Ein Besuch in Sawolschje, einer 40.000 Einwohner-Stadt an der Wolga, im Gebiet Nischnij Nowgorod, rund 450 Kilometer östlich von Moskau. Feierabend im Motorenwerk. Es ist Donnerstagnachmittag, aber bereits Wochenende. Wegen der schlechten Konjunktur hat das Werk die Vier-Tage-Woche eingeführt und den Arbeitern die Löhne entsprechend gekürzt. In Massen strömen sie aus dem Werkstor.
In Gebiet Nischnij Nowgorod wird morgen auch ein neues Regionalparlament gewählt. Den Monteur Aleksej, 42 Jahre, interessiert das mehr als die Dumawahl. Er will für den Kandidaten der Regierungspartei Einiges Russland stimmen. "Er wurde mir bei der Arbeit empfohlen. Er hat früher auch bei uns im Werk gearbeitet. Und er hat drei Kinder. Das sind genug Argumente."
Sawolschje ist eine sogenannte Monostadt. Sie wurde in den 60er Jahren um das Motorenwerk herum gebaut. In Spitzenzeiten arbeiteten dort 25.000 Menschen. Jetzt sind es noch 4.500.
Dass auch der Kandidat von Einiges Russland bei den Motorenwerken gearbeitet hat, wie der Monteur Andrej glaubt, stimmt allerdings nicht. Aber er ist bereits Abgeordneter im Regionalparlament, und in dieser Funktion hat er den Arbeitern zum Geburtstag ihrer Fabrik gratuliert und den Veteranen einen Computer geschenkt. "Sie tun was für die Kinder. Neue Spielplätze. Ich habe schon einige gesehen. Da möchte man gleich selbst spielen gehen. Aber ich bin zu alt dazu."
"Die Leute können nicht mehr unterscheiden, was von der Partei kommt"
Ob es die Stadt war, die die Spielplätze gebaut hat, oder die Partei – Aleksej weiß es nicht. Das ist typisch für den Wahlkampf im Jahr 2016, sagt Grigorij Melkonjants von der unabhängigen Wahlbeobachterorganisation Golos. "Die Macht versucht, die Marke Einiges Russland vollständig in die alltägliche Arbeit der staatlichen Stellen zu integrieren. Die Leute können nicht mehr unterscheiden, was von der Partei kommt, was vom Gouverneur; ob die Partei einen Kindergarten oder eine Straße gebaut hat, oder ob das mit Steuergeldern bezahlt wurde. Beim Bürger entsteht der Eindruck, als würde alles, was der Staat tut, von Einiges Russland gemacht."
In Sawolschje ist das allerdings nicht allzu viel. Die Krise hat Spuren hinterlassen. Die Fassaden der Häuser blättern, Grünflächen sind zugewuchert, die Straßen voller Schlaglöcher. In der Siedlung neben der Fabrik holen die Menschen Wasser noch aus dem Brunnen.
Ein Gemüsestand. Außer Kohl, Kartoffeln und Tomaten gibt es auch frischen Fisch aus der Wolga. Die Rentnerin Nadjeschda Sergejewna legt ein Kilo Kartoffeln in ihre Einkaufstasche. Was erwartet sie von den Wahlen? Sie deutet auf die Pfützen auf der Straße. "Die Straßen sind bei uns das Hauptproblem, die sollten repariert werden. Und wenn die Lebensmittel wieder billiger würden, wäre das auch schön. Die sind teurer geworden. Aber die Rente reicht. Hauptsache, es ist Frieden und ruhig. Mir gefällt unser Präsident, und unsere Regierung auch. Ich stimme für Einiges Russland."
Tatjana Leonidowna schaut aus ihrem Zeitungskiosk herüber. Sie schüttelt den Kopf. "Arbeitsplätze wären das wichtigste. Bei den Motorenwerken wurden so viele Leute entlassen. Die jungen Leute fahren alle nach Nischnij Nowgorod, hier gibt es doch sonst nichts. Aber die Politiker wollen doch nur gewählt werden. Am Ende tun sie doch nichts."
Eine Frau kauft ein Sudoku-Heft. Wem sie ihre Stimme geben werde, habe sie noch nicht entschieden, sagt die Kioskverkäuferin. Allerdings: Ändern werde sie wohl ohnehin nichts. "Ich erwarte keine Überraschungen. Alles wird so bleiben, wie es ist."
Werbetafeln nur an der Hauptstraße
Vom eigentlichen Wahlkampf ist in Sawolschje kaum etwas zu merken. Werbetafeln stehen lediglich an der Hauptstraße. Dort ist nur Reklame der bisher in der Duma vertretenen vier Parteien zu sehen. Dabei treten 14 Parteien an, darunter auch zwei kremlkritische. Der Kandidat von Einiges Russland wirbt mit dem Spruch: "Das Gute soll Platz haben."
Der Kulturpalast im Zentrum von Sawolschje. Hier trifft sich die Jugend. Es gibt Tanz-, Musik- und Modelgruppen. Die meisten Kurse sind kostenlos, der Palast wird von der Stadt finanziert. Am Sonntag wird hier ein Wahllokal eingerichtet.
Der Direktor Wjatscheslaw Jatschnikow bricht eine Packung Teebeutel an. Sie ist blau, in gelben Lettern steht "LDPR" darauf. Die rechtspopulistische Partei ist seit Jahren in der Duma vertreten und stimmt meist mit der Regierung. "Wenn ich Tee von Einiges Russland hätte, würde ich den auch trinken."
Jatschnikow hat gerade Besuch. Wladimir Uchanów ist da, Bürgermeister der Arbeitersiedlung "Erster Mai": "Ich werde Putin wählen. Welche Partei – das ist eigentlich egal. Die zentrale Aussage ist ja ohnehin bei allen Parteien gleich, ob LDPR oder Gerechtes Russland, ob Einiges Russland oder Kommunisten: Ihnen allen geht es darum, Russland wieder groß zu machen."