Edle Einfalt und stille Größe - das Winckelmannsche Diktum über die griechische Kunst mag etwas in den Hintergrund treten, wenn man unser heutiges Buch der Woche aufschlägt: "Gewalt. Die dunkle Seite der Antike" heißt es. Geschrieben hat es der Althistoriker Martin Zimmermann. Über zehn Jahre lang hat er mit Studenten die Schattenseitentexte der Antike durchforstet, auch 2009 bereits ein Buch mit Aufsätzen zur "dunklen Seite des Altertums" herausgegeben. Jetzt also: "Gewalt. Die dunkle Seite der Antike", vorgestellt von Anja Hirsch.
Wie spricht man über Gewalt, ohne dass sich die Zuhörer vor Schock und Ekel abwenden? Mit dieser Frage eröffnet der Althistoriker Martin Zimmermann seine Studie "Gewalt. Die dunkle Seite der Antike". Noch bevor er aber weit in die Zeit zurück reist, zu Gladiatorenkämpfen und grausamsten Hinrichtungen, zum Schinden und Schänden, zum Foltern und Pfählen, zu all den vielen Texten darüber, geschrieben von Dichtern wie Homer oder Geschichtsschreibern wie Herodot, packt er uns mit einem Beispiel aus der Gegenwart. Als im Mai 2012 der Diktator Charles Taylor, verantwortlich für Massaker und Morde in Sierra Leone zwischen den Jahre 1991 und 2001, vor dem UN-Tribunal in Den Haag verurteilt wurde, suchte der Richter nach Worten, um den Schrecken zu vergegenwärtigen, und hob dazu ein Einzelschicksal heraus.
"Er erinnerte an die Zeugin, die berichtet hatte, wie die Soldaten Taylors sie gequält hatten. Sie musste einen Sack hinter sich herziehen, in dem sich abgeschlagene Köpfe befanden, und dabei laut lachen. Schließlich zeigten ihr die Soldaten den Inhalt. Es handelte sich um die abgehackten Köpfe ihrer eigenen Kinder."
Auch ohne weitere Details entfaltet diese Zeugenaussage ihre Wirkung. Einerseits erhält so die abstrakte Schuld Charles Taylors an "abscheulichsten und brutalsten Verbrechen" ein Gesicht und ein Bild. Andererseits ist da im Entsetzen der Impuls, sich abzuwenden. Handlung, das wusste schon Lessing, kommt aber nur durch Erzeugung von Mitleid in Gang. Wie also erreicht man die Menschen? Zu nah darf man nicht herangehen. Zu weit weg aber auch nicht. Schon befinden wir uns mitten drin in einem fast unauflösbaren Dilemma: Das Sprechen über Gewalt kann niemals angemessen sein. Und auch Charles Taylors Richter erntete sofort Kritik. Die Verteidiger fanden die Zeugin unzuverlässig. Afrikanische Politiker bewerteten die Verurteilung des Politikers gar als Klassenjustiz der Ersten Welt, denn Taylors Gehilfen, Waffenlieferer wie der amerikanische Präsident George W. Bush, kämen ungeschoren davon. Schon geht in dieser neuen Diskussion die Zeugin aus Sierra Leone mit ihrem grausamen Schicksal unter.
"Das eigentliche Geschehen rückt dabei weitgehend in den Hintergrund, ja, verschwindet geradezu aus der Wahrnehmung. Die Bilder verstellen paradoxerweise den Blick auf das, was tatsächlich passiert ist. So ergibt sich ein echtes Dilemma: Einer unendlichen Geschichte von grausamen Gewaltakten steht ein anhaltendes Unvermögen gegenüber, sich adäquat darüber auszutauschen."
