Frühstück am Tagebau. Doch die Bagger rattern nur in meinem Kopf. Vor mir liegt eine weite blaue Wasserfläche, Wellen kräuseln sich im Wind. Auf der Insel gegenüber brütet der Seeadler, sagt die Wirtin.
"Wir haben durchgehalten die Jahre mit dem Krach und dem Dreck. Und sag ich immer: Das ist jetzt die Belohnung, haben wir so einen schönen See gekriegt. Das ist jetzt wie Urlaub."
Heidrun Hänisch betreibt mit ihrer Familie ein kleines Hotel in Pouch, am Rand des riesigen Bitterfelder Tagebaus, der nun ein See ist, die Goitzsche. Die jetzige Terrasse war Auslauf für die Tiere eines Bauernhofs, dicht am Abgrund. 70 Meter ging es in die Tiefe.
"Als wir angefangen haben, unser Hotel zu planen, mussten wir ja auch zu allen möglichen Institutionen und da wurde dann gesagt: "Ihr kriegt dann irgendwann mal Wasser". Ich sage: "Na gut, ja". Wir konnten uns das nicht vorstellen. Ja, ist so. Auch als wir 1993 unser Hotel eröffnet haben, waren die Bagger und die Züge noch da. Und wenn dann Gäste spätabends im Finstern gekommen sind und früh aufgestanden, haben die gesagt: "Was habt Ihr denn hier in der Nähe? Ist hier eine Disco oder eine Schweineanlage? Irgendwas quietscht." Und dann gucken sie raus und sehen das große Loch. Das war dann auch eine Überraschung."
Wer wissen will, wie die Gegend noch vor zehn, 15 Jahren ausgesehen hat, geht in Bitterfeld ins Kreismuseum, sieht dort auf Luftbildern die Tagebaue, wie Wunden in der Landschaft.
Nun auf der Südseite des Sees, gemeinsam mit Heidrun Heidecke.
"Wir stehen jetzt an der Spitze der sogenannten Tonhalde. Ist eine Halde, auf der ist tonhaltiges Material abgelagert worden, das wollte man eigentlich zur Sanierung nutzen. Und wie das manchmal so war in der DDR, man wollte zwar was tun, aber man kam nicht dazu. Also blieb diese Halde liegen, ist aber trotzdem nie beförstert worden. Das heißt, es sind dort keine Bäume gepflanzt worden. Und wenn Sie jetzt rüber schauen, sehen Sie, dass der Wald viel dichter ist, als der Wald, da wo der Förster Hand angelegt hat. Dieser Wald ist völlig von alleine gewachsen, ist dominiert von Birken, es gibt auch Kiefern dazwischen, es gibt auch mal eine Eberesche dazwischen. Aber es ist ein reiner Naturwald jetzt."
Die Landschaft der Natur zurückgeben
Und Teil der Goitzsche-Wildnis. Heidrun Heidecke sieht jetzt das wachsen, wofür sie sich vor Jahren als Umweltministerin von Sachsen-Anhalt eingesetzt hatte. Damit der neue See nicht ringsum zugebaut wird, haben BUND und Deutsche Bundesstiftung Umwelt große Flächen gekauft, östlich von Bitterfeld. Man kann hier wandern, Rad fahren und erleben, wie sich die Natur die geschundene Gegend zurückerobert. Dabei gibt es durchaus Überraschungen, wie den Sandtrockenrasen Petersroda.
"Als wir gekauft hatten, war er sehr, sehr trocken, wirklich ein Sandtrockenrasen. Und da hat man uns immer schon gewarnt: Das Wasser steht bestimmt man 20 Zentimeter unter Flur, dann wird es eine feuchte Wiese werden. Haben wir gesagt: Es soll ja Wildnis werden, egal, ob nun trocken oder feucht. Tja, wenn man jetzt schaut, dann sehen Sie, mittlerweile haben wir Stellen, da steht das Wasser 1,80 m über Flur. Da brüten jetzt die Kraniche. Da hat man sich also mit dem Grundwasseranstrom deutlich verrechnet. Aber auch da gilt: Es ist zwar schade um die 100 ha Trockenrasen, davon sich jetzt halt 30 bis 40 Hektar Kranichbrutgebiet und Wassergebiet. Aber auch das gehört dazu, das ist Dynamik in einer vernutzten Landschaft, die wir einmal zerstört haben. Und wenn wir diese Landschaft sozusagen der Natur zurückgeben wollen, dann müssen wir auch akzeptieren, dass da eben anstelle von Trockenrasen mal ein Feuchtgebiet entsteht."
