Nach dem Anschlag auf den Doppelagenten Sergej Skripal und dessen Tochter hat es ein weiteres Opfer gegeben. Wieder ist es ein russischer Staatsbürger, der möglicherweise ebenfalls getötet wurde. Die Unruhe unter der russischen Diaspora in London dürfte dementsprechend groß sein. Auch der russische Ex-Unternehmer Michail Chodorkowski lebt in der britischen Hauptstadt. Er führte einst die größte Erdölfirma Russlands, die Firma Jukos, bis er nach einem Schauprozess für Jahre ins Straflager musste. Nach zehn Jahren Haft begnadigte ihn Präsident Putin unter der Voraussetzung, dass Chodorkowski im Ausland bleibt. Sabine Adler hat ihn am Rande der Konferenz Liberale Moderne in Berlin gesprochen.
Sabine Adler: Um Mitternacht läuft das Ultimatum ab. Russland, Moskau soll die Frage beantworten, wie es möglich war, dass russisches Gift benutzt werden konnte für den Überfall auf Sergej Skripal und seine Tochter. Erwarteten Sie eine Antwort auf diese Frage, die die britische Premierministerin Teresa May gestellt hat?
Michail Chodorkowski: Ich erwarte keine Antwort, sondern die traditionelle Position des Kremls: Sie haben keine Beweise. Und unser Gericht, das ehrlichste der Welt, wie unsere Staatsanwaltschaft, die ehrlichste der Welt, haben bereits erkannt, dass wir unschuldig sind.
"Die Entscheidung, was mit mir geschehen soll, muss Putin treffen"
Adler: Wie ist das für Sie, nach dem Mord an Alexander Litwinienko, dem Tod von Boris Beresowski - fürchten Sie um ihr Leben in London?
Chodorkowski: Zehn Jahre habe ich im Lager verbracht. Dort hätte man mich jederzeit problemlos umbringen können. Heute, wo ich zum Glück keinerlei Verbindungen zum Geheimdienst habe, muss die Entscheidung, was mit mir geschehen soll, Putin treffen. Wenn er sich dazu entschließt, werde ich dem kaum entkommen. Aber ich sitze jetzt nicht und denke die ganze Zeit darüber nach. Das Leben ist so schon gefährlich genug. Das ist noch ein Risiko mehr, nichts Besonderes.
Adler: Haben Sie Leibwächter?
Chodorkowski: Ich habe keine. Weil man sich vor den Leuten, die der Staat schickt, um einen zu überfallen, nur mit Möglichkeiten schützen kann, die einzig ein Staat bereitstellen kann. Alles andere ist nur Schein.
Adler: Also bewegen Sie sich ohne Leibwächter?
Chodorkowski: Natürlich, Sie sehen ja, ich bin mit meinen Mitarbeitern unterwegs, das ist alles.
"Um die 60 Prozent werden für Putin stimmen"
Adler: Was meinen Sie: Wird von Russland am Sonntag bei der Präsidentschaftswahl ein Zeichen des Protestes ausgehen, dass die Menschen über eine niedrige Wahlbeteiligung senden werden?
Chodorkowski: Das glaube ich nicht, die Wahlbeteiligung wird wie immer sein, um die 60, 70 Prozent. Und um die 60 Prozent werden für Putin stimmen. Die Regierung kann das Ergebnis um weitere zehn Prozent manipulieren, mit Hilfe der Zentralen Wahlkommission. Es wird viele Fälschungen geben, schon weil jeder Beamte seinen Teil zu einem besseren Resultat beitragen möchte.
Putin verschafft sich eine neue Amtszeit in einer Wahl, die nicht legitim ist, denn er dürfte nach dem Bäumchen-Wechsle-dich-Spiel mit Medwedjew gar nicht mehr antreten. Das wissen alle Juristen. Zweitens sucht er sich seine Konkurrenten selbst aus, drittens sind alle Medien, mit wenigen Ausnahmen staatlich gelenkt und die Regierung wird das Wahlvolk, das unter ihrer Kontrolle steht - Beamte, Angestellte in Staatsbetrieben - an die Urnen treiben. Und dann gibt es die Zentrale Wahlkommission, die die Gesetzmäßigkeit außerdem bestätigen wird. Und ganz zum Schluss wird die Nationalgarde zu verstehen geben, dass alle zu schweigen haben.