Warum aber nun ein Buch über die Gewalt in der Antike? Über zehn Jahre lange sichtete und analysierte Martin Zimmermann mit Studenten Texte unter diesem Schwerpunkt. Seiner Ansicht nach lässt sich nur durch Rückschau verstehen, wie heute in einer Gesellschaft über Gewalt gesprochen wird. Das mag nach dem gängigen Argument eines Historikers klingen, der auch Laien für sein Thema begeistern will, indem er dessen Aktualität betont. Aber diese Klammer zwischen Antike und Gegenwart macht sein Buch überhaupt erst spannend. Denn Zimmermanns Zeitreise ändert tatsächlich den Blick auch auf gegenwärtige Gewaltdiskurse. Indem er mit uns einübt, wie solche Schilderungen aus alter Zeit zu lesen sind, welche Funktion sie also hatten, sensibilisiert er uns auch für die täglich gezeigte Gewalt in den Tagesnachrichten und die Fragen, die man daran stellen könnte. Für die Antike jedenfalls heißt die erste Grundregel: Als haargenaues Abbild der Wirklichkeit sollte man die Texte nicht verstehen.
"Idomeneus aber stieß dem Erymas in den Mund mit dem
erbarmungslosen Erz,/ und gerade hindurch fuhr hinten heraus
der eherne Speer, / unterhalb des Gehirns, und spaltete die weißen
Knochen. / Und herausgeschüttelt wurden die Zähne, und es füllten sich ihm/
mit Blut die beiden Augen, und aus dem Mund und durch die Nasenlöcher/
sprühte er es, klaffend."
So schildert der Dichter Homer in seiner "Ilias", dem Referenztext der griechischen Antike schlechthin, den Tod des Erymas. An Gewalt ist das Epos bekanntlich kaum zu übertreffen. Todesszenen mit Blut, Eingeweiden, zerschnittenen Muskeln und Sehnen werden von Schmerzensschreien überlagert. Rund zwei Drittel des gesamten Werkes bestehen aus der Schilderung von Schlachten. Nichts, was man als Gute-Nacht-Geschichte goutieren mag. Nun leuchtet einem selbst schon ein, dass gerade die Antike mit ihren Rhetorikschulen auf einen Pakt zwischen Dichter und vorbereitetem Leser vertrauen konnte; auf ein geheimes Einverständnis, wonach die immer wiederkehrenden gewalttätigen Bilder als Codes entschlüsselt werden konnten. Krieg zum Beispiel hatte einen ganz anderen Stellenwert.
"Mit Krieg verband man Sieg und Bewährung des Einzelnen, aber keinesfalls die Perspektive des Opfers oder erfahrenes Leid. Selbst Kriegsgefallene werden auf ihren Gräbern immer wie kämpfende Sieger gezeigt. Krieg war unumgänglich und wurde als Teil der eigenen Existenz akzeptiert."
Thukydides bevorzugte Fakten statt Ausschmückung
Präsentiert man Krieg heute eher als chirurgischen Eingriff, stellte man in der Antike das eigene Heroentum heraus - gerne durch literarisch wirksame Effekte. Martin Zimmermanns Leistung ist es, die unterschiedlichen Motive der Dichter und Geschichtsschreiber anhand unzähliger Beispiele aufzuzeigen. Mal ist es die politische Verstrickung des Autors, die ihn etwas beschönigen oder dramatisieren lässt. Dann ist da die Eitelkeit der Dichter, die sich spreizen und durch schockierende Details ihre Ausdruckskunst vorführen - Rhapsoden wie Homer, der mit narrativen Verfahren, heutiger visueller Kinokunst durchaus vergleichbar, von der Totalen auf das Close-up zoomt und zugleich Verhaltensweisen predigt:
"Homer vermittelte mithilfe seiner drastischen Schilderungen eine heroische Kampfbereitschaft, der man nacheifern konnte."
