Archiv

Rye Curtis: "Cloris"
Allein überleben in der Wildnis

Die 72-jährige Texanerin Cloris gerät durch einen Flugzeugabsturz allein in die rauen Berge Montanas. In der Wildnis lernt sie, zu überleben. Als sich ein Suchtrupp nähert, fällt Cloris eine folgenschwere Entscheidung. Rye Curtis' Debüt ist ein klug unterhaltender und behutsam fesselnder Roman.

Von Paul Stoop |
Nebel und Rauch über dem Bitterroot Valley im Herbst in Hamilton Montana, USA.
Allein in der Natur - Rye Curtis' Roman greift auf einen bekannten Topos der US-amerikanischen Literatur zurück (imago / Robin Carleton)
Cloris Waldrip ist 92 und nach eigener Aussage eine "notorische Plaudertasche". Sie lebt in einem Seniorenheim in Vermont und erzählt uns ihr Leben. Oder richtiger: ihre beiden Leben. Denn lange lebte sie ruhig und höchst unspektakulär in einem Zweitausend-Seelen-Ort in Texas – ein treues Mitglied der Methodisten-Gemeinde und 40 Jahre lang Leiterin der Schulbücherei.
Im Sommer 1986 aber endet dieses Leben. Cloris ist 72 und lässt sich mit ihrem Mann, den sie nur Mr. Waldrip nennt, in einer kleinen Maschine zu einem Ferienhaus in den Bitterroot Mountains in Montana fliegen. Das Flugzeug stürzt ab, ihr Mann hängt tot in einem Baum. Terry, der Pilot, liegt leblos im Cockpit des zerborstenen Flugzeugs. Cloris überlebt und macht sich mitten in der Wildnis auf einen Trauerweg, der gleichzeitig Aufbruch in ein anderes Leben wird.
Eine Fledermaus zum Abendbrot
Die Witwe steht unter Schock, sie hat keine Ahnung, wie man in den Bergen überlebt. Aber sie wird als kreativ – sammelt Trinkwasser in einem Stiefel ihres Mannes und lernt Feuer zu machen. Die Angst vor den Naturmächten, die Behelligung durch Zecken, die Begegnung mit einem Berglöwen, der rückwärts geht, der Verlust ihrer Zahnprothese, der Hunger, der zur Not mit gerösteten Fledermäusen gestillt wird – Cloris hält das alles 77 Tage lang aus, wie sie im zeitlichen Abstand mit lakonischem Witz erzählt:
"Die ledrigen Flügel knackten, und der Körper blähte sich auf und platzte. Zu meiner Schande stellte sich heraus, dass es sich bei dem armen Geschöpf um ein trächtiges Weibchen handelte. Ich aß die komplette Mutterfledermaus und ihr ungeborenes Junges auf und nagte die Knochen ab. Es fiel mir nicht ganz leicht, sie zu zerkauen, da ich ja nur die Backenzähne benutzen konnte, seit ich meine Prothese im Fluss verloren hatte. Fledermaus schmeckt gar nicht schlecht, muss ich sagen. Ein wenig wie Wachtel."
Die Natur erweist sich als Befreierin. Cloris kämpft gegen Naturgefahren, aber auch gegen Ekel und Scham. Sie schafft es, zunächst eher mühsam, nackt in einem See zu baden – und überwindet die Konventionen von "Schicklichkeit und Anstand", die ihr bisheriges Leben bestimmten. Das Trauma des Verlusts und die Herausforderungen der Wildnis nötigen sie zu Grenzüberschreitungen. Innerlich entfernt sie sich so von ihrer alten, engen Welt, in der die Frisuren der Damen in der Gemeinde wichtiger Gesprächsstoff waren und der Briefkontakt mit einer anderen Frau als der eigenen fast schon als Ehebruch galt.
Die Natur bietet den Kontext für Veränderung im Kleinen – nicht für große Gegenentwürfe wie die eines Henry David Thoreau, der sich in "Walden" von der modernen, urbanen Welt abwendet, oder einer Jocelyne Saucier, die im Roman "Ein Leben mehr" eine Rentner-WG in den kanadischen Wäldern gegen soziale Gängelung aufbegehren lässt.
Suchtrupp aus verkorksten Gestalten
In alternierenden Kapiteln bekommt der Leser auch Einblick in das, was sich draußen abspielt. Hauptfigur dieses zweiten Erzählstrangs ist Park-Ranger Debra Lewis. Ihre Ehe ist gescheitert, der Ex-Mann sitzt im Gefängnis, weil er gleich drei Ehen gleichzeitig geführt hat. Lewis ist depressiv, flucht und trinkt unentwegt billigen Merlot aus einer Thermoskanne. Bärbeißig und meist betrunken führt sie einen kleinen Suchtrupp mehr oder weniger verkorkster Männer an, die mit Jeep und Flugzeug Cloris zu finden versuchen.
