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Sabine Dörlemann über literarische Wiederentdeckungen
"Die Bücher müssen mich selbst begeistern"

Iwan Bunin, Patrick Leigh Fermor oder Martha Gellhorn: Vergessene Klassiker sind fester Bestandteil des Programms des Schweizer Dörlemann Verlags. Bei den Wiederentdeckungen lasse sie sich von der "Leidenschaft für den Text" leiten, sagt Sabine Dörlemann.

Sabine Dörlemann im Gespräch mit Dina Netz | 22.08.2018
    Die Verlegerin Sabine Dörlemann
    Entdeckerin aus Leidenschaft: Die Verlegerin Sabine Dörlemann (Barbara Dietl)
    Dina Netz: "Endlich auch auf Deutsch." Oder: "Ausgegraben von Sabine Dörlemann." So heißt es oft in den Rezensionen der Bücher aus dem Schweizer Dörlemann Verlag. 2003 hat Sabine Dörlemann den Verlag gegründet mit dem Anspruch, Klassiker des 20. Jahrhunderts wiederzuentdecken und neu zu übersetzen. So passt sie also haargenau in unsere Sommerreihe zum Thema "Erinnern und Vergessen".

    Beim Wiederentdecken ist es allerdings nicht geblieben, das Team des Dörlemann Verlages entdeckt auch Perlen der Gegenwartsliteratur. Christina Viraghs Roman "Eine dieser Nächte" ist zum Beispiel gerade für den Deutschen Buchpreis nominiert worden. Die Legende geht so, dass die große Russisch-Übersetzerin Swetlana Geier Sabine Dörlemann zur Verlagsgründung ermutigte und ihr gleich die erste Übersetzung schenkte: Iwan Bunins "Ein unbekannter Freund". Das wäre dann auch ein bisschen Nötigung gewesen. Stimmt diese Legende so, Frau Dörlemann?
    Sabine Dörlemann: Ja, die Legende ist durchaus richtig. Ich habe lange Jahre im Ammann-Verlag gearbeitet. Nach sieben Jahren habe ich aber gefunden, ich muss noch mal was Neues machen. Frau Geier mochte eigentlich keine Veränderungen, aber sie hat dann gefunden: "Dann gründen Sie einen eigenen Verlag und ich übersetze auch was Schönes für Sie." Und wenn man sie kannte, wusste man, dass ihr Wunsch eigentlich mehr oder weniger Befehl ist.
    Netz: Ich nehme an, Swetlana Geier war nicht der einzige Anstoß für Sie, den Verlag zu gründen. Was für eine Idee stand am Anfang des Dörlemann-Verlages? Was war Ihr Impuls?
    Dörlemann: Am Anfang stand ganz klar: Verlage sind natürlich auch immer der Wunschtraum eines jeden Lektors, denke ich. Es braucht dann schon sehr viel Mut. Und für mich war es wichtig, dass jemand an mich geglaubt hat, und das war in diesem Fall Frau Geier.
    Beim Ammann-Verlag habe ich auch deutschsprachige Autoren betreut, aber dass die natürlich in den Ammann-Verlag gehören, war ziemlich klar. Von daher wollte ich aber auch nicht Autoren, die ich vorher abgelehnt hatte, in mein eigenes Verlagsprogramm nehmen. Von daher waren mir die Wiederentdeckungen am Anfang auch wichtig, einfach aus der Situation heraus.
    "Er war der erste russische Literaturnobelpreisträger"
    Netz: Vermutlich war es aber nicht nur eine Notlösung. Reden wir über alles, was Sie dann an Perlen gehoben haben. Fangen wir an mit Bunin. Er war der erste russische Literaturnobelpreisträger. Trotzdem kannte ihn kaum jemand. Er war hinter Tolstoi oder Dostojewski verschwunden. Wie kam dieses Verschwinden und wie haben Sie ihn dann wiederentdeckt?
    Dörlemann: Bunin ist ja ins Exil gegangen 1918 beziehungsweise 1917. Deswegen wurde er in Russland auch nicht mehr wahrgenommen. Er war auch ein großer Bolschewiken-Hasser, kann man schon fast sagen, und von daher war das natürlich vice versa und man hat ihn in Russland eigentlich erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zur Kenntnis genommen.
    Netz: Warum musste er wiederentdeckt werden? Was ist das, was Bunin für heutige Leser noch reizvoll macht?