Die "Ilias" also, nichts anderes als ein Verhaltenskodex in ästhetisch ansprechendem Gewand? So ungefähr. Diese Erkenntnis ist freilich nicht neu. Aber dem Historiker Martin Zimmermann geht es doch um mehr. Gewohnt, ohnehin allen Quellen kritisch gegenüberzustehen, untersucht er unterschiedlichste antike Texte, privater und gesellschaftlich-politischer Intention: Grabinschriften, Papyri oder an Siegessäulen angebrachte Schilderungen. Biographischen der Historiographien. Er sieht in ihnen Erzählstrategien verwirklicht, die ganz andere Ziele verfolgen als die Realität abzubilden. Für die mythischen Stoffe gilt das sowieso. Aber auch antike Geschichtsschreiber, erfährt man, logen und erfanden, um mit ausgesuchter Grausamkeit ihr Publikum zu unterhalten. Herodot, der Vater der Geschichtsschreibung, mischte munter Mythen und Fakten. Das änderte sich etwas mit Thukydides, dem ersten, der sich von Herodots "fabulae" deutlich distanzierte und Fakten statt Ausschmückung bevorzugte. Trotzdem findet sich zur Erziehung der Griechen durchaus noch die eine oder andere Horrorgeschichte. Polybios zum Beispiel, eher ein Befürworter der historisch-nüchternen Analyse, dramatisiert bisweilen skrupellos. Das Schreckensregime des König Nabis in Sparta unterstreicht er etwa mit dieser Anekdote: König Nabis habe, wenn Besucher sich ihm näherten, seine Frau in Form einer ihr nachgebauten Statue neben sich gestellt. Unter ihrem Gewand waren lange Eisendornen versteckt.
"Wenn Nabis nun mit den Händen auf den Rücken der Frau drückte, durch den Mechanismus den Druck verstärkte und das Opfer immer näher an die Brüste heranziehen ließ, dann entrangen sich dem Unglücklichen unter Folter die entsetzlichsten Schmerzensschreie, und auf diese Weise brachte er viele um, die sich weigerten zu zahlen."
So blind dürften die Besucher allerdings nicht gewesen sein, dass sie eine Statue mit der echten Gattin verwechselten. Die erfundene Szene sollte schlicht Affekte erzeugen. Kurzum: In der Antike, das betont Martin Zimmermann immer wieder, wurzelt das bis heute zu beobachtende Phänomen, dass Gewaltbilder für verschiedene Zwecke eingesetzt und instrumentalisiert werden.
"Den Griechen wurde durch die Schilderung barbarischer Gewalt ein Interpretationsrahmen geboten, in dem die eigene Ordnung im Gegenbild verlässlich, vertraut und kalkulierbar erschien."
Falsch liegt also, wer in Zimmermanns Buch eine Geschichte der antiken Gewalt erwartet. Es geht dem Autor auch keineswegs darum, einer idealisierten Epoche die klassizistische oder humanistische Schminke zu entfernen, um in das wahre, das dunkle Gesicht der Antike zu schauen. Das haben andere längst erforscht. Ihn interessiert vielmehr die antike Kommunikation über Gewalt. Wie wurde darüber gesprochen? Wie wurde sie in Tragödien inszeniert? Warum diese unerhörte Detailversessenheit, mit der verwesende Leichen beschrieben werden und Eingeweide, Eiter und Blut unmittelbaren Ekel erzeugen?
"Sie wirken teilweise schon auf den ersten Blick übertrieben, unglaubwürdig, höchst artifiziell und fiktiv. Die Gräuelbilder werden bis ins Absurde gesteigert und schildern sogar physische Gewalt, die aus medizinischer Sicht unmöglich ist."
Auffallend ist bei solchen Beschreibungen, dass immer wieder auf die gleichen Bilder und Motive zurückgegriffen werde - so, wie Kriegsreporter das noch heute machen, wenn sie einen Konflikt in Szene setzen müssen, ohne dass die Zuschauer gleich gelangweilt oder geschockt umschalten. Sie greifen auf Bekanntes zurück. Und für den antiken Menschen war offenbar das Drastische vertraut. Sie unterhielten sich damit, wussten aber, dass diese Texte nichts über tatsächlich verübte Gewalt mitteilen. Würde man einen Römer in unsere Zeit verpflanzen und ihm sagen, er solle in einem kleinen, flimmernden Quadrat namens "Fernseher" einen Tarantino-Film schauen, könnte er ebenso wenig wie wir aus den antiken Texten etwas über die tatsächlich verübte Gewalt unter Tarantino-Zeitgenossen aussagen. Es sei denn, er hätte dazu das nötige Hintergrundwissen.
