Es ist Samstag, kurz nach zehn Uhr. Das Kaufhaus GUM am Roten Platz hat vor wenigen Minuten die Eingangstüren zu seinen Wandelgängen geöffnet. Unter hohen Decken in üppiger russischer Architektur des Zarenreiches warten italienische Mode, Düfte aus Frankreich, gehobene Haushaltstechnik aus Deutschland auf das Hauptstadtpublikum. Kaufhäuser, Geschäfte, Restaurants, Schulen und Betriebe sind in Russland fast überall geöffnet.
Corona-Impfung im Kaufhaus GUM
Vor einer Rolltreppe wurde ein Hinweisschild aufgestellt: Zur Impfung fahre man hinauf ins zweite Obergeschoss. Dort warten zehn weitere Impfwillige in einer Schlange vor mir. Mir scheint, dies ist der einzige Ort in Moskau, an dem wirklich Abstand gehalten wird. Überall sonst gilt: Masken werden nur in Ausnahmefällen über Mund und Nase getragen, wenn überhaupt, die U-Bahn ist voll. Der ältere Mann vor mir wollte zu seiner Impfung nicht in eine Poliklinik gehen, denn da brauche man einen Termin. "Aber ich bin viel unterwegs, ich kann mich nicht festlegen", sagt er. Ins GUM kann jeder kommen. Einfach so. Ohne Termin. Verimpft wird Sputnik V. "Jedenfalls ist das besser als dieses amerikanische Vakzin. An dem sind ja schon Leute gestorben", weiß er zu berichten, das habe er im Internet gelesen.
Drei Tage lang kein Alkohol und keinen Sport
Wenig später stehe ich am Anmeldeschalter. Freiwillige helfen, die Organisation ist tadellos: Ich zeige meinen Pass vor, muss meine Handynummer nennen und zwei Seiten mit Gesundheitsfragen beantworten. Habe ich eine Erkältung? Chronische Krankheiten? Schwanger? Und ich unterschreibe, dass mir die Nebenwirkungen bekannt sind: vielleicht Fieber, äußerst selten allergische Reaktionen. In einem kurzen Gespräch empfiehlt mir eine Ärztin: "Von heute an trinken wir drei Tage lang keinen Alkohol, treiben keinen Sport. Duschen geht, aber an der Einstichstelle reiben Sie nicht. Drei Tage keine Banja, Sauna und kein Schwimmen." Dann schon wird die Spritze aufgezogen, und Momente später in meinen rechten Oberarm gesetzt. Eine Minute später erhalte ich mein Zertifikat mit Stempel, Datum und Unterschrift. Und der nächste Freiwillige reicht mir als Belohnung ein Eis am Stiel. Kostet nichts. So wie die Impfung auch.
In Russland ist fast alles wieder geöffnet
Mit der Pandemie wird in Russland ganz anders umgegangen als in Deutschland. Zwar hatte es im Frühjahr in Moskau und anderswo einen rigorosen Lockdown gegeben, doch seitdem ist fast alles wieder geöffnet worden. Gleichzeitig bringen Staat, Behörden und deren Handlanger in den Medien permanent falsche, sich widersprechende und lückenhafte Informationen in Umlauf.
Ausbreitung des Corona-Virus im internationalen Vergleich
Sie behaupten, die Infektionszahlen sänken, die Pandemie sei unter Kontrolle. Begriffe wie Sieben-Tage-Inzidenz und Post-Covid sind den meisten Menschen unbekannt, über Mutationen wird kaum gesprochen. Wer trotzdem einen Überblick über die reale Lage im Land bekommen will, muss sich sehr anstrengen.
