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Russland und die Ukraine-Krise
"Putin ist ein Virtuose in der Bearbeitung der öffentlichen Meinung"

Putin sehe sich als Vertreter aller Russen, das habe er in letzter Zeit deutlich gemacht. Dahinter stecke ein "imperiales, gar völkisches Konzept", sagte der Historiker Karl Schlögel im DLF. Besonders die Deutschen versuchten, Putin zu verstehen. Zum Teil gebe es dabei aber "ganz romantische und jenseits der Wirklichkeit befindliche Interpretationen".

Prof. Dr. Karl Schlögel im Gespräch mit Bettina Klein | 08.05.2014
    Der Historiker Prof. Dr. Karl Schlögel (Archivfoto vom 11.03.2009)
    Der Historiker Prof. Dr. Karl Schlögel (Archivfoto vom 11.03.2009) (dpa / picture-alliance / Peter Endig)
    Alles, was zur Entspannung in der Ukraine-Krise beiträgt, ist gut, meint der Historiker Prof. Dr. Karl Schlögel. In dem Appell Putins, das Referendum zu verschieben, sehe er allerdings das Eingeständnis, dass man diese Wahl gar nicht durchführen könne. Heute wisse man außerdem, dass die Wahlen auf der Krim im Grunde gefälscht gewesen seien. Außerdem hätten große Teile der Bevölkerung an der Abstimmung nicht teilgenommen.
    "Putin ist ein Virtuose in der Bearbeitung der öffentlichen Meinung", glaubt Schlögel. Deshalb wollte er auch verhindern, dass an dem historischen Tag des Sieges, der am Sonntag gefeiert wird, selbst Kriegszustände herrschten. Im Bewusstsein der Ukrainer sei der Sieg über Hitler-Deutschland sehr verankert.
    Neue Haltung finden
    Die Ukraine-Krise zeige deutlich, was passiere, wenn das Gesetz des Handelns nicht bei einem selbst liege und man mit dem Rücken zur Wand stehe. Wichtig für die Zukunft sei, dass die Europäer ein Handlungskonzept für solche Situationen erarbeiteten. Dazu gehöre auch mehr Energieunabhängigkeit. Außerdem müssten die Europäer zeigen, dass sie Aggression gegen ein europäisches Land nicht duldeten. Die Unversehrtheit von bestehenden Grenzen müsse gesichert werden. Russland müsse begreifen, dass es eine Solidarität der Euroäer gebe, die man nicht einfach übergehen dürfe.
    Putin zeigt imperiales Konzept
    In der letzten Zeit habe Putin immer wieder zu verstehen gegeben, dass er sich als Vertreter der Russen überall auf der Welt sehe. Eine solche Haltung, die Interessen der Russen auch jenseits der eigenen Grenzen zu verteidigen, sei ein "imperiales, gar völkisches Konzept, das ihnen das Recht gibt, überall einzugreifen, wo es ihnen gefällt".
    "Ich habe gar nichts dagegen, dass man etwas verstehen will. Der Witz ist aber, dass wir nicht verstehen und auf Putin was projizieren" - und dadurch entstünden "zum Teil ganz romantische und jenseits der Wirklichkeit befindliche Interpretationen". Dafür verantwortlich sei eine Melange von Gefühlen und Erinnerungen an die ungeheuren Opfer, die die frühere Sowjetunion gegen Hitler gebracht habe. In weiten Teilen aber sei die Diskussion zum Kitsch geworden. Es sei empörend, wie zwischen Russen und Deutschen über die Krise gesprochen werde, in der der Dritte - die Ukraine - selbst habe überhaupt keine Stimme habe.
    "Wer behauptet, dass der Aufbau der zivilen Gesellschaft in der Ukraine eine faschistische oder antisemitische Angelegenheit gewesen sei, der hat einfach keine Ahnung. Das ist böswillige Propaganda." Russland habe bewusst das Bild von Nationalisten, Antisemiten und Faschisten geschürt.
