"Brain reading" - dahinter verbirgt sich die Idee, mit Hilfe bildgebender Verfahren Gedanken direkt aus den Nervenzellen des Gehirns abzulesen. Dieses Versprechen kursiert schon seit dem Boom der Hirnforschung in den 1980er Jahren - und sorgt gleichermaßen für Faszination wie für Schrecken. Gut daher, dass ein kritischer Experte jetzt für Klarsicht sorgt: John-Dylan Haynes, der Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimaging. "Fenster ins Gehirn. Wie Gedanken entstehen und wie man sie lesen kann" heißt sein gemeinsam mit dem Wissenschaftsautor Matthias Eckoldt verfasstes Buch. Haynes macht darin zunächst klar, warum Hirn und Geist für ihn tatsächlich eng zusammenhängen.
Grobe Kategorien erkennt der Computer schon
Dann wird es richtig spannend, weil der Berliner Hirnforscher ausgiebig diskutiert, was das für das Brain reading bedeutet. Sein eigenes Team präsentierte Versuchspersonen zum Beispiel Bilder von Tieren, Autos, Flugzeugen und Stühlen. Und untersuchte, ob sich dafür jeweils typische Hirnmuster finden ließen.
"Ergebnis: Unser Computer konnte mit einer Trefferquote von bis zu 90 Prozent die groben Kategorien auseinanderhalten. Das gelang ihm weitgehend auch bei den konkreten Beispielen aus den jeweiligen Kategorien, wobei allerdings die Trefferquote auf etwa 70 Prozent sank. Das reichte, um einen ersten Beweis dafür erbracht zu haben, dass auch feinere gedankliche Details ausgelesen werden können, zumindest bis zu einem gewissen Grad."
Bis heute ist es allerdings bei diesem "gewissen Grad" geblieben. Denn die Trefferquoten vergleichbarer Experimente bewegen sich alle nur zwischen 70 und höchstens 90 Prozent. Egal, ob Forschende versuchen, Gesichter, Gefühle, Seheindrücke, Wortbedeutungen, Lügen oder unbewusste Antriebe aus den Aktivitätsmustern des Gehirns abzulesen. Haynes Team versuchte sogar, politische Vorlieben zu entziffern.
Auch politische Vorlieben sollen ablesbar sein
"Den Probanden wurden im MRT Bilder von Politikern aus zwei verschiedenen großen Volksparteien gezeigt. Tatsächlich konnten wir aus der Hirnaktivität sowohl die bevorzugten Politiker als auch die präferierte Partei auslesen. Auch hier waren die Trefferquoten für Routineanwendungen zu niedrig, trotzdem zeigten beide Studien deutlich, dass es prinzipiell möglich ist, auch unbewusst ablaufende Prozesse bei Kauf- beziehungsweise Wahlentscheidungen aus der Hirnaktivität auszulesen."
Prinzipiell scheint vieles möglich zu sein, praxistauglich ist aber für den Alltag nur sehr wenig. Haynes und Eckoldt schildern die Methoden des Brain reading sehr anschaulich und verständlich - auch mit Hilfe pointierter Zeichnungen - und warnen eindringlich vor einem Denkfehler, der unter Brain reading-Enthusiasten verbreitet ist.
"Zu wissen, welche Hirnregionen aktiviert werden, führt noch längst nicht zu der gewünschten mechanistischen Vorhersagbarkeit. Eine Feinkontrolle der neuronalen Prozesse im Gehirn ist wahrscheinlich ebenso eine Illusion, hervorgerufen von einem vereinfachenden mechanistischen Denken, das unser Gehirn letztlich als eine Maschine ansieht."
Die Sprache des Gehirns ist zu komplex
Das setzen Haynes und Eckoldt auch Facebook und Elon Musk entgegen, die die gesamte Persönlichkeit eines Menschen aus dem Gehirn auslesen und das Gehirn direkt mit Maschinen koppeln möchten. Geist und Gehirn hängen zwar eng miteinander zusammen, sind aber viel zu komplex und dynamisch, um perfekt ineinander übersetzbar zu sein.
Zielgruppe: Jeder Mensch mit Hirn und Geist.
Erkenntnisgewinn: Gehirn und Geist sind zwar von Natur aus Zwillinge, gehen im Leben aber unterschiedliche Wege.
Spaßfaktor: Eine plastisch erzählte Reise in die Untiefen eines brisanten Forschungsfelds.
Fenster ins Gehirn: Wie Gedanken entstehen und wie man sie lesen kann
Sachbuch von John-Dylan Haynes und Matthias Eckoldt
Ullstein-Verlag, 304 Seiten, 24.00 Euro
Sachbuch von John-Dylan Haynes und Matthias Eckoldt
Ullstein-Verlag, 304 Seiten, 24.00 Euro