Ist Putinismus gar ein ideologisches Konzept und wenn ja, worauf beruht es? Walter Laqueur ist sich selbst nicht sicher.
"Was ist Putinismus? Wie so oft, wenn sich ein (...) Regime etabliert, ist viel Hirnschmalz darauf verwendet worden, es einzuordnen und auf einen Begriff zu bringen. Sehr erfolgreich war man dabei nicht: Es ist ein Staatskapitalismus mit liberaler Wirtschaftspolitik, mit erheblichen staatlichen Eingriffen, die bei wichtigen Dingen nahezu total sind. Es ist eine Autokratie, aber die ist in der russischen Geschichte nichts Neues, und sie wird durch Ineffizienz und Korruption nahezu ausgehebelt. Es gibt ein Parlament, aber die oppositionellen Parteien sind keine wirkliche Opposition. Es gibt eine freie Presse, aber die Freiheit ist auf kleine Zeitungen begrenzt, und die Kritik darf nicht zu weit gehen."
Nach der Annexion der Krim vor gut einem Jahr haben sich die ideologischen Äußerungen Putins vermehrt. Allerdings in Richtung eines völkischen Nationalismus. So sagte er bereits im April vergangenen Jahres:
"Ein Russe, oder breiter formuliert, ein Mensch der russischen Welt, denkt vor allem daran, dass es eine höhere moralische Vorbestimmung des Menschen gibt. Im Westen konzentriert sich der Mensch auf sich selbst und seinen persönlichen Erfolg. Uns reicht das nicht. Wir sind weniger pragmatisch und berechnend als Vertreter anderer Völker, dafür weiter in der Seele, großzügiger."
Seit seinem Machtantritt vor 15 Jahren passt Putin seine Inhalte vor allem einem Ziel an: dem Machterhalt. Der Westen, vor Kurzem noch Partner, gilt mittlerweile als Bedrohung. Das äußere Feindbild soll für Zusammenhalt sorgen. Laqueur warnt vor den Folgen.
"Während eine patriotische Erziehung, die das Schwergewicht auf Errungenschaften der eigenen Geschichte legt, durchaus auch andernorts üblich ist und verständlich sein mag, ist dagegen die totale Unterdrückung negativer historischer Ereignisse und Entwicklungen gepaart mit der systematischen Verunglimpfung anderer Kulturen gefährlich. Eine solche Haltung schafft, perpetuiert und verschärft Konflikte und erschwert die Herstellung normaler Beziehungen über die Grenzen hinweg."
Die Warnungen sind berechtigt. Zumal Putin auch Rückhalt von der Orthodoxen Kirche, von Patriarch Kyrill bekommt.
"Die Liebe zum Vaterland, das Gefühl von Brüderlichkeit und Pflichtgefühl, die Bereitschaft, die "Seele für seine Freunde einzusetzen", sind gleichermaßen charakteristisch für den Helden der Kulikova-Schlacht, von Borodino und von Stalingrad. Diese Eigenschaften des nationalen Charakters zeichnen die Mehrheit der Russen heute aus. Eben wegen dieser Eigenschaften konnte, wie der Soziologe Pitirim Sorokin schrieb, 'die russische Nation sich selbst verteidigen, ihre Unabhängigkeit, ihre Freiheit und andere große Werte'."
Geistesgeschichtlicher Bogen bis zum russischen Nationalismus
Kyrills Äußerung ist ein gutes Beispiel dafür, wie die russische Führung Fakten verbiegt oder neue erfindet. Wer Russland in der aktuellen Ära Putin verstehen möchte, der muss sich mit dieser Strategie auseinandersetzen. Der vom Patriarchen zitierte Soziologe Pitirim Sorokin wies zum Beispiel wiederholt auf eine angebliche Übermacht der Juden während und nach der russischen Revolution 1917 hin. Heute ist er ein gefeierter Autor der extremen Rechten in Russland. Die Schlachten, die Kyrill erwähnt, sind sehr lange her - die bei Kulikova fand 1380 gegen die Mongolen statt. Wichtig für den Kreml ist allein der Fakt: Russland hat gewonnen, auch wenn es Russland in der Form vielleicht noch gar nicht gab. Putin betont immer wieder, Russen seien ein Siegervolk. In das Bild passt auch, dass die Propaganda Russland als massiv bedroht darstellt. Aber, warum glauben so viele daran? Laqueur findet eine originelle Antwort.
"In den letzten Jahrzehnten ist dieses Phänomen im Zuge des gewachsenen Interesses von Medizin und Psychologie für Probleme des Erinnerns eingehend erforscht worden. Danach gibt es verschiedene Typen der Konfabulation. Jemand, der konfabuliert, erzählt seine Geschichten ausgesprochen detailreich und für gewöhnlich im Brustton der Überzeugung, er wird sie auch dann nicht revidieren, wenn man ihm rationale Argumente entgegenhält."
Kenntnisreich schlägt Laqueur einen geistesgeschichtlichen Bogen bis zu den Hetzern des neuen russischen Nationalismus und Faschismus, wie Alexander Dugin. Das ist hilfreich. Fraglich ist jedoch, ob das die Unterfütterung einer Ideologie Putins ist. Es bleibt offen, ob Putinismus ein Konzept ist oder zufällig, je nach Bedarf zusammengeschustertes Regierungshandeln. Nach gut 300 Seiten kommt Walter Laqueur zu beunruhigenden Schlussfolgerungen:
"Vor nicht allzu langer Zeit, nach dem Ende des Kalten Krieges, glaubte man im Westen weithin, dass die Demokratie die normale Regierungsform sei und alle anderen Herrschaftsformen bedauerliche aber vorübergehende Abweichungen darstellten. Diese Annahme hat sich als allzu optimistisch herausgestellt. (...) Die Ereignisse der letzten beiden Jahrzehnte haben gezeigt, dass man in Russland das Chaos weit mehr fürchtet als eine autoritäre Herrschaft oder eine Diktatur. Solange die Hälfte der Menschen an die Größe und Güte Stalins glaubt, kann man nichts anderes erwarten."
Das Buch wirkt eilig zusammengeschrieben. Das ist schade, angesichts des großen Interesses an Erklärungen für das aggressive Verhalten der Regierung Putins und die Unterstützung durch die Bevölkerung. Trotzdem: Laqueur wirft Fragen auf, beobachtet, fasst zusammen, schlägt Bögen in die Vergangenheit. Eine klare Antwort darauf, was Putinismus ist, gibt er nicht, aber das ist vielleicht auch gar nicht nötig. Er erliegt nicht der Arroganz, Erklärungen vorzugeben und Schuldige zu suchen. Verglichen mit Autoren, die von Arroganz reden und dadurch ihre Unkenntnis überspielen, ist Laqueurs Wissen eine Erholung.