    Dörlemann: Er ist einfach ein großartiger Landschafts-Stimmungsschriftsteller, ähnlich wie Joyce zum Beispiel, der im Exil über seine Heimat schreibt. Ebenso ist es bei Bunin. Es gibt ganz wenige Erzählungen wie "Der Herr aus San Francisco", die wirklich nicht in Russland spielen. Man kann eigentlich die russische Seele in Bunin entdecken.
    Netz: Frau Dörlemann, bei Bunin haben offenbar die Zeitumstände dazu geführt, dass er vergessen wurde. Was gibt es sonst für Gründe, warum Autoren, die eigentlich wichtig und relevant sind, vergessen werden?
    Dörlemann: Es gibt natürlich – das kennen wir ja auch – eine große Flut von neuen Autoren, die nachdrängen. Das ist ja auch gut so. Da geraten natürlich manchmal dann auch große Autoren in Vergessenheit. Zum anderen ist es zum Beispiel bei Patrick Leigh Fermor auch so, dass er als Reiseschriftsteller in Deutschland wahrgenommen wird. In England kennt man diese Schubladen nicht so, sondern da ist er einfach ein großer Autor und vor allen Dingen ein brillanter Stilist. In Deutschland ist es immer ein bisschen so: Reiseliteratur ist keine richtige Literatur. Deswegen hat man ihn auch lange Zeit gar nicht so wahrgenommen.
    Erzählungen und Reiseberichte werden leichter vergessen
    Netz: Patrick Leigh Fermor, den Sie auch wiederentdeckt haben, ist ein gutes Beispiel dafür, dass ein Autor in einem Land ein Klassiker ist, aber in den Nachbarländern vergessen wird. Wie kommt denn so was zustande, abgesehen von dieser Genre-Frage im konkreten Fall von Fermor?
    Dörlemann: Ja, ich glaube, es ist schon eine Genre-Frage. Ich meine, das hat sicherlich bei Bunin auch eine Rolle gespielt, weil Bunin größtenteils Erzählungen geschrieben hat, nur einen einzigen Roman. Patrick Leigh Fermor war ein Reiseschriftsteller, ein Genre, das erst in den letzten Jahren bei uns eigentlich so richtig entdeckt worden ist. Ich würde sagen, seit Mitte der 1990er-Jahre. Das führt dann dazu, dass die Literatur auch nicht so wahrgenommen wird.
    Netz: Was müssen denn die Bücher leisten, die Sie wiederentdecken, um den historischen Abstand zu heute zu überbrücken, der ja ohne Zweifel besteht? Muss das Thema aktuell sein, oder gerade zeitlos? Muss es literarisch aktuell sein? Welche Kriterien müssen da erfüllt sein, damit ein Buch auch heute bestehen kann?
    Dörlemann: Ich glaube, es muss einfach gute Literatur sein, denn gute Literatur ist ja eigentlich so universell, dass sie immer gelesen werden kann. Manchmal trifft es natürlich dann auch ein bisschen einen Zeitgeist. Zum Beispiel Patrick Leigh Fermor, der 1933 von Hoek van Holland nach Konstantinopel gewandert ist. Im Kalten Krieg, sage ich jetzt mal, vor Glasnost wäre das ja gar nicht möglich gewesen, dass man wirklich so ohne weiteres durch die Balkanländer wandert bis nach Istanbul. Ich denke, das ist etwas, was heute faszinierend ist, und es gibt große Fermor-Fans, die auch wirklich die Route nachwandern.
    Netz: Braucht es denn immer ein Vor- und Nachwort, um den historischen Abstand zu überbrücken, um zu erklären, oder kommen die Bücher, die Sie veröffentlichen, in der Regel ohne Einordnungen aus?
    Dörlemann: Es ist so, dass sich da die Geister scheiden. Ich bin eigentlich ein Purist. Ich würde gerne sagen: "Nimm und lies!" Ganz klassisch nach Augustinus, kriege aber öfter mal auch in Besprechungen einen auf den Deckel, dass dann der Rezensent fordert: Warum hat man bloß diesem schönen Text kein Nachwort beigegeben, um das einzuordnen? Ich habe da schon gelernt und versuche, auch immer wieder Nachworte schreiben zu lassen. Aber manchmal finde ich einfach, man muss den Leser auch nicht unterfordern beziehungsweise dem Leser auch nicht zu wenig zutrauen.
    "Oft sind Überseter die besten Scouts"
    Netz: Frau Dörlemann, Sie haben Bücher aus fast der ganzen Welt im Programm. Ein paar Namen, die wir noch nicht genannt haben, wären David Garnett, Pierre Bost, Léonor de Récondo, Martha Gellhorn. Heute ist just der 125. Geburtstag von Dorothy Parker, von der Sie auch einen Band verlegt haben. Wie finden Sie Ihre Bücher, an die man sich erinnern soll? Graben Sie sich durch Archive? Haben Sie Scouts?
