Momentan scheine es, als ob die beiden Politiker wieder enger zusammenrückten. So habe sich Putin nach dem misslungenen Putschversuch bei Erdogan als erster mit einer Art Beileidsbekundungen gemeldet. Die beiden seien in der Tat "Brüder im Geiste", sagte Steinbach.
In letzter Zeit hätten sich die Beziehungen zwischen der Türkei und Russland deutlich verbessert. Dennoch habe es immer Differenzen gegeben: Die Türkei verstehe sich als Schutzmacht der Krimtataren und habe erheblich versagt, als Putin die Krim mit Russland vereinigte. Trennend sei außerdem die Position gegenüber Syrien. Die Türkei wolle, dass Machthaber Assad abtrete. Russland halte aber an ihm fest.
Gemeinsame Interessen zwischen beiden Ländern seien aber vor allem ökonomischer Natur.
"Isolierung gegenüber dem Westen, das ist das Gemeinsame"
Beide Länder verbinde das Gefühl, vom Westen ungerecht behandelt und kritisiert zu werden. Im Falle der Türkei sei das mit dem Ende des Osmanischen Reiches zu erklären, das immer noch traumatisch nachwirke. Wenn es eine weitere Annäherung zwischen beiden Ländern geben werde, sei das fast "ein historisches Wunder", betonte Steinbach mit Blick auf die Geschichte der beiden Länder. Dann könnte sogar eine neue diplomatische Epoche - vor allem mit Blick auf den Kaukasus und den Nahen Osten - eingeleitet werden.
Das Interview in voller Länge:
Benedikt Schulz: Im vergangenen November stand das russisch-türkische Verhältnis auf einem neuen Tiefpunkt. Und die Geschichte dieser Beziehung ist nicht gerade arm an Tiefpunkten. Nachdem türkische Streitkräfte einen russischen Militärjet abgeschossen hatten, war zwischen beiden Staaten diplomatische Eiszeit. Und es ist schon ein bisschen überraschend, dass zwischen beiden Staaten jetzt kein Tauwetter, sondern eher schon wieder eitel Sonnenschein herrscht.
Der russische Präsident Wladimir Putin war denn auch der Erste, der sich nach dem misslungenen Putschversuch bei seinem türkischen Amtskollegen Erdogan mit Beileidsbekundungen meldete. Am Dienstag treffen sich beide zu Gesprächen in St. Petersburg. Beides übrigens Politiker, die mal von westlichen Politikern hofiert wurden, weil man in ihnen die Verkörperung einer modernisierten Türkei beziehungsweise eines modernisierten Russlands sah.
Und spätestens seit dem rigorosen Vorgehen der türkischen Regierung sind sie beide Politiker, die in ihren Ländern gegen Kritiker mit äußerster Härte vorgehen. Über das Treffen der beiden, was sie verbindet und was sie trennt, habe ich gesprochen mit Udo Steinbach, Orientwissenschaftler und langjähriger Direktor des Deutschen Orientinstituts. Und ich habe ihn gefragt: Waren Putin und Erdogan nicht eigentlich immer schon Brüder im Geiste?
"Gemeinsame Interessen sind vor allen Dingen ökonomischer Natur"
Udo Steinbach: Brüder im Geiste, ja. Und in der Tat haben sich ja die türkisch-russischen Beziehungen seit dem Beginn des Jahrhunderts erheblich entwickelt, positiv entwickelt. Aber es gab auch immer Differenzen. Es gab die Differenzen zum Beispiel über den Kaukasus, die Völker des Kaukasus, die sich von Russland unterdrückt fühlen, haben ja ihre Vertretungen in der Türkei, die Tschetschenen, die Tscherkessen und zuletzt eben auch die Krimtataren. Die Türkei fühlt sich als Schutzmacht der Krimtataren und hat doch erheblich versagt, als Putin die Krim wieder vereinigte mit Russland.
Also, da steht einiges im Wege, vor allen Dingen stand im Wege in den letzten Jahren die syrische Krise, da haben beide sehr unterschiedliche Interessen, sehr unterschiedliche Politiken verfolgt. Die Türkei war davon ausgegangen, dass Baschar al-Assad so bald wie möglich verschwindet, und genau das Gegenteil verfolgte Putin, Baschar al-Assad an der Macht zu halten.
Schulz: Dann sprechen wir mal über die Gemeinsamkeiten, wo sind denn die gemeinsamen Interessen von den beiden?
