"Ich zeige ihnen jetzt unsere Fibel."
Tatjana Rene hebt den Deckel der Glasvitrine an und holt eine alte Fibel heraus. Mit so einem Lehrbuch hat sie Anfang der 1970er Jahre die deutsche Grammatik gelernt.
Der Text mit Karl Marx war kompliziert, erinnert sie sich. Es ging darum, die Unterschiede zu verstehen, zwischen dem deutschen X und dem gleichlautenden russischen Buchstabenpaar KS. Tatjana Rene liest vor:
"Lerne wie Karl Marx. Hier sitzt Karl Marx an seinem Schreibtisch. Auf dem Tisch und einem Stuhl liegen Bücher. Immer las und lernte Marx."
Heute ist die Fibel ein Ausstellungstück und liegt im Heimatmuseum in Aleksandrowka aus. Das Dorf mit seinen gut 1.000 Bewohnern ist historisch eng mit den Russlanddeutschen verbunden.
Eine Deutsche mit russischer Heimat
Tatjana Rene – die sich selbst als Deutsche mit einer russischen Heimat sieht – gibt diese Geschichte als Museumsführerin weiter. Sie zeigt auf eine der Info-Tafeln:
"Die ersten deutschen Siedler kamen 1893 hierher. Zwei Jahre vorher sind sie vom Wolgagebiet Richtung Sibirien aufgebrochen, auf der Suche nach neuem Land. Als sie in Omsk angekommen sind, haben sie Grundstücke beantragt. Und ihnen wurde die Gegend hier um unseren See zugewiesen. Dann haben sie angefangen, das Dorf aufzubauen."
Dieser Beitrag ist Teil der Reportagereihe Zwischen Geschichte und Gegenwart - Die Russlanddeutschen in Westsibirien.
83 Familien waren es [*], die damals Aleksandrowka gegründet haben, das erste deutsche Dorf in Sibirien. Gut einhundert Jahre nachdem die ersten Deutschen Richtung Russland ausgewandert waren.
Russifizierung ab 1917
Die Siedler in Aleksandrowka brachten ihren schwäbischen Dialekt, Traditionen und Bräuche mit. Sie bauten eine Schule, in der auf Deutsch unterrichtet wurde. Eine Kirche entstand – viele waren evangelische Lutheraner und Mennoniten.
Aber die russische Geschichte hat auch in der sibirischen Provinz ihre Spuren hinterlassen. Nach der Revolution von 1917 wurde die Landwirtschaft staatlich organisiert, in der Schule wurde immer mehr Russisch unterrichtet, die Religion wurde zurückgedrängt. Aleksandrowka wurde russischer. Als die Sowjetunion 1941 von Deutschland angegriffen wurde, gerieten die Russlanddeutschen unter Generalverdacht.
Deportation der Wolgadeutschen 1941
"Der folgenreichste Ukas wurde am 28. August 1941 erlassen. Alle Deutschstämmigen im Wolgagebiet wurden umgesiedelt, sie mussten innerhalb von wenigen Stunden ihre Heimat verlassen. Ein Strom von Menschen setzte sich in Bewegung und wurde in Zugwaggons nach Sibirien gebracht. Wohin genau, wusste niemand."
Das Trauma der Russlanddeutschen. Viele landeten in Kasachstan oder noch weiter im Osten, 13 Familien wurden Aleksandrowka zugeteilt. Aber sicher waren sie hier damals nicht. Im Laufe des Krieges wurden etwa 300 Dorfbewohner in Arbeitslager gebracht.
Die Geschichte ist überall spürbar in den drei rustikal eingerichteten Ausstellungsräumen. An den Wänden hängen alte Stickereien, Kleidungsstücke der Siedler sind zu sehen, es gibt einen Nachbau der alten Mühle, Geschirr, Möbel und Werkzeuge.
Zu Hause wurde auf Deutsch gezählt
An einer der Wände wird über die Zeit nach Stalin und den Deportationen informiert. Deutsch war damals immer noch Teil des Dorfalltags. Auch bei Tatjana Rene, die 1963 in Aleksandrowka geboren wurde:
"Wie ich sechs Jahr alt war, bin ich gegangen in die erschte Klass. Bis von der erscht Klass haben erscht gelernt auf Russisch zählen, das konnten wir nämlich nicht, haben nur auf Deutsch gezählt. Das war schwer für die Kinder, aber wir hen´s gmacht."
Nach der Schule hat sich Tatjana Rene in der Stadt zur Erzieherin ausbilden lassen. Dann kam sie wieder zurück:
"Geheiratet hab ich, da war ich 21 Jahr alt. Mein Mann Sasch, der ist auch von hier vom Dorf, der war 22. Und wir hen uns selbst das Haus gbaut, muss man auch sagen."
Exodus in den 1990ern
Draußen ist es kalt, zehn Grad unter null. Der erste Schnee liegt schon eine Weile. An diesem Nachmittag ist einiges los auf der "Sowjetischen Straße", der Hauptstraße des Dorfes. Kinder spielen draußen, die Bewohner machen Besorgungen. Man trifft sich, quatscht miteinander. Mit den Kleinen auf Russisch, mit den Älteren im alten schwäbischen Dialekt.
Dann zeigt Tatjana Rene auf einige der bunten, einstöckigen Holzhäuser – die den vielleicht größten Bruch in der Dorfgeschichte markieren. Denn deren Bewohner sind wie viele andere in den 1990er Jahren nach Deutschland ausgewandert. Der Hauptgrund: Die schwierige wirtschaftliche Situation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.
"Wenn man damals in einen Laden gegangen ist, waren die Regale leer. Komplett leer, es gab nichts. Man stand den ganzen Tag in der Schlange, mit einer Essensmarke in der Hand, und bekam dann irgendwas, zum Beispiel 200, 300 Gramm Süßigkeiten oder Gebäck. Daran will ich gar nicht mehr denken."
"Das Dorf wächst wieder"
Diese Jahre haben Aleksandrowka verändert. Mehr als 100 Familien sind gegangen. Tatjana Rene schätzt, dass nur noch gut zehn Prozent der aktuellen Bewohner hier geboren und aufgewachsen sind. Wie sie und ihr Mann, der nicht wegwollte. Die anderen sind Zuzügler, oft aus Kasachstan, die kaum Deutsch sprechen. Immerhin haben sie die Weggänge kompensiert.
Der Alltag in Aleksandrowka ist nicht leicht: Arbeitsplätze sind immer noch ein großes Thema, viele Junge ziehen weg – auch wenn es am Dorfrand etwa ein großes Landwirtschaftsunternehmen gibt. Aber Tatjana Rene ist trotzdem zufrieden. Sie findet: Die Infrastruktur ist gut. Es gibt mehrere Lebensmittelläden, eine Schule, einen Kindergarten, eine Bibliothek, einen Jugendclub. Und noch etwas freut sie:
"Früher gab es pro Familie ein, zwei Kinder. Drei Kinder, das war verrückt. Aber heute gibt es in vielen Familien drei Kinder, manchmal sogar vier oder fünf. Das Dorf wächst wieder."
[*] Hinweis der Redaktion: Im Text wurden ursprünglich die Namen von Familien genannt, die nicht zu den Gründern des Dorfes gehörten. Den Fehler im Text und im Audio haben wir korrigiert.