsfäden in Richtung Moskau, alle Gesprächsmöglichkeiten offen zu lassen und Russland nicht weiter zu isolieren. Ist das der richtige Weg?
    Grosser: Ich weiß nicht. Die Öffentlichkeit in Deutschland scheint mir doch sehr gespalten zu sein. Es gibt Für und Gegen und es scheint mir auch, dass es nicht eine völlige Einstimmigkeit gibt zwischen der Kanzlerin und dem Außenminister. Die Kanzlerin scheint mir ein bisschen härter zu sein als der Außenminister, der weiterhin für alle Verhandlungen ist, die nur möglich sind.
    "Er wird große Worte sprechen"
    Barenberg: Und glauben Sie, dass es eine gute Idee ist, diese Linie weiter zu verfolgen?
    Grosser: Ja, reden kann man weiter, soll man weiter machen. Aber ich bleibe bei der Frage, da niemand weiß, was Putin letzten Endes will - er kann sehr höflich sein, er kann sehr nett sein -, in welchen Punkten wird er jetzt nachgeben? Das wird man vielleicht heute und morgen sehen, aber ich glaube nicht richtig daran. Er hat zu viele gute Karten in der Hand.
    Barenberg: Insofern glauben Sie auch nicht so sehr, dass das wirklich ein Tag für eine Chance sein könnte?
    Grosser: Ich weiß nicht. Ich glaube, es wird viel geredet werden. Er wird sehr nett sein, er wird sehr höflich sein, er wird große Worte sprechen, wenn er große Worte will. Aber was er entscheiden wird, das, glaube ich, wird heute und morgen nicht gesehen werden.
    Barenberg: Der deutsch-französische Politikwissenschaftler und Publizist Alfred Grosser heute Morgen hier im Deutschlandfunk. Danke für das Gespräch.
    Grosser: Vielen Dank.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.