    Karl Schlögel, geboren am 7. März 1948 in Hawangen bei Memmingen, war bis 2013 Professor für Osteuropäische Geschichte - zunächst von 1990 bis 1994 an der Universität Konstanz, von 1994 bis zu seiner Emeritrierung 2013 an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet.

    Das Interview in voller Länge:
    Bettina Klein: Die Separatisten wundern sich, so hörten wir gerade von unserem Korrespondenten aus Donezk. Sie können nicht verstehen, weshalb Wladimir Putin dazu aufruft, das Referendum im Osten der Ukraine zu verschieben. Was heißt dies alles? Ist das ein mögliches Signal der Entspannung, ein Wendepunkt gar? Unter anderem darüber möchte ich jetzt sprechen mit Professor Karl Schlögel. Er ist Historiker und Osteuropa-Experte, der seit Jahrzehnten die Entwicklung in den Staaten Osteuropas verfolgt und beschreibt, und er war kürzlich selbst in der Ukraine. Ich begrüße ihn in einem Studio in Berlin. Guten Morgen, Herr Schlögel.
    Karl Schlögel: Guten Morgen, Frau Klein.
    Klein: Zunächst die Frage auch an Sie: Wie bewerten Sie die jüngste Entwicklung? Ist das jetzt die Wende im Ukraine-Konflikt?
    Schlögel: Ich glaube, dass alles, was zu einer Entspannung und Beruhigung beiträgt, erst einmal gut ist. Was die Gründe angeht – ich glaube, dass es ein Eingeständnis ist, dass man dieses Referendum gar nicht durchführen konnte. Es reicht ja nicht einfach aus, Wahlzettel zu drucken und unter die Leute zu streuen, sondern ein Referendum, das wirklich Gewicht haben soll, das muss auch gut vorbereitet, organisiert werden. Und meiner Meinung nach bedeutet es in erster Linie, dass die separatistischen Gruppen in diesen großen Städten wie zum Beispiel Donezk gar nicht in der Lage waren und in der Lage sind, ein solches Referendum durchzuführen. Das ist das eine.
    Und zweitens: Ich glaube, es gibt keinen Schritt bei Putin, der wirklich eine Virtuose in der Bearbeitung der öffentlichen Meinung ist. Das ist sehr genau kalkuliert. Es ist jetzt an diesem Wochenende der Tag des Sieges, der überall gefeiert wird, der an das Kriegsende, an die Kapitulation Deutschlands, an den Beginn der Friedenszeit erinnert. Das ist sehr genau berechnet.
    "Krim-Wahl war im Grunde gefälscht"
    Klein: Berechnet mit welchem Ziel?
    Schlögel: Dass in einer Situation, in der eigentlich eine Aggression ja stattgefunden hat wie die Annexion der Krim, dass man dort in gewisser Weise den Frieden feiert. Das ist ja ein großes Datum, ein Datum, das in der Erinnerung der Sowjetbürger und der russischen Bürger und der ukrainischen Bürger tief verankert ist, das Kriegsende und der Sieg über Hitler, in dem die Sowjetunion und die Völker der Sowjetunion ungeheure Opfer gebracht haben. Und das in einer Situation zu feiern, wo ja gleichzeitig Krieg geschürt worden ist und Militär in Aktion gesetzt worden ist, das ist natürlich auch, wie soll man sagen, ein Kunststück, ein Meisterstück.
    Ich wollte aber noch was sagen zu den Referenden. Es ist inzwischen ja auch amtlich bekannt durch den Rat für Menschenrechte in Moskau, die eine Untersuchung gemacht haben über den Ablauf des Referendums auf der Krim, und es ist inzwischen klar, dass dieses Referendum überhaupt nicht so abgelaufen ist, wie es amtlich hieß, mit überwältigender Wahlbeteiligung, überwältigender Zustimmung. Es ist inzwischen klar, dass große Teile der Bevölkerung auf der Krim nicht teilgenommen haben und dass die Wahlen im Grunde gefälscht gewesen sind.
    Klein: Herr Schlögel, wie bewerten Sie im Augenblick allgemein die Bemühungen der EU und auch der Bundesregierung zu schlichten? Läuft da im Grundsatz alles in die richtige Richtung, oder gibt es aus Sicht des Historikers gravierende Denkfehler?