Während die anderen schon bald die als vermisst gemeldete alte Dame Schulter zuckend aufgeben, beharrt Lewis auch nach vielen Wochen darauf, alles zu tun, um Cloris Waldrip zu finden. Als sie endlich vor der Hütte steht, in der die Gesuchte Schutz gefunden hat, scheint es eine Sache von Sekunden bis zum Happy End zu sein. Aber Cloris, in Hörweite der Retter, beschließt, sich nicht retten zu lassen:
"Ich stand vollkommen still. Ich tat überhaupt nichts. Ich hob nicht die Arme und ruderte nicht mit ihnen in der Luft herum. Ich rief nicht um Hilfe. Eine entsetzliche Traurigkeit ergriff mich, und in diesem Augenblick fiel mir trotz der Momente der Verzweiflung, die ich draußen im Bitterroot erlebt hatte, kein Grund ein, wieder nach Hause zurückzukehren."
Der Schriftsteller Rye Curtis und sein Buch „Cloris“
Die Natur bietet den Kontext für Veränderung im Kleinen in Rye Curtis' Roman – nicht für große Gegenentwürfe (Foto und Buchcover: Verlag C.H. Beck)
Nach weiteren harten Wochen in den Bergen wählt Cloris doch noch den Weg in die bewohnte Welt, weil sie ein anderes Leben retten will. Im Wald hat sie nämlich einen Schutzengel. Ein geheimnisvoller maskierter Mann beschattet sie und legt ihr jeden Tag Fische und Kleintiere hin, ohne seine Identität preiszugeben. Erst als dieser Retter schwer verletzt selbst auf Hilfe angewiesen ist, erfährt Cloris mehr von seiner Geschichte: Er wird vom FBI gesucht, weil er ein zehnjähriges Mädchen entführt haben soll, das seitdem verschwunden ist. Eine Neigung zu Minderjährigen gesteht er Cloris, beteuert aber seine Unschuld im Fall der Entführung.
Der Beschützer – ein Verbrecher?
Die kunstvoll eingeflochtene Kriminalstory ist eine weitere Probe – und Cloris, lange in rigiden moralischen Kategorien gefangen, schafft es, nicht zu urteilen, sondern die Ambivalenz auszuhalten: Ihr Schutzengel ist möglicherweise auch ein Verbrecher.
Dieser Roman ist nichts für Leser, die es rasant mögen. Er entwickelt seinen Charme langsam. Durch Cloris’ in der Wildnis mäandernde Gedanken und die bizarren Dialoge des Ranger-Suchtrupps entfaltet sich das Panorama des weißen und konservativen Nachkriegs-Amerika jenseits der Küstenmetropolen: überall normale, durchschnittliche Menschen, nicht dynamisch, nicht brutal, nicht ehrgeizig, sondern liebenswert unbeholfen, und allesamt mit kleinen Marotten.
Eine Zeit großer Seelennot
Im Original heißt der Roman "Kingdomtide", eine im 20. Jahrhundert vor allem von Methodisten gesondert benannte Phase des Kirchenjahres, vom Spätsommer bis zum ersten Advent, also die zweite Hälfte der Trinitatiszeit. In diesen Wochen soll ein Christ Gutes in der Welt tun. Es ist auch exakt die Zeit vom Flugzeugabsturz bis zu Cloris’ Rückkehr in die bewohnte Welt. Das Gute, das Cloris tut, mag die Milde gegenüber ihrem polizeilich gesuchten Begleiter sein, eher aber noch ihre Selbstermächtigung nach dem traumatischen Absturz. Sie ist in der Lage, den Charakter dieser Zeit für sich umzudeuten:
"Für mich ist sie seit damals im Bitterroot eine Zeit großer Not und Trauer."
Einen Weg zurück nach Texas gibt es für Cloris nicht, sie zieht in den Nordosten und entwickelt eine entspannte Lebensphilosophie, mit der sie dem Tod, dem sie zwanzig Jahre zuvor nur knapp entkommen ist, in Frieden entgegensehen kann:
"Ich habe mir abgewöhnt, allzu vorschnell über andere zu urteilen. Die Leute sind halt, wie sie sind, ich glaube, mehr gibt es dazu nicht zu sagen."
Mit dieser Geschichte hat der junge Rye Curtis ein reifes Debüt vorgelegt. "Cloris" ist ein lesenswerter, klug unterhaltender und nach einem behutsamen Beginn fesselnder Roman – ein Stoff, aus dem die Coen Brothers eine großartige Serie nach "Fargo"-Art machen könnten.
Rye Curtis: "Cloris"
Aus dem Amerikanischen von Cornelius Hartz.
C.H. Beck Verlag, München. 352 Seiten, 24 Euro.