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Russland und Polen
"Sollen wir da tatenlos zuschauen?"

Der ehemalige polnische Botschafter in Deutschland, Janusz Reiter, begrüßt die Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Diese seien zwar "politisch problematisch, aber notwendig", sagte Reiter im DLF. Die EU dürfe nicht tatenlos zusehen, wie Russland einen Nachbarstaat demontiere. Vor allem Polen zahle sonst einen hohen Preis.

Janusz Reiter im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    Der ehemalige polnische Botschafter, Janusz Reiter, aufgenommen am 03.10.2012 in Warschau.
    Der ehemalige polnische Botschafter, Janusz Reiter. (picture alliance / ZB / Arno Burgi)
    Die Möglichkeit, positiven Einfluss auf Russland im Ukraine-Konflikt zu nehmen, sei von vielen überschätzt worden, sagte Janusz Reiter, ehemaliger polnischer Botschafter in Deutschland. Er halte Sanktionen zwar grunsätzlich für politisch problematisch, in der aktuellen Situation jedoch für angemessen. Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland seien so konzipiert, dass die EU relativ flexible auf politische Veränderungen der Lage reagieren könne.
    Die Strafmaßnahmen seien jedoch nicht als "Akt von kollektivem Wahnsinn zur Schwächung der europäischen Wirtschaft" gedacht. "Wir müssen zeigen, dass die EU handlungsfähig ist", sagte Reiter im DLF-Interview. "Wir hoffen alle, dass wir zum Dialog zurückkehren." Der Schlüssel zur Diplomatie liege jedoch in Moskau.