"Die antike Literatur offenbart dem Leser vielmehr soziale, politische und kulturelle Positionen, die mithilfe von Gewaltdarstellungen formuliert wurden, um der Gemeinschaft ethisch-moralische Konturen zu geben."
Warum aber eine Identitätsbildung gerade über Gewalt? Warum nicht über andere Themen? Zimmermann argumentiert, dass Gewalt als Ursprung jeder Ordnung schon immer eine besondere Stellung hat. Kein Gründungstext einer Kultur ohne die Schilderung von Gewalt. Hier ein Zeugnis aus der Zeit Assurbanipals, König des assyrischen Reiches im 6. Jahrhundert vor Christus:
"In heftigen Kämpfen schloss ich die Stadt ein und erstürmte sie, wobei ich 3000 ihrer Krieger niedermachte. Gefangene, bewegliches Gut, Rinder und Schafe schleppte ich fort. Viele Gefangene verbrannte ich, viele Krieger nahm ich lebend gefangen, einigen schnitt ich Arme und Hände ab, anderen Nase, Ohren und Hände, zahlreichen Kriegern riss ich die Augen heraus. Die Lebenden schichtete ich zu einem Haufen auf, die (abgeschnittenen) Köpfe zu einem weiteren. In die Bäume, die ihre Stadt umgaben, hänge ich ihre Köpfe. Ihre jungen Männer und Mädchen verbrannte ich. Die Stadt selbst zerstörte ich, riss ich ein und ließ ich in Flammen aufgehen."
Niederlagen werden zu Gottesstrafen
Wenn sich also eine Gesellschaft über ihre Haltung zum Thema Gewalt definiert, muss sie auch über einen Lesekodex verfügen, den jedes Mitglied der oberen Schicht, der Adressaten wie Autoren entstammen, entschlüsseln kann. Nach Zimmermann war das kein Problem.Wie Fernsehzuschauer heute, beobachtete man das Leid Anderer mit einem genüsslichen Schauer. "Schiffbruch mit Zuschauer" heißt dafür die berühmte, von Lukrez gefundene, vom Philosophen Hans Blumenberg viel später in einer eigenen Schrift weiter vertiefte Metapher. Lukrez:
"Nicht weil wohlige Wonne das ist, dass ein andrer sich abquält, sondern zu merken, weil es süß ist, welcher Leiden Du ledig."
Schön also, wenn es andere trifft. Aus diesem distanzierten Modus der Betrachtung lässt sich bis heute einiges an Gewalt gewinnbringend ertragen. Folgt man Martin Zimmermanns Abriss, beflügelten diese Erkenntnisse die gesamte Antike. Die Griechen mit ihrem "Gestrüpp aus Legenden, Novellen und Erfindungen", so der zitierte Althistoriker Helmut Berve, machten es vor. Die Römer machten es nach und verfeinerten diese Tradition. Interessant wird es besonders, wenn Niederlagen eingestanden werden mussten, weil sie das heroische Selbstbild störten. Die großen Schlachten, etwa jene gegen Hannibal bei Cannae im Jahr 216 v. Chr., bei denen Zehntausende Soldaten getötet wurden, drohten als kollektive Traumata auf der Gemeinschaft zu lasten, weshalb die findigen Geschichtsschreiber sie kurzerhand als kaum beeinflussbare Gottesstrafe interpretierten.
Mit dieser Umdeutung des Geschehens waren die Römer selbst, vor allem die Regeln, Gesetze und Grundzüge des politischen Systems, aus der Kritik genommen.