Steinbach: Die gemeinsamen Interessen sind vor allen Dingen ökonomischer Natur gewesen und werden es wieder sein. Die Türkei ist in hohem Maße abhängig von russischen Gaslieferungen, Russland verdient eine Menge Geld daran. Und man war eigentlich dabei, bevor die Beziehungen in den Keller gerutscht sind, diese auf wirtschaftlichen Interessen beruhende Zusammenarbeit weiter auszubauen.
"Beide fühlen sich schlecht behandelt von Europa"
Die Türkei wollte zu einem Schwerpunkt der europäischen Gasversorgung werden außerhalb der Ukraine, Russland war dabei, das zu unterstützen. Und ich glaube, das wird auch in Zukunft wieder der Kern der Beziehungen sein. Kommt hinzu, wenn Sie so wollen, eine Art von negativer Abgrenzung.
Beide fühlen sich schlecht behandelt von Europa und vom Westen, beide fühlen sich zu Unrecht kritisiert, was das politische System betrifft, Russland ist noch immer den Sanktionen ausgeliefert. Also, auch das bringt die beiden wieder zusammen. Und was das bedeutet mit Blick auf den Nahen Osten, mit Blick auf den Kaukasus, das werden wir sehen, wenn die Ergebnisse bekannt werden.
Schulz: Jetzt haben Sie gerade diese Abgrenzung zum Westen erwähnt. Beide eint ja wirklich dieses Weltbild, dass man sich vom Westen oder von den USA, von Europa ausgegrenzt oder gar bedroht fühlt. Woher kommt denn diese extrem misstrauische Haltung gegenüber dem Westen, bei beiden Ländern?
Steinbach: Bei den Türken ist es mir klar. Die Türken haben noch immer das Trauma des Endes des Osmanischen Reiches vor sich, das ist nie wirklich ganz verdaut worden. Das Osmanische Reich, das zerlegt worden ist systematisch im 19. Jahrhundert, bis es dann sich auflöste 1918. Das wirkt noch immer nach und ganz besonders in der Psyche von Herrn Erdogan. Manches erklärt sich aus diesem Trauma.
Bei Putin bin ich nicht so sicher, ein ähnliches Verhältnis wie zwischen Europa und der Türkei besteht ja zwischen Russland und Europa nicht. Aber ich glaube, bei Putin ist es eher persönlich bedingt, vor allen Dingen eben auch durch seine Vision eines großen Russlands. Das schafft Misstrauen in Europa, das hat die Sanktionen bewirkt und das bewirkt eine Isolierung Putins. Und ich glaube, das Stichwort Isolierung gegenüber dem Westen, das ist das Gemeinsame. Russland und die Türkei fühlen sich im Grunde gegenüber dem Westen, insbesondere gegenüber Europa isoliert.
"Annäherung ist ein historisches Novum"
Schulz: Jetzt haben Sie gerade einen Griff in die Geschichte getätigt und das finde ich sehr interessant: Der Gründer der modernen Türkei Mustafa Kemal, genannt Atatürk, der hat ja sein Land nach dem Ende des Osmanischen Reiches konsequent gegen alle Widerstände nach Westen orientiert und das hat ein russischer Zar, Peter der Große, rund 200 Jahre vor ihm auch schon probiert. Und beide Länder hadern heute eben mit dieser Frage, wie sehr gehören wir Richtung Westen? Dieser Identitätskonflikt, gehört der zur DNA beider Länder?
Steinbach: Jein, würde ich sagen. Denn eigentlich das Bestimmende durch die Geschichte seit dem 18. Jahrhundert – und ich bin dankbar, dass Sie ein bisschen Raum lassen für eine geschichtliche Betrachtung, denn ohne die Geschichte verstehen wir die Beziehungen nicht –, beide Länder, das zaristische Russland und das Osmanische Reich, waren bis zum Ende des Ersten Weltkrieges eigentlich eher herzlich in Kriegen verbunden.
Russland strebte nach einer Oberherrschaft über den Kaukasus, über das Schwarze Meer, über den Balkan, das Osmanische Reich versuchte, dem entgegenzuwirken. Und dann gab es eine kurze Phase der Entspannung zwischen Atatürk und dem bolschewistischen Russland nach der russischen Revolution, man brauchte einander.
Später verfiel man dann wieder in den Kalten Krieg und so ist eigentlich diese Annäherung, die wir seit einigen Jahren sehen, von der wir gerade gesprochen haben, eher ein historisches Novum, fast möchte man sagen: ein historisches Wunder. Und man könnte davon ausgehen, man könnte fast sagen, dass eine neue Epoche eingeleitet würde, wenn es zu einer stärkeren und dauerhaften Annäherung zwischen der Türkei und Russland käme.
