Sabine Adler: Wenn wir von Zustimmungsraten für Präsident Putin von 80 oder 85 Prozent lesen, fragt man sich mitunter, wo die russische Intelligenzija geblieben ist. Hat sie sich ins Private zurückgezogen und diskutiert wie früher wieder nur in der heimischen Küche?
Irina Prochorowa: 90 Prozent Unterstützung sind ein Mythos, wie die sowjetischen Lügenzahlen bei den Wahlen: 99,9 Prozent. Dann kam 1991 der Zerfall der Sowjetunion und siehe da: es gab keinerlei Unterstützung. Die tatsächliche Unterstützung wird zwischen 50 und 70 Prozent liegen. Von 90 Prozent zu reden, zeugt von einer klassischen totalitären Herangehensweise, das Wünschenswerte für die Realität zu halten. Wenn Putin 60 bis 70 Prozent unterstützen, dann sind es immer noch 30 bis 40 Prozent, die das nicht tun, und das ist eine Menge.
Was die sowjetische Intelligenzija angeht: Die ist nicht zu verwechseln mit der Zivilgesellschaft. Damals haben sich Personen aus unterschiedlichen Schichten um bestimmte Ideen gruppiert. In den 90er-Jahren sprach niemand mehr von Intelligenzija, sondern von Intellektuellen. Und wenn man jetzt wieder den Begriff Intelligenzija verwendet, dann, weil wir wieder auf einen autoritären Staat zusteuern. Die Massenproteste 2011/2012 ähnelten dagegen doch sehr den Prosteten wie in Europa, in westlichen Ländern.
Adler: Sie haben sich den Traum vom eigenen Verlag erfüllt, weil sie zu Sowjetzeiten so lange nicht lesen durften, was sie wollten. Welche wichtigen Autoren, Intellektuellen sollte man kennen im heutigen Russland?
"Auch in Europa fehlt die eine, große Figur, an der sich alle orientieren"
Prochorowa: Zu Sowjetzeiten waren die geistigen Führer der Intelligenzija Schriftsteller und sehr bekannte Wissenschaftler, denken Sie an Solschenizyn und Sacharow. Heute gibt es nicht diese fünf, sechs großen Namen. Die Oppositionspolitiker Nawalny, Jaschin oder Boris Nemzow, der getötet wurde, reichen nicht annähernd an deren Einfluss heran. Ähnlich ist es bei Wladimir Sorokin oder Grigori Tschchartischwili, der unter dem Pseudonym Boris Akunin schreibt.
Ob die eine große Figur demnächst erscheint, wird sich zeigen. Vielleicht ist es jemand aus den kritischen Kirchenkreisen. In der Gesellschaft vollzieht sich gerade eine tiefgreifende Veränderung. Aber die großen Namen gibt es in Zukunft vielleicht auch überhaupt nicht.
Adler: Was mit den neuen Medien, dem Internet zu tun hat, der sehr viel größeren Differenzierung der Gesellschaft und der Aufmerksamkeit auf einzelne Personen oder Ideen. Oder liegt es am politischen Druck?
Prochorowa: Eher nicht, denn oft tauchen genau dann, wenn Druck ausgeübt wird, solche Führungspersonen auf. Ich denke, es ist eher das, was sie zur Differenzierung der Gesellschaft gesagt haben. Es gibt sehr viel mehr "Mini-Leader", und das ist auch in Europa so. Auch dort fehlt die eine, große Figur, an der sich alle orientieren.
Adler: Sie sprechen von einem deutlich sichtbaren Wandel in der Gesellschaft, wo beobachten Sie den?
"Die offizielle Politik ist ein aggressiver Nationalismus"
Prochorowa: Vor einem Jahr hat es wirklich so ausgesehen, dass alles verloren war mit dem Ukraine-Krieg. Aber jetzt mobilisiert sich die Gesellschaft. Als ehemaliger Sowjetmensch sehe ich diesen geheimen Prozess. Zu Beginn der Perestroika Ende der 80er-Jahre entstand eine Reihe von Diskussionsklubs, in denen die Leute alle nötigen Veränderungen der Gesellschaft durchdeklinierten. Und heute gibt es wieder in Moskau und Sankt Petersburg eine Unmenge sogenannter offener Lektionen und geschlossener Diskussionsklubs. Ich weiß das, denn ich trete dort oft genug auf.
Die Möglichkeiten, etwas zu tun, sind da, man muss sie nutzen. Man muss lernen, die Entwicklung von Gesellschaften zu verstehen. Wenn es den Anschein hat, dass sich nichts verändert, beginnt plötzlich irgendein sogenannter Frühling. Ein arabischer, ein russischer. Denn die Gesellschaft hat solche versteckten Formen der Revolution.
Adler: Irina Prochorowa, kann man sagen, dass das, was früher die Küchengespräche waren, heute in diesen Diskussionsklubs stattfindet?
Prochorowa: Das Küchengespräch, der Samisdat, der Selbstverlag, waren Übertragungswege von Informationen, die es anders nicht zu den Menschen schafften. Das übernimmt heute das Internet. Es gibt Ähnlichkeiten und Unterschiede. Es gibt ein enormes Interesse an Geschichtsprojekten im Internet. Das vollzieht sich alles, ohne groß an die Öffentlichkeit zu gelangen, und das ist eine wichtige Vorarbeit, bevor neue Führungspersonen erscheinen.
Adler: Der Präsident verweist immer wieder auf die sogenannten russischen Werte. Er legt Wert auf Patriotismus. Haben wir es wirklich noch mit Patriotismus zu tun, oder ist das nicht vielmehr Nationalismus?
Prochorowa: Die offizielle Politik ist ein aggressiver Nationalismus, der unter der Überschrift Patriotismus daherkommt, und der Patriotismus wird immer an der Loyalität der Führung gegenüber gemessen, und da sitzt man auch schon in der Klemme. Denn die Logik lautet: Wenn Du den Präsidenten, die Führung kritisierst, kritisierst und verkaufst Du die Heimat. Die Leute trennen das nicht. Zumal unsere, diese militaristische Geschichte unverändert in der Schule gelehrt wird und jetzt noch die allgegenwärtige Propaganda hinzukommt.
Adler: Wladimir Putin hat außerdem die Kontrolle des Staatliche Archivs übernommen.
"Ein totalitären Staat verwandelt alle Institutionen in Straforgane"
Prochorowa: Das ist leider die Logik: Wenn man es auf eine totalitäre Gesellschaft anlegt, dann geht alles in die Richtung Isolieren, Wegsperren, Kontrollieren. Traurigerweise werden damit künftig selbst ganz harmlose Informationen verschlossen bleiben. Aber es wird auch ohne gehen. Wir haben doch inzwischen genug Informationen über die sowjetische Geschichte, um unsere Schlüsse zu ziehen. Das Ganze ist ein typischer sowjetischer Reflex.
Adler: Und die Schaffung der Nationalgarde, wovon zeugt die?
Prochorowa: Das ist ein trauriger Vorgang und im Volk spricht man schon von der zweiten Opritschnina. Die Zarenarmee, eine Leibgarde. Wenn man einen totalitären Staat schaffen möchte, muss man alle Institutionen in Straforgane umwandeln, und das geschieht jetzt. Alle Organe der Justiz werden in Strafinstitutionen umfunktioniert.
Da man eine demokratische Gesellschaft offenbar nicht will, schafft man nacheinander nur noch Institutionen, die Druck ausüben. Das ist gefährlich, denn damit wird kein einziges Problem gelöst, sondern im Gegenteil vertieft. Das ist eine Sackgasse.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.