    Schlögel: Ja ich glaube, alle tun, was sie tun können, wenn man mit dem Rücken zur Wand steht, wo das Gesetz des Handelns nicht bei einem selbst liegt. Es sind, wie soll ich sagen, bedächtige, überlegte Handlungen, aber es gibt kein wirkliches Konzept. Ich glaube, dass man nach dieser Krise sich überlegen muss, wie man sich neu aufstellt, wie das heute heißt, und da muss man Überlegungen anstellen, die nicht im Hauruck-Verfahren und nicht von heute auf morgen realisierbar sind, sondern solche Dinge wie, dass die Europäer sich zusammenschließen, was die Energieunabhängigkeit angeht, das dauert ja Jahre. Aber dort ein klares Signal auszusenden, wäre sehr, sehr bedeutend.
    "Es geht um Selbstverteidigung"
    Klein: Was genau meinen Sie noch mit sich neu aufstellen? Wer muss sich da genau neu aufstellen?
    Schlögel: Die Europäer müssen deutlich machen, dass sie die Aggression gegen einen europäischen Staat nicht hinnehmen. Das hört sich zwar jetzt symbolisch und nur als reine Deklaration an, aber es kommt jetzt darauf an zu zeigen, dass man nicht alles machen kann und nicht alles mit sich machen lassen kann. Deswegen würde ich sagen, die Verkündung von Selbstverteidigungsmaßnahmen – und ich ziehe diesen Ausdruck vor gegenüber den Sanktionen, die den Beigeschmack haben, dass jemand bestraft werden soll. Es geht um Selbstverteidigung, um Sicherung der Unversehrtheit der Grenzen, um klar zu machen, dass es so etwas wie eine Solidarität der Europäer gibt, die man nicht ungestraft herausfordern und verletzen kann.
    Russlands Präsident Putin bei einem Treffen im Kreml
    Russlands Präsident Putin bei einem Treffen im Kreml (AFP / Mikhail Klimentyev)
    "Ein imperiales, ein völkisches Konzept"
    Klein: Herr Schlögel, Sie haben aber gerade gesagt, dass Sie eigentlich das bedächtige Vorgehen im Augenblick der Europäischen Union, auch der Bundesregierung durchaus für richtig halten, sprechen jetzt aber von, Selbstverteidigungsmaßnahmen, die angeraten wären Ihrer Meinung nach. Worin sollten die bestehen?
    Schlögel: Ja. Andere Verteidigungsmaßnahmen in einem militärischen Sinne sind ja ausgeschlossen, so dass im Grunde nur Maßnahmen in Frage kommen wie wirtschaftliche Abwehr- und Verteidigungsmaßnahmen. Es geht auch um eine Klarheit in der Sprache, dass man bestimmte Dinge, die jetzt im öffentlichen Raum aufgetaucht sind, einfach nicht hinnehmen kann, beispielsweise die Rede, dass Putin der Vertreter der Russen überall ist, auch jenseits der Grenzen. Das ist eine ganz neue Version. Überall wo russischsprachige Menschen oder Menschen russischer Herkunft sind, werden sozusagen russische Interessen verteidigt. Das ist ja ein imperiales, um nicht zu sagen ein völkisches Konzept, das ihm das Recht gibt, überall einzugreifen, wo es ihm gefällt. Und diese Dinge sind auch in der öffentlichen Rede klarzustellen. Das fängt im Übrigen schon an mit dem, was auf der Krim passiert ist. Das ist eine Annexion, das ist Völkerrechtsbruch und man kann nicht einfach so zur Tagesordnung übergehen.
    Klein: Dennoch, Herr Schlögel, überwiegt ja in Deutschland vielerorts, teilweise auch in der Öffentlichkeit und auch in der Bevölkerung, seit Monaten die Haltung, man müsse vor allem Verständnis für russische Interessen und für das Verhalten Wladimir Putins aufbringen.