Steinbach: Keine Spekulationen über Folgen für türkische Beziehungen zu EU und NATO
Schulz: Und was bedeutet eine dauerhafte Annäherung zwischen diesen beiden Ländern, dieser Schulterschluss eigentlich für Europa und den Rest der Welt?
Steinbach: Also, so weitgehend würde ich nicht spekulieren. Wie fragil das Ganze noch ist, das haben wir in den letzten zwölf Monaten erlebt, jetzt nähert man sich wieder an, man hat gemeinsame Interessen, darüber habe ich gerade gesprochen. Die entscheidende Frage kurzfristiger Natur wird sein: Wie wirkt sich das im Nahen Osten aus, wie wirkt sich das in Syrien aus?
Ich deutete vorhin an, dass da unterschiedliche Interessen bestehen. Werden beide einen gemeinsamen Nenner finden? Wird die Türkei möglicherweise bereit sein, ähnlich wie Russland von dem Überleben von Baschar al-Assad auszugehen, was eine Grundlage für eine gemeinsame Politik wäre, oder wird das weiterhin beiden Seiten im Wege stehen? Was werden die Auswirkungen auf den Kaukasus sein, insbesondere auf die Krise in der Gorny Karabach?
Also, hier sind kurzfristig eine Reihe von Fragen gestellt, auf die wir eine Antwort erwarten. Was das langfristig bedeutet für Russland und die Türkei und die Beziehungen beider Seiten zum Westen insgesamt, was das langfristig bedeutet, vielleicht sogar für die Beziehungen der Türkei zur Europäischen Union und zur NATO, darüber zu spekulieren, das ist noch zu früh.
"Ähnlichkeit der politischen Entwicklungen in Russland und in der Türkei ist frappant"
Schulz: Dann kommen wir mal auf die NATO zu sprechen. Die Türkei ist jetzt kein EU-Mitglied und wird es wohl auch mittel- bis langfristig nicht werden, sie ist aber schon ein wichtiger NATO-Partner. Was würde denn eine Zusammenarbeit oder eine verstärkte Kooperation zwischen Türkei und Russland für die NATO-Arbeit bedeuten, gerade im Hinblick auf Syrien?
Steinbach: Also, zunächst kann man da eigentlich gar keine Einwände haben. Wenn diese beiden Mächte politisch zusammenarbeiten, möglicherweise politisch zusammenkommen, um bestimmte Konflikte, die seit einer Reihe von Jahren schwären, um sie zu lösen, kann man das eigentlich nur begrüßen. Die NATO hätte also durchaus ein Interesse, eine türkische Politik zu erleben möglicherweise in Gemeinsamkeit mit Russland, die wirklich dazu beiträgt, Konflikte zu lösen. Das hat sie bisher nicht getan.
Schulz: Gehen wir mal kurz von der Außenpolitik in die Innenpolitik. Das Vorgehen gegen unliebsame Stimmen, etwa gegen regierungskritische Journalisten, ist ja in der Türkei als auch in Russland ein großes und vor allem ein stetig wachsendes Problem. Kann man so weit gehen zu sagen, dass Erdogan die Türkei nach dem Vorbild Putins umbaut?
Steinbach: Jedenfalls ist die Ähnlichkeit der politischen Entwicklungen in Russland und in der Türkei frappant. Es ist noch immer eine Demokratie und doch ist es keine Demokratie mehr, keine wirkliche Demokratie im europäischen Sinne. Das ist so in Russland der Fall, das beklagen die Beobachter seit vielen Jahren, und in der Türkei gibt es noch politische Opposition, noch scheint Demokratie zu funktionieren und zugleich konzentriert sich alles auf den großen Führer. So wie Putin in Russland, so Erdogan in der Türkei.
Schulz: Und Europa und der Westen wissen ja auch nicht so ganz genau, wie sie jetzt eigentlich mit Russland und Wladimir Putin umgehen sollen. Und jetzt zeigt sich ja, dass sie offensichtlich auch nicht wissen, wie sie mit der Türkei und Recep Tayyip Erdogan umgehen sollen. Was ist Ihre Einschätzung?
Steinbach: Ja, ich denke aber, dass man in Sachen Russland ein klares Signal gesetzt hat. Nun muss man allerdings sagen, dass die Türkei noch kein fremdes Land wieder besetzt hat wie Russland die Ukraine in der Krim. Aber ich denke einmal, dass beide Seiten sich in ähnlicher Weise verhalten.
Schulz: Über das neue alte Verhältnis zwischen der Türkei und Russland beziehungsweise zwischen Erdogan und Putin habe ich gesprochen mit dem Orientwissenschaftler und Türkei-Experten Udo Steinbach.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.