Unser nächster Stopp ist am Ufer des Sonnentals, ein Flachwasser-Arm der Goitzsche.
"Man sieht hier große Schilfbestände, Binsenbestände, aber auch offene Flachwasserbereiche, es gibt auch schon Schwimmrasen, aus der Zwiebelbinse, was so auf dem Wasser schwimmt. Und hier fühlen sich jede Menge verschiedene Vögel wohl. Wir hatten hier Kranich-Bruten drauf, die Rohrweihe brüten natürlich hier. Wir sehen jetzt regelmäßig Bekassinen, Grünschenkel, Rotschenkel, Waldwasserläufer, Flussuferläufer. Hier stehen natürlich auch die Graureiher, nachmittags kommen die Gänse."
Schon seit 1880 wurde nach Braunkohle gegraben, anschließend der verkippte Abraum aufgeforstet. So gibt es auch etliche kleinere Seen und die ältesten Waldgebiete sind auch schon 70 Jahren alt. Das führt zu anscheinend paradiesischen Zuständen, mitten in der eben noch toten Landschaft.
"Wir haben über 40 Libellen-Arten, das ist mehr als die Hälfte von denen, die es in ganz Deutschland gibt, die sich hier in den einzelnen Gewässern rumtreiben. Weil die Gewässer sehr verschieden sind. Wir haben Fließgewässer, Standgewässer, flache Gewässer, große und kleine Gewässer, mit Schwimmblättern und ohne. Und jede Art hat ja so ihren speziellen Raum, wo sie hin will. Und die Ornithologen haben mal vor ein paar Jahren durchgezählt, da waren es über 160 verschiedene Brutvogelarten. Wenn sie sich jetzt umdrehen, da sind schon wieder ältere Baumbestände, da sind die Spechte drin. Und direkt daneben haben Sie die Wasservögel. Und dazwischen auf der Fläche die Heidelerche, die ein Offenlandvogel ist. Wasser, Wald, Offenland.
Und von allen diesen Lebensraumtypen haben wir die Arten hier, egal ob bei den Vögeln, bei den Heuschrecken oder anderen Arten. Und das macht eben auch die Wildnis aus. Das heißt, wir werden jetzt nicht mit dem Rasenmäher ran gehen und versuchen, in den nächsten 30 Jahren diese Fläche so offen zu halten. Man sieht schon, da steht man eine kleine Kiefer oder eine halbhohe Birke. Irgendwann in 50 Jahren wird das ein halb-offener Wald sein. Aber da woanders an den Steilkanten der Boden noch rutschen kann, entsteht da dann wieder Offenland."
Die neue Welt von Bitterfeld
Andere Regionen sind von Natur aus mit Seen und Wäldern gesegnet. Bitterfeld musste erst durch die Hölle. Ich kann mich noch an den Mief erinnern, an die staub-verhangene Sonne, die toten Flüsse. Einst war das Rattern und Quietschen der Bagger bis auf den Markt zu hören. Jetzt sind es nur wenige Schritte bis zur Uferpromenade.
Ein langer Rad- und Wanderweg mit Spielplätzen, Strandcafés, Restaurants, Bade- und Surfer-Stränden. Im Seglerhafen schaukeln die Boote. Die neue Welt von Bitterfeld. Dazu gehören auch etliche große Kunstwerke in der Landschaft. Wie der Pegelturm, der als riesen-hohe Schraube senkrecht aus dem Wasser ragt.
"Dieser Pegelturm ist mit der Flutung aufgeschwommen. Die Bitterfelder konnten daran sehen, wie das Wasser stieg. Denn eigentlich hat sich das keiner vorstellen können, dass das mal ein See wird nach den 50 Jahren Tagebau."