"Es ist wichtig, dass Putin abgelöst wird, aber noch wichtiger ist es, darauf vorbereitet zu sein"
Adler: Wie ist das für Sie: zehn Jahre im Lager zu sitzen und zu warten. Jetzt wird die nächste Amtszeit Putins beginnen - weitere sechs Jahre warten. Besteht das Leben des ehemaligen Unternehmers und Jukos-Chefs nur noch aus Warten?
Chodorkowski: Ich hatte mehrere Leben: das Studium, die Chemie, Chemietechnologie, dann als Unternehmer, dann im Lager. Dort habe ich nicht gesessen und gewartet, sondern gearbeitet, geschrieben, am gesellschaftlichen Leben teilgenommen. Und jetzt, wo ich gezwungen bin, außerhalb Russlands zu leben, beginnt und endet mein Tag mit der Kommunikation mit Menschen in Russland.
Es ist wichtig, dass Putin abgelöst wird, aber noch wichtiger ist es, darauf vorbereitet zu sein, um sich nicht sofort wieder einen neuen Putin aufzuhalsen. Dafür brauchen wir eine parlamentarische Republik, die wir aber noch nie hatten. Wir müssen geeignete Leute finden und ausbilden. Da ich nicht für den Lebensunterhalt meiner Familie sorgen muss, kann ich das leisten. Aber die Demokratie errichtet man nicht mit dem Geld reicher Leute, wenn ein Politiker solches Geld nimmt, dient er nicht der Gesellschaft.
"Statt die Kühlschränke zu füllen, geht es um den Schutz vor dem Feind"
Adler: Wir haben den Auftritt Putins bei der Rede zur Lage der Nation gesehen, wie er neue Atomwaffen präsentierte und damit der Welt einen Schrecken einjagte. Was denken Sie, was er damit bezweckt?
Chodorkowski: Ich denke, dass Putin derzeit außenpolitische Fragen löst, aber nicht die innenpolitischen. Die russische Gesellschaft hat darauf sehr negativ reagiert, obwohl wir grundsätzlich ja unsere Streitkräfte lieben, auch moderne Technologien, auch in der Rüstungsindustrie. Putin glaubt, dass er damit an den Tisch des amerikanischen Präsidenten kommt und mit ihm zusammen das Schicksal der Welt entscheidet.
Adler: Was bedeutet das? Wir sehen, dass Russland Krieg in der Ukraine führt, in Syrien. Ist das eine neue Strategie Putins, möchte er jetzt mit Krieg, mit der Armee die Geschicke der Welt lenken?
Chodorkowski: Das ist keine neue Strategie von ihm, sondern eine ziemlich alte. Wenn er früher gesehen hat, dass sein Regime nicht das nötige Wirtschaftswachstum erbringt und die Gesellschaft über seine weitere Führungsrolle nicht gerade erbaut war, suchte er andere Wege, um seine Macht zu konsolidieren. Schon das Breschnew-Regime hat dann den Feind von außen gesucht. In der Ukraine kämpfen wir nicht gegen die Ukrainer, sondern gegen die Amerikaner, in Syrien ebenso. Amerika ist ein bequemer Feind, der sich nicht sonderlich um Russland kümmert und weit weg ist. Aber auch groß ist, mit dem kann man dem Volk Angst einjagen. Statt die Kühlschränke zu füllen, geht es um den Schutz vor dem Feind.
Vom Kreml finanzierte Gruppen in Deutschland
Adler: Michail Chodorkowski, wie sieht Michail Chodorkowski seine Zukunft?
Chodorkowski: Ich hoffe sehr, dass sich das Regime eines Tages verändert und ich nach Hause zurückkehren kann, wann immer das sein wird.
Adler: Sie sind gerade in Berlin, was erwarten Sie von Deutschland?
Chodorkowski: Bis heute höre ich immer wieder, dass Putin der Garant für die Stabilität in Russland ist. Diejenigen möchte ich fragen, nach der Rede zur Lage der Nation, nach Litwinienko, nach Skripal und den anderen Morden, ob das etwa Stabilität sein soll. Und ich möchte den entscheidenden Politikern in Deutschland sagen, dass sie einen Unterschied machen sollten zwischen der Meinung ihrer Gesellschaft und der Meinung der Gruppen in Deutschland, die vom Kreml finanziert werden.
Adler: Das heißt, Sie sehen einen Einfluss russischen Geldes in Deutschland?
Chodorkowski: Ich rede von dem Geld des Kremls, mit dem auf ungesetzliche korrupte Weise Einfluss auf kleine Gruppen genommen wird, auf deutsche Politiker, das sollte aufhören beziehungsweise untersucht werden.
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