Statistik weist hohe Übersterblichkeit aus
Doch es gibt eine einzige Statistik, die wohl nicht gefälscht ist: Die Übersterblichkeit für den Pandemie-Zeitraum des vergangenen Jahres, April bis Dezember, spricht von 360.000 zusätzlichen Toten. Das ist Platz zwei weltweit hinter den USA, wobei Russland viel weniger Einwohner hat. Die Verluste des Landes sind so groß wie seit den Tagen des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. "Das ist die ehrlichste Statistik, die eine Vorstellung davon gibt, wie die Pandemiesituation ist", sagt Irina Yakutenko, Molekularbiologin und Autorin des Buches "Das Virus, das den Planeten zerschlägt". "Russland ist faktisch nah dran an einer natürlichen Auslese. Wer alt und krank ist, der stirbt. Währenddessen durchlaufen die Übrigen die Krankheit. Das Leben geht weiter." Eine ethische Debatte wird nicht geführt. Auf den Covid-Stationen der Krankenhäuser wird, soweit bekannt, buchstäblich bis zum Umfallen gearbeitet. Allerdings dürfen Mediziner staatlicher Kliniken, und nur die behandeln die Krankheit, mit Journalisten nicht sprechen. Das Gesundheitssystem jedenfalls ist nicht sichtbar zusammen gebrochen. Ein Grund ist wohl, dass viele Kranke erst spät eingeliefert werden – oder gar nicht.
Sputnik V kann bei Kühlschranktemperaturen gelagert werden
Auf der anderen Seite hat Russland den Impfstoff Sputnik V entwickelt, der bei Kühlschranktemperaturen gelagert werden kann. Ein Vektor-Impfstoff, über den seit einem Artikel im Fachmagazin "The Lancet" bekannt ist, dass er wirksam und sicher ist. In den Testphasen ist viel schief gegangen, vor allem, weil Sputnik auf Wunsch des Kremls unbedingt schnell eingesetzt werden sollte, als noch nicht zu Ende getestet worden war. Bis heute ist es so, dass die Fachwelt über Sputnik weniger weiß als über westliche Impfstoffe. Irina Yakutenko empfiehlt ihn dennoch, "weil jeder Schutz in der gegenwärtigen Situation besser ist als keiner. Sehr wahrscheinlich schützt Sputnik, selbst wenn er nicht sehr effektiv sein sollte, vor schweren Verläufen."
Präsident Putin noch nicht geimpft
Ein russisches Paradoxon ist jedoch: Impfen geht in Moskau zwar im Kaufhaus, doch laut Umfrage des Lewada-Zentrums will sich eine Mehrheit von 62 Prozent mit Sputnik nicht impfen lassen. Auf der Suche nach Ursachen meinen Soziologen, der Impfstoff werde als staatliches Produkt angepriesen, doch die Erfahrung lehre Russen, von Angeboten des Staates besser Abstand zu halten. Auch fällt auf, dass Präsident Putin sich noch nicht hat impfen lassen. Und es gelte: Das Verhältnis zur Wahrheit ist nach Jahrzehnten der Propaganda einfach kaputt. "Die staatliche Propagandamaschine hat sich selbst besiegt", analysiert die Politologin Jekaterina Schulman auf ihrem Youtube-Kanal. "Sie hat, um ihre irren Erzählungen attraktiver zu machen, ihre Zuschauer sehr stark mit Verschwörungen gefüttert. Hat über viele Jahre erzählt, dass die Dinge nicht so seien, wie sie scheinen. Dass alle betrügen. Sie hat die Leute mit irrationalem, anti-wissenschaftlichem, anti-aufklärerischem Material gefüttert." Wenn ständig behauptet wird, die Pandemie sei kein ernstes Problem, könne man nicht erwarten, dass Menschen zur Impfung bereit seien.
Drei Wochen nach meiner ersten Dosis bekomme ich im GUM am Roten Platz die zweite. "Thielko?" "Das bin ich." Die Ärztin, nun eine andere, mahnt wieder: kein Alkohol, keine körperliche Belastung. Und weil nicht so viel los ist, erkundigt sie sich, ob Köln eine schöne Stadt sei – als Tipp für die Zeit nach der Pandemie. Dann der Piks. Und wieder ein Eis.