    Schlögel: Ich habe ja gar nichts dagegen, dass man etwas verstehen will. Es gibt gar nichts Bedeutenderes, als etwas zu verstehen. Der Witz ist aber, dass wir eben genau nicht verstehen, sondern auf Putin etwas projizieren und zum Teil ganz romantische und jenseits der Wirklichkeit befindliche Interpretationen geben. Was der Grund dafür ist? Ich glaube, es ist eine sehr komplizierte Melange, eine Mixtur von Gefühlen, von Erinnerungen und so weiter. Es ist natürlich die Erinnerung an die ungeheuren Opfer, die die Sowjetunion im Kampf gegen Hitler gebracht hat. Es ist in gewisser Weise auch eine Dankbarkeit für den Einsatz im Kampf gegen Hitler, insbesondere in der DDR, glaube ich, wo man immer gesehen hat, welche armen Schweine eigentlich die einfachen Soldaten in den Garnisonsstädten gewesen sind. Es gibt auch eine Erinnerung an eine große Tradition, ob das nun Peter der Große und die Gründung der Akademie und Leibnitz und die russischen Studenten in Göttingen oder die Beziehungen der russischen und deutschen Arbeiterbewegung ist. Das gibt es alles. Aber an einem bestimmten Punkt kann das einfach sentimental werden und es kann zum Kitsch verkommen, und das ist in der Tat in weiten Teilen der Diskussion auch der Fall. Ich muss sagen, ich finde es einfach empörend, dass in einem Stil über diese Krise gesprochen wird zwischen Russen und Deutschen, wo der Dritte und eigentlich Betroffene meistens abwesend ist. Man redet über die Ukraine und die Ukraine selbst hat überhaupt keine Stimme. Warum eigentlich? Woraus haben wir das Recht, den eigentlich Betroffenen nicht zu hören?
    "Böswillige Propaganda" gegenüber den Maidan-Akteuren
    Klein: Da gibt es natürlich eine große Skepsis, um da noch mal einzuhaken, gegenüber der neuen ukrainischen Führung. Es heißt, Radikale waren unter den Maidan-Protestlern, war das vielleicht alles ein Coup, steht die neue Führung nicht doch auf der Gehaltsliste der CIA. Das sind sozusagen die Begründungen, die hier dafür herhalten müssen, dass man eben nicht besonders mit sehr vielen Sympathien teilweise der Ukraine gegenübersteht. Sie waren selbst dort. Was sagen Sie denn darauf?
    Schlögel: Jeder konnte dort hingehen und die Journalisten und Reporter haben eine großartige Arbeit gemacht, seit Monaten, auch mit ziemlichem Risiko. Wer behauptet, dass der Aufbau dieser zivilen Bewegung im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt eine faschistische oder antisemitische oder was weiß ich Angelegenheit gewesen sei, der hat einfach keine Ahnung. Das ist böswillige Propaganda. Jeder konnte dort hingehen und konnte das sehen. Und die Tatsache, dass sich andere Leute dort angehängt haben und ihre Aktionen durchziehen wollten, das kann überhaupt nicht die Maidan-Bewegung, diese Bewegung einer elementaren Empörung gegen ein banditisches Regime diskreditieren. Und es ist sehr, sehr übel, dass die russische Propaganda mit aller Kraft dieses Bild von Faschisten, Antisemiten, Nationalisten weiterhin schürt und die Legitimität dieser Regierung in Zweifel zieht. Sie ist aber legitim, sie ist gewählt worden, diese Regierung, von einem Parlament, was selber gewählt worden ist mit einer sehr großen Mehrheit, und diese Übernahme eigentlich einer russischen Interpretation, die Regierung sei nicht legitim, auf dem Maidan trieben sich nur Nationalisten und Faschisten herum, das ist eine sehr üble und, ich finde, auch eine gefährliche Angelegenheit.
    Klein: Die Einschätzung des Historikers Karl Schlögel heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk zum Konflikt in der Ukraine. Ich bedanke mich sehr für das Gespräch, Herr Schlögel.
    Schlögel: Vielen Dank! Auf Wiedersehen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.