Oben auf einer bewaldeten Abraum-Halde steht der Bitterfelder Bogen. Ein ungewöhnlicher Aussichtsturm, kein Turm, sondern gestaltet wie ein Brückenbogen, der Aufstieg erinnert an Förderbänder. Von oben geht der Blick weit übers Land. Dübener Heide, Völkerschlachtdenkmal in Leipzig, die Goitzsche zu Füßen, das gegenüberliegende Hochufer mit den Orten Pouch und Mühlbeck. Dahinter den großen Muldestausee, auch ein ehemaliger Tagebau, den sieht man nicht. Die beiden alten Dörfer Pouch und Mühlbeck liegen auf einer schmalen Landbrücke zwischen Goitzsche und Muldestausee. Sie hatten die ratternden Braunkohle-Bagger erst auf der einen Seite, dann auf der anderen. Und wir sehen auf eine Halbinsel und dort aufgeschüttete Sandkegel. Horst Tischer vom Förderverein Goitzsche:
"Es gab damals im Bauhaus in Dessau jemanden, der vom industriellen Gartenreich gesprochen hat und hat uns da mit einbezogen, Professor Kuhn. Und wir haben dann eine Entscheidung getroffen, dass wir eine Landschaftsgestaltung machen, die an den Bergbau erinnern soll. Wenn Sie die Hügel und die Kegel da alle sehen, so sah das in der Grube überall aus. Wenn der Absetzer dann weiter gefahren ist, dann hat der da so einen Kegel hinterlassen, der lag da und nach ein paar Jahren war er eingeebnet. Und so sind die Kegel auch gestaltet, dass sie einfach der Natur überlassen werden. Also, sie werden nicht mehr so aussehen wie ursprünglich."
Die größte europäische Filmfabrik
Beim Blick über die Stadt Bitterfeld-Wolfen, so heißt sie jetzt, fällt auf: Die alten stinkenden Chemieanlagen sind weg. Es gibt neue Werke, allerdings ohne grüne Rauchfahnen, ohne Gestank und Dreck. In Wolfen erinnert das Industrie- und Filmmuseum an die Zeit, als hier Industriegeschichte geschrieben wurde. AGFA Wolfen hat zwar nicht den Farbfilm erfunden, aber seine Herstellung revolutioniert.
"1909 gebaut, 1910 nehmen wir schon die Produktion auf und sind 1912 schon größte europäische Filmfabrik. Und wir bleiben das auch bis 1964, größte europäische, zweitgrößte der Welt."
Hinter Kodak. AGFA konnte sich an seinen Berliner Standorten Rummelsburg und Treptow nicht ausbreiten und zog nach Wolfen. Ein riesiges Werk, mit Hallen dicht an dicht, entstand auf dem platten Feld. Das meiste ist abgerissen. Eine Halle ist nun Museum und zeigt mit Originalmaschinen am Originalplatz, wie Filmmaterial hergestellt wurde. Weltweit einmalig.
Tür zu und Licht aus. Nur zwei kleine Funzeln schimmern grün. So wurde gearbeitet?
"Ja, denn der Film darf ja nicht belichtet werden. Und jetzt wird es besonders kompliziert. Hier wird ja der Film gemixt. Und der Farbfilm in Wolfen hatte über 100 verschiedene Chemikalien, die jetzt punktgenau eingearbeitet werden müssen. Also egal, welchen Schlauch Sie in die Hand nehmen, welchen Hahn Sie öffnen, die Temperatur muss stimmen, die Literzahl muss stimmen und Sie müssen punktgenau – wie beim Kochen – zum richtigen Moment einrühren."
Im Dunkeln. Manfred Gill zeigt noch ähnliche Arbeitsplätze, zum Beispiel die optische Qualitätskontrolle, auch bei Schummer-Licht.
"Die Rollen werden hier eingespannt, Licht schwach rot oder schwach grün, wie der Film nicht reagiert, läuft um und Sie schauen nach Leistung auf diese Stelle. Sehen Sie einen offensichtlichen Fehler, eine Blase oder Schramme, stoppen und raus schneiden. Aber nicht wieder zusammen kleben, wir wollen ja keine Klebestelle. So werden aus der großen Rolle entsprechend viele kleine."
Oder die Maschine, die dem Film seine seitliche Perforation verpasste.
"In der Mitte ist die Stanze, die macht ein Loch links, ein Loch rechts. Wenn ich das Ding jetzt anschmeiße, dann denken Sie an so'n dunklen Raum mit mindestens 20 solcher Geräte. Und 1910 ist das Wort Lärmschutz nicht erfunden, das gibt es nicht. Und dann denken Sie bitte an Ihre Ohren mal 20, mal 8 Stunden."