"Die Gefallenen blieben so in positiver Erinnerung. Ihr Tod signalisierte übermenschliche Leidensfähigkeit und Gewaltbereitschaft, für die eindrucksvolle Bilder gefunden werden mussten. So führt der Schreiber Livius die Leser direkt auf das Schlachtfeld am Tag danach:"
"Da lagen so viele tausend Römer, Fußvolk und Reiterei durcheinander, wie sie Zufall, Kampf oder Flucht vereint hatte. Einige versuchten blutüberströmt, mitten auf dem Kampffeld aufzustehen; ihre Wunden hatten sich in der Morgenkälte zusammengezogen, so dass sie aus der Ohnmacht erwacht waren. Besondere Aufmerksamkeit erweckte ein Numider, der noch lebend mit zerfetzter Nase und mit zerrissenen Ohren unter einem toten Römer lag und den man jetzt hervorzerrte. Da der Römer mit den Händen keine Waffe mehr halten konnte, war er wütend geworden, dass er seinen Feind mit den Zähnen zerfleischte; darüber war er gestorben."
Eine Verständigung über Regeln des Zusammenlebens
Noch im Sterben also zeigt sich der Römer als Rächer. Der Blick auf solche inszenierten Bilder aus der Antike schult einen für die gerade wieder virulente Debatte um Medialisierung von Gewalt. Und umgekehrt: Es scheint, dass Martin Zimmermann die Erkenntnisse aus den Forschungen dieses Zweigs für seine eigene Tiefenbohrung als Althistoriker nutzt. Vor allem aber brilliert er als Sammler, der eine vergangene Welt und die Feinheiten ihrer Kultur neu erstehen lässt. Manchmal hält er sich dabei etwas weitschweifig bei einzelnen Beispielen auf, die kleine Aufsätze sein könnten, ohne dass er sie am Ende im Großen und Ganzen einer Theorie über Kommunikationsstrukturen antiker Gewalt einspeiste. In ein Ordnungssystem mündet seine Studie nicht. Dafür macht er - nicht als einer der Ersten - für das Problem der Quellenkunde überhaupt bewusst. Statt allerdings, was bei der Materialfülle durchaus wünschenswert gewesen wäre, übersichtlich die behaupteten, wiederkehrenden Topoi aufzulisten, formuliert er manchmal arg vage Sätze, die im Kontext der zitierten Grausamkeiten sogar unfreiwillig komisch klingen:
"Man erzählte nichts über tatsächlich verübte Gewalt, sondern die Schilderungen dienten dazu, sich allgemein über Regeln des Zusammenlebens zu verständigen. Je nach persönlicher Einstellung konnte man den Darstellungen Glauben schenken - oder auch nicht."
Verstand auch mal jemand die Texte falsch und meuchelte munter los, mit Hinweis auf die Literatur? Und was genau waren nun die einprägsamen Chiffren und Textsignale, die jeder wiedererkannte? Die zeitliche Ferne und der große, hier untersuchte Zeitraum vom Orient und Ägypten über Griechenland, Rom und die Kaiserzeit bedingt freilich eine gewisse Spekulationsfreude bei den Diagnosen. Aber eine genauere, entschiedenere Formulierkunst hätte man sich doch manchmal gewünscht. Stattdessen wird Zimmermann nicht müde zu betonen, dass antike Menschen auch Menschen waren, durchaus ausgestattet mit Empfindungen.
"Man empfand einen ähnlichen Abscheu, aber auch die gleiche eigentümliche Neugier, die heutige Zeitgenossen bei Verkehrsunfällen oder anderen Unglücksfällen zu den Opfern hinzieht."
Fiktionssignale erkennen
Damit will er freilich dem Bild der grausamen Tyrannen im Zeitalter von Massenschlachten und -Exekutionen erst einmal entgegenwirken. Andererseits festigt er es mit seiner Darstellung und den ausgewählten Zitaten selbst. Irgendwo zwischen beiden Extremen muss man sich wohl die Antike als zwar gewalttätige Zeit vorstellen, nicht aber gewalttätiger als andere Zeiten. Zimmermann beruft sich dabei unter anderem auf den Stalinforscher Jörg Baberowski, der im 20. Jahrhundert einen Kulminationspunkt von Gewalt ausmacht. Weder sei der antike Mensch gewaltbereiter gewesen noch die Kriege zwischen den Polis oder zur Expansion Roms schlimmer als andere Kriege. Diese These überrascht auf den ersten Blick, relativiert sich aber im großen zeitlichen Raster. Anders sah es freilich mit der Gewalt innerhalb der Gesellschaft aus.