    Das Interview in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Und was der Westen kann, kann der Osten auch: Russland hat Gegensanktionen angekündigt. Dazu gehören höhere Energiepreise oder auch ein Einfuhrverbot für polnisches Obst und Gemüse. Das klingt ziemlich klein kariert. Wenn man weiß, dass Polen zu den weltweit größten Exporteuren von Äpfeln zum Beispiel gehört, dann kann man die Folgen für die Landwirtschaft ermessen. Rund sieben Prozent der polnischen Landwirtschaftsproduktionen gingen bisher nach Russland. Prompt hat sich in unserem Nachbarland die Bewegung "Iss Äpfel gegen Putin" gegründet, ein Aufruf also zum Agrarpatriotismus. Am Telefon ist Janusz Reiter, ehemaliger Botschafter der Republik Polen in den USA und in Deutschland, heute Berater der polnischen Regierung und Aufsichtsratsmitglied des Energiekonzerns Vattenfall. Guten Morgen, Herr Reiter!
    Janusz Reiter: Guten Morgen! Kleine Klarstellung: Ich bin weder im Aufsichtsrat von Vattenfall noch berate ich die polnische Regierung. Alles andere stimmt.
    Heinemann: Wunderbar, aber haben Sie mal, oder?
    Reiter: Ja, habe ich mal, ja, ja!
    Heinemann: Wunderbar, dann ehemaliges Aufsichtsratsmitglied, müsste man noch einfügen. Herr Reiter, essen Sie mehr Obst?
    Reiter: Ich esse, ja, aber wenn, dann italienisches Obst, und ich bin gerade in Italien seit drei Tagen.
    Heinemann: Wie schön, gut, dass ich nicht angekündigt habe, dass wir in Polen miteinander sprechen, dann hätten wir das auch noch korrigieren müssen.
    Reiter: Das ist ganz unpolitisch allerdings, und ich hoffe, dass Äpfel essen in Polen auch unpolitisch bleiben wird. Aber na gut, ich glaube, diese Kampagne, "Iss Äpfel", die muss man con un grano sale, die ist also ... mit ein bisschen, mit einer Prise Salz nehmen – noch jedenfalls.
    " ich halte auch Sanktionen für im Grunde genommen politisch problematisch, aber notwendig"
    Heinemann: Äpfel mit Salz. Kann man eine Großmacht wie Russland mit Wirtschaftssanktionen beeindrucken?
    Reiter: Man hat – und das ist die Lehre der letzten Jahre oder gar Jahrzehnte – einen begrenzten Einfluss auf das Verhalten einer Großmacht. Da haben sich viele überschätzt. Viele haben sich überschätzt in der Möglichkeit, einen positiven Einfluss auf die Entwicklung in Russland zu nehmen. Wenn ein positiver Einfluss nicht möglich ist, dann muss man zumindest aber dafür sorgen, dass die negativen Entwicklungen, die ausgehen von dem Verhalten eines anderen Staates, begrenzt werden können. Also ich halte auch Sanktionen für im Grunde genommen politisch problematisch, aber notwendig in manchen Situationen. Ich glaube, wir haben eine solche Situation heute vor uns.
    "Wir müssen zeigen, dass die Europäische Union handlungsfähig ist"
    Heinemann: Sie haben Egon Bahr gerade eben gehört, der sinngemäß gesagt hat: Umerziehen ist Unsinn.
    Reiter: Ich weiß nicht, was er für andere Ideen, Vorschläge hat. Wir haben heute eine konkrete Situation, in der Russland versucht, einen Nachbarstaat, der für die Situation in Europa auch von Bedeutung ist, sozusagen zu demontieren. Sollen wir da tatenlos zuschauen? Wir würden alle einen Preis dafür zahlen. Und ich muss auch sagen, Polen würde dafür einen besonders hohen Preis zahlen. Und da muss man auch schon ... Das muss man, glaube ich, mit berücksichtigen, wenn man weiß, dass man auch für Handelssanktionen, die man verhängt, einen Preis zahlen wird, in Polen höher als in manchem anderen europäischen Land.
    Heinemann: Die Frage ist, wer genau den höchsten Preis zahlt, denn die Wirtschaft der europäischen Länder ist hochkomplex organisiert. Die russische nicht unbedingt. Wer geht zuerst in die Knie?
    Reiter: Diese Sanktionen sind so konzipiert, dass man relativ flexibel reagieren kann auf jede Veränderung in der Politik. Es ist doch ... Diese Sanktionen sind doch kein Akt von einem kollektiven Wahnsinn, wo die Europäische Union ihre eigene Wirtschaft schwächen will. Sie sind im Grunde genommen etwas, was die Europäische Union gegen sich selbst tut. Aber sie muss das tun, denn der Preis für Nicht-Handeln kann höher sein. Wir müssen zeigen, dass die Europäische Union handlungsfähig ist. Alle Dialogversuche, alle Versuche einer Deeskalation sind bisher gescheitert. Diese neue Politik ist keine Politik, die auf immer so konzipiert wurde, sondern sie soll nur für eine begrenzte Zeit gelten und in der Zeit hoffen alle, dass wir zum Dialog zurückkehren und dass wir vielleicht doch einen Einfluss nehmen können auf das russische Verhalten in dieser Form, in Form von Verhinderung von aggressiver Politik.
    Heinemann: Stichwort Dialog: Gestern fanden unter Vermittlung der OSZE Gespräche mit allen Beteiligten in Minsk statt. Beginnt jetzt vielleicht doch die diplomatische Phase?
    Reiter: Das muss man immer hoffen. Der Schlüssel dazu liegt in Moskau.
    Heinemann: Was heißt das?
    Reiter: Das bedeutet, dass, nur wenn Moskau wirklich diplomatisch das Problem lösen will, es zu einer Lösung kommen wird. Außerdem muss man ... Aber man muss gleichzeitig sehen: Wenn wir nicht erkennen, dass zwischen der Deklaration, diplomatisch zu handeln und der Wirklichkeit – und das ist die Wirklichkeit von militärischen Handlungen gegen die Ukraine – eben eine tiefe Kluft besteht, wenn wir so tun, als ob wir das nicht sehen, ja, dann stehen wir ziemlich dumm da als Europäische Union in einer Situation, in der unsere Werte und unsere Interessen herausgefordert werden. Also das ist keine Methode.
    "Das soll es nie wieder geben"
    Heinemann: Herr Reiter, kurz ein anderes Thema noch: In Polen und in Deutschland gedenken die Menschen heute des Warschauer Aufstandes. Am 1. August 1944 hatten sich die Bewohner der polnischen Hauptstadt gegen die deutschen Besatzer erhoben. Nach mehr als 60 Tagen wurde der Aufstand niedergeschlagen, mehr als 170.000 Menschen, Warschauer Widerstandskämpfer, zahlten mit ihrem Leben. Welchen Stellenwert hat dieser Widerstand in der polnischen Geschichte?
    Reiter: Sicherlich eins der Ereignisse, die das Denken immer prägen werden, und ein Ereignis, über dessen Sinn man noch lange, lange, lange wird streiten müssen. Der Streit war in dem kommunistischen Polen nicht möglich, der offene Streit, die offene Diskussion darüber ist jetzt erst seit einem Vierteljahrhundert möglich. Also es ist nicht ... Es ist keine Diskussion darum, wie man das Verhalten der Menschen, der Teilnehmer dieses Aufstandes bewertet. Das sind Menschen, die größte Opferbereitschaft gezeigt haben. Es wird gehen um den politischen Sinn dieses Aufstandes. Aber es wird immer dieser Aufstand auch so einen besonderen Rang haben wegen ... eben weil es sozusagen die Essenz der Tragik der polnischen Geschichte der letzten über zwei Jahrhunderte darstellt – isoliert sein, allein sein, zwischen zwei übermächtigen Nachbarn, zwei Feinden. Das soll es nie wieder geben, ich glaube, darin, in diesem Punkt gibt es in Polen heute absolute Übereinstimmung.
    Heinemann: Janusz Reiter, der ehemalige Botschafter der Republik Polen in den USA und in Deutschland, die Titel, die Sie nicht mehr haben, ersparen wir uns. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!
    Reiter: Vielen Dank, Herr Heinemann!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.