Region im Wandel
Wer in dieser letzten Fabrikhalle in Wolfen war, der sieht die kleine Filmpatrone mit Respekt. Die Filmpatrone, die wir gar nicht mehr brauchen, im digitalen Zeitalter.
"Wer macht sich denn früh 'n Kopp, wenn er ein Brötchen isst? Das ist in fünf Minuten weg, aber was gehört dazu, bis ein Brötchen auf den Tisch kommt, was ist da für Arbeit drin. Und genauso ist es hier. Es ist eben nur eine unscheinbare schwarze Patrone, aber was gehört dazu. Denn da drauf drücken, das ist ja im Nu gemacht und sich vielleicht aufregen, wenn das Bild nichts geworden ist."
Die Radroute Kohle-Dampf-Licht erschließt die Region im Wandel. Zwischen Lutherstadt Wittenberg und Bitterfeld-Wolfen.
Die Dampfsirene im Kraftwerk Zschornewitz. In den 1920er-Jahren das größte und modernste der Welt.
"1915 am 19. März war Freigabe und am 24. März war Spatenstich. Der erste Strom wurde im Dezember nach der Berlin geliefert. Innerhalb von 9 Monaten wurde aus dem Wald ein Kraftwerk gestampft."
Auch hier steht nicht mehr viel. Ein Kühlturm und eine Turbinenhalle, jetzt Museum mit riesigen, 90 Jahre alten AEG-Dampfturbinen.
"Ich sag immer: Die hat ihr Geld verdient. Die würde heute noch laufen, rein von der Pflege und vom Material her."
Petra Peller kann man glauben, das war ihr Arbeitsplatz.
"Ich habe Dampfturbinen gefahren, ich habe praktisch Strom erzeugt."
Um den Kraftwerksriesen zu füttern, kam jede Stunde ein Kohlezug aus dem Tagebau. Doch im Winter war die Kohle mitunter festgefroren in den Waggons.
"Früher kriegten wir lange Stande, da war vorne ein Spachtel dran. Damit wurde die Kohle ausgestoßen."
Bis einer auf die Idee mit dem Strahltriebwerk kam, das im Museum liegt, von einem Jagdflugzeug.
Das ist noch ein Original. Der Zug fuhr langsam durch und durch diese Wärme wurde die Kohle auch gleichzeitig getrocknet, die fiel dann von alleine raus. War dann für die Leute, die dort gearbeitet haben, schon eine Erleichterung.
Konzertarena Ferropolis
Mit dem Kraftwerk entstand eine der ersten Werkssiedlungen Deutschlands, eine idyllische Gartenstadt. Kleine Häuschen und Reihenhäuser, mit Garten und Hühnerstall.
"Wir sind jetzt auf einem sogenannten Absetzer. Ein Absetzer hat im Braunkohle-Tagebau den Abraum wieder verkippt und verteilt, den man ja erst mal mit Eimerkettenbaggern, Schaufelradbaggern abheben musste, bevor man an das Kohleflöz heran kam. Und diese Absetzer haben sehr lange Förderbänder, sehr lange Ausleger. Und auf so einem sind wir jetzt hier und haben einen schönen Blick über den Gremminer See, der früher der Tagebau Golpa Nord war, und auch über die großen Bagger und Absetzer, die hier versammelt sind. fünf Stück, insgesamt 7.000 Tonnen Stahl, in Ingenieurskunst gegossen."
Ferropolis. Eine lange Halbinsel ragt in den Gremminer See. Nach Ende der Kohleförderung 1990 sollten hier große Tagebau-Geräte verschrottet werden. Und Bauhaus-Studenten aus Dessau träumten, ob man damit nicht was machen könne, vielleicht ein Café oben auf einem Bagger. Es wurde viel größer: eine Konzert-Arena. Die fünf Kolosse aus Stahl bilden die Kulisse und im Laser-Licht scheinen sie zu tanzen. Thies Schröder berichtet von Konzerten mit tausenden Besuchern, von Techno, Metal bis Klassik.
"Was viele noch großartiger finden, sind die Festivals. Dann bleibt man hier drei Tage, hat ein ganz buntes Programm, je nach Musikrichtung, eher "elektronisch-indie" beim "MELT!" oder HipHop/Rap beim "SPLASH!". Über 100 Bands und Künstler hier, die auf bis zu fünf Bühnen hier spielen. Das ist dann eine sehr wuselige Stadt."