"Die Folterbänke wurden gespannt, die Bleigewichte, dazu Stricke und Peitschen hergerichtet, und alles hallte wider von der schauerlichen, grimmigen Stimme, wenn die Gesellen dieses traurigen Handwerks unter Kettengeklirr einander zuriefen: 'Halten, zuschließen, pressen, zudecken.'"
Ammian, ein römischer Historiker, lieferte diesen wohl ersten Einblick in das Innenleben einer Folterkammer. Und es kann einem schon anders werden, wenn man liest, wie Menschen in Kisten gelegt und ernährt wurden, so lange, bis ihre Exkremente hochstiegen und sich mit Maden vermischten und sie an einer Sepsis starben. Solche Quellen, betont Martin Zimmermann, seien aber eben auch extrem verdächtig. Er fordert auf, diese Texte als Narrative mit Vorbehalt zu lesen, ihre Fiktionssignale zu erkennen. Sie legten fest, welche Gewalt legitim war und welche nicht. Der Rückschluss auf die tatsächlich verübte Gewalt sei nahezu unmöglich. Wer weiß, ob die Wirklichkeit nicht sogar noch schlimmer war? In diesem gedanklichen Hin und Her eines historischen Verstehensprozesses wird man sich also unweigerlich bei der Lektüre bewegen müssen. Das mag diejenigen unzufrieden lassen, die von Wissenschaften Präzision erwarten. Geisteswissenschaftler sehen das als Preis dieser immensen Sammelarbeit, die zahlreiche Fälle politischer Propaganda präsentiert. So habe Marcus Antonius' besonders blutgierige Gattin Fulvia auf diese Weise Ciceros Kopf behandelt:"Sie nahm den Kopf, bevor man ihn wegtrug, in ihre Hände, schändete und bespie ihn und zog die Zunge heraus, um sie mit ihren Haarnadeln zu durchbohren, wobei sie viele grausige Späße machte."Dem politischen Gegner mussten, um ihn zu diffamieren, Details unterstellt werden, die das alltägliche Morden übertrafen. Wahnsinn zum Beispiel. Wer solche Passagen sucht, findet sie reichlich, aber nicht reißerisch aufgemacht, oft auch nur zusammengefasst. Martin Zimmermann nimmt das Dilemma, von dem er anfangs sprach, selbst ernst. Gewalt und was sie mit Menschen macht, interessiert ihn schließlich auch allgemein. Dazu verwirft er kurzerhand Sigmund Freud und dessen Theorie vom immanenten Aggressionstrieb zugunsten aktueller Forschungsergebnisse aus der Neurobiologie. Demnach strebe der Mensch grundsätzlich nach Solidarität. Und gerade, weil er so sehr danach strebe, reagiere er auch besonders empfindlich, wenn die Vergemeinschaftung gestört werde. Das gelte insbesondere für Männer, die hirnphysiologisch gesehen stärker auf die Störung einer Bindung reagierten. Exkurse solcher Art hätte man sich deutlicher ausgearbeitet gewünscht. Sie mögen aber belegen, warum Gewalt im Alltag antiker Zeitgenossen so präsent war, durch Inschriften, Fluchtafeln oder Gerichtsreden, selbst wenn die Kriege woanders stattfanden: Die Texte spiegelten, so kann man es wohl paradoxerweise formulieren, die große Sehnsucht nach Sicherheit und Vertrauen. Und damals wie heute, so Zimmermanns Resumee, sollten wir eben genau hinschauen, um Inszenierung und die Absicht hinter den gezeigten Gewaltbildern erkennen zu können. Dafür sensibilisiert seine umfangreiche Studie.