„Wir haben es noch nie in der Sportgeschichte erlebt, und deshalb trägt auch hier der Begriff der ‚Zeitenwende‘, dass die Sportverbände in der Breite so einheitlich, so geschlossen Sanktionen gegen Russland ausgesprochen haben und Russland so stark unter Zugzwang gesetzt haben, wie das jetzt im Fall des Krieges zwischen Russland und der Ukraine gewesen ist“, analysiert Jürgen Mittag, Professor für Sportpolitik an der Deutschen Sporthochschule Köln.
Im Eishockey, wohl dem Sport Nummer eins in Russland, ist bereits die Entscheidung gefallen, dass die „Sbornaja“, also das Nationalteam nach dem Ausschluss von der diesjährigen Weltmeisterschaft auch im kommenden Jahr nicht an der WM teilnehmen darf, die nach dem Entzug von St. Petersburg erneut im finnischen Tampere und in Lettlands Hauptstadt Riga stattfindet. Russland ist, rechnet man die Titel der Sowjetunion mit ein, im übrigen Rekordweltmeister zusammen mit Kanada. Das Durchgreifen des internationalen Sports hat für ordentlich Dynamik gesorgt in Russland.
„Das hat die russischen Sportverbände unter einen gewissen Zugzwang, unter einen gewissen Druck gesetzt, weil da kaum Spielraum gewesen ist, in irgendwelche Debatten, in irgendwelche Argumentations- oder Verhandlungspakete hineinzugrätschen“, so Mittag.
Verbaler Angriff auf ukrainische Tennisspielerin
Deshalb zeigen sich Journalisten und Funktionäre umso angriffslustiger in der Öffentlichkeit. Der Präsident des Russischen Tennisverbands, Shamil Tarpishchev, etwa attackierte die ukrainische Spielerin Elina Svitolina, nachdem diese die russischen und belarussischen Kollegen dazu aufrief, sich gegen den Krieg in ihrem Land auszusprechen. „Es gibt keinen Grund, dem Aufmerksamkeit zu schenken. Das ist nicht nur meine Meinung, sondern auch die der Anwälte. Aktuell spielen wir, alles ist in Ordnung für uns. Es wäre dumm, darauf zu reagieren. Wer ist überhaupt Svitolina? Ein Niemand“, so Tarpishchev gegenüber dem Portal Metaratings.ru.
Zugleich lobte Tarpishchev Top-Spieler wie Rafael Nadal und Novak Djokovic, die sich gegen den Ausschluss der Russen vom Prestigeturnier in Wimbledon ausgesprochen hatten: „Die Unterstützung der Top-Spieler wird benötigt. Unsere Spieler und der Verband sind allen Spielern dankbar, die bereits unsere Athleten, die nicht teilnehmen dürfen, verteidigt haben.“
Fußballer im asiatischen Verband?
Derweil denkt der russische Fußball darüber nach, mit dem eigenen Verband vom europäischen zum asiatischen Kontinentalverband zu wechseln, um dort künftig an Qualifikationsrunden für die Fußball-WM teilnehmen zu können. Der Sportsender „Match TV” zitierte hierzu den Ex-Boxer und Parlamentarier Dmitry Pirog: „Ich denke, es ist an der Zeit, sich ernsthaft mit einem Wechsel zur Asiatischen Fußball-Konföderation zu beschäftigen.“ Auch Ex-Nationalspieler Andrei Kanchelskis äußerte sich in diese Richtung.
Selbst wenn der Schritt möglich wäre, finanziell wäre er keinesfalls lukrativ. Manch anderer möchte lieber warten. Die Hoffnung ruht auf den vorhandenen Netzwerken, wie Johannes Aumüller von der „Süddeutschen Zeitung“ meint: „Aufgrund der vielen engen und teilweise auch sehr mysteriösen Verbindungen, die sie mit Geld, mit Personal, mit Sportveranstaltungen über bestimmte Organisationen in den vergangenen Jahren in den Sport geknüpft haben. Das könnte sich noch auszahlen und nach einer ersten Welle der scheinbaren Sanktionen – die sind ja gar nicht so streng, wie es manchmal den Anschein hat – man peu à peu wieder in die Sportfamilie zurückkehrt, als sei nichts geschehen.“
Paradebeispiele für die guten Verbindungen sind wiederum Fußball und Eishockey. Im Fußball war Russland nicht nur Ausrichter der Fußball-WM 2018, sondern hat über Gazprom hervorragende Kontakte zur UEFA. Im UEFA-Exekutivkomitee sitzt trotz aller Sanktionen weiterhin Alexander Dyukov, der CEO von Gazprom Neft und Präsident der Russischen Fußballunion. Im Eishockey war Russland eng verbandelt mit René Fasel, dem langjährigen Präsidenten der Internationalen Eishockeyföderation. Sein Nachfolger, Luc Tardif, mag momentan eine härtere Linie fahren, aber langgewebte Netzwerke zerbröseln nicht so schnell.
Journalist Aumüller: Sanktionen "bröckeln"
Aumüller sagt: „Zugleich sieht man bei verschiedenen Verbänden, wie das bröckelt. Es gibt ja durchaus diverse Sportarten, in denen russische Sportler noch aktiv sind: Tennis, Radsport, Boxen. Und bei anderen Sportarten ist dieser ursprüngliche Bann auch schon am Aufweichen. Es gab im Tischtennis eine Entscheidung, dass der Ausschluss von russischen Vereinsmannschaften aus der Champions League nicht rechtens gewesen sei. Es gab im Rodeln eine Entscheidung, die dazu geführt hat, dass es zunächst einmal den russischen Rodlern wieder gestattet ist teilzunehmen. Also von daher: Es ist nicht so fest, wie es manchmal den Anschein hat.“
Zumal die russischen Verbände neben ihrer medialen Offensive auch weiterhin juristisch gegen Ausschlüsse vorgehen möchten. Zudem sinkt in einigen Sportarten der sportliche Wert von Wettkämpfen, wenn plötzlich wie im Eishockey oder Eiskunstlauf ein Teil der Weltspitze fehlt. Deshalb sieht Professor Jürgen Mittag ein mögliches Einlenken: „Ich gehe davon aus, dass von Seiten der westlichen Staaten, der westlichen Verbände mittelbar bis langfristig größeres Interesse daran besteht, russische Athletinnen und Athleten einzubinden.“