    Dörlemann: Oft sind ja Übersetzer die besten Scouts. Es kommt immer wieder vor, dass Übersetzer mit ihren Lieblingsbüchern an mich herantreten. Zum Beispiel bei Dorothy Parker war das der Fall. Ulrich Blumenbach hat jahrelang immer wieder am Sonntag eigentlich aus Hobby und Leidenschaft die Gedichte von Dorothy Parker übersetzt und kam dann damit auf mich zu und hat gesagt: "Ich weiß, das ist schwierig, aber willst du nicht einen Gedichtband machen mit den Gedichten von Dorothy Parker?" Und da ich schon immer ein großer Fan von Dorothy Parker gewesen bin, habe ich natürlich gleich Ja gesagt. Nach langem Hin und Her und Verhandeln – und darauf bin ich eigentlich auch besonders stolz und auch sehr glücklich darüber – konnten wir die Ausgabe sogar zweisprachig machen. Auf der linken Seite sind die englischen Originalgedichte, auf der rechten Seite die deutsche Übersetzung. Das passiert doch ab und zu.
    Bunin hat ja eigentlich Frau Geier ausgegraben. Patrick Leigh Fermor war eine Empfehlung von einer befreundeten Familie. Aber es gibt natürlich auch Sachen, die ich selber ausgrabe oder manchmal auch schlicht und ergreifend in einem englischen Buchladen oder Antiquariat oder wo auch immer finde.
    Netz: Jetzt kommt ja wahrscheinlich eine Fülle von Büchern auf Ihren Tisch, die alle vergessen sind und erinnert werden wollen, wiederentdeckt werden wollen. Der Schweizer Literaturkritiker Martin Ebel hat Sie, Frau Dörlemann, mal eine "untrügliche Spürnase für das Wertvolle im Übersehenen" genannt. Wie entwickelt man denn die Spürnase dafür, was erinnert werden soll?
    Dörlemann: Ich glaube, es ist eigentlich mehr oder weniger eine Leidenschaft für den Text, die man entwickelt. Wenn man selber sich für was begeistert, dann kann man natürlich das auch gut transportieren. Das ist eigentlich für mich ganz wesentlich. Wenn ich irgendwie was ganz toll finde und leidenschaftlich gerne diesen Text lese, dann möchte ich den doch auch gerne vermitteln. Ich glaube, es gibt eigentlich sonst nicht eine wirklich rationale Entscheidung, warum man jetzt ausgerechnet dieses oder jenes entdecken sollte.
    "Schön, wenn die Leute sich auch so wie ich begeistern können"
    Netz: Was empfinden Sie persönlich denn dann, wenn es Ihnen gelingt, einen Autor dem Vergessen zu entreißen, und das ist Ihnen ja bereits oft gelungen? Ist das Glück oder Genugtuung?
    Dörlemann: Sowohl als auch. Ich denke jetzt gerade an David Garnett, dessen "Dame zu Fuchs" wir wiederentdeckt haben, und es gibt unterdessen sogar eine Theateraufführung. Es gibt auch oft Radiolesungen, wo die Texte eingelesen werden, und das finde ich dann immer wieder schön, wenn die Leute sich auch so wie ich begeistern können für Texte und Autoren auch wiederentdecken.
    Netz: Vielleicht noch eine Nachfrage zu einer ganz anderen Berufsgruppe. In gewisser Weise entreißen Sie ja auch die Übersetzer dem Problem des Vergessens, oder zumindest der Nichtwahrnehmung. Bei Ihren Büchern stehen die Namen der Übersetzer auf dem Titel. Das ist wirklich außergewöhnlich. Dafür sind Sie zum Beispiel mit der "Übersetzerbarke" ausgezeichnet worden. Warum ist Ihnen das so wichtig, dass die Übersetzer nicht vergessen werden?
    Dörlemann: Mir persönlich ist es auch unter anderem deswegen so wichtig, weil ich selber auch übersetzt habe, und ich weiß, was für schweißtreibende Arbeit das ist. Und ich finde es auch nicht richtig, die Übersetzer zu übersehen, weil sie doch eine ganz wesentliche Rolle spielen, denn wir könnten viele Texte gar nicht lesen, wenn es nicht die Übersetzer geben würde, die sie ins Deutsche bringen. Darum, finde ich, soll man das auch anzeigen auf dem Umschlag, dass dieser Text eine Übersetzung ist und nicht einfach so vom Himmel fällt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.