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Säkularisierung im Iran
Islamische Republik ohne islamische Mehrheit

Der Iran bezeichnet sich selbst als „Islamische Republik“, laut einer neuen Studie hat das Land aber keine mehrheitlich islamische Bevölkerung mehr. 40.000 Iranerinnen und Iraner wurden befragt, und nur rund 40 Prozent von ihnen verstehen sich als muslimisch.

Von Christian Röther |
Zwei iranische Frauen in Teheran vor einer iranischen Flagge, die als Graffiti an eine Wand gesprüht ist
Der Iran gilt weltweit als der schiitische Staat schlechthin - aber laut einer neuen Studie versteht sich die Mehrheit der Bevölkerung gar nicht als muslimisch (picture alliance / dpa / EPA / Abedin Taherkenareh)
Der Iran gilt weltweit als der schiitische Staat schlechthin – weil der schiitische Islam die Staatsreligion ist, weil er Politik, Justiz und Gesellschaft bis in den letzten Winkel prägt und dominiert – vor allem seit der Islamischen Revolution im Jahr 1979. Aber: Die Bevölkerung versteht sich gar nicht als mehrheitlich schiitisch – zumindest laut einer neuen Studie. Darin bezeichnet sich nur ein knappes Drittel der Bevölkerung als schiitisch. Dann folgen mit 22 Prozent schon die "Nones", also diejenigen, die sich keiner Religion oder Weltanschauung zugehörig fühlen. Weiter geht es mit neun Prozent Atheisten, acht Prozent Zoroastrier, sieben Prozent Spirituelle, sechs Prozent Agnostiker. Erst dann kommen die sunnitischen Muslime (fünf Prozent) und die islamischen Mystiker, die Sufis, mit drei Prozent. Die kleinsten Gruppen sind Humanisten, Christen, Bahai, Juden und "Sonstige".

Offizielle Zahlen der Regierung weichen ab

Für Menschen, die sich mit dem Iran auskennen, sei diese Statistik nicht so überraschend, sagt Pooyan Tamimi Arab, Religionswissenschaftler an der Universität Utrecht in den Niederlanden. Er ist einer der beiden Autoren der Studie. Tamimi Arab und sein Kollege sprechen von einer "großen säkularen Verschiebung". Einzelstudien würden das schon lange zeigen, nur hätten bislang großangelegte Meinungsumfragen und -forschung gefehlt, um die Ergebnisse zu bestätigen.
Andere repräsentative Studien kamen bislang zu gegenteiligen Ergebnissen. So hieß es vom renommierten Pew-Institut vor zwölf Jahren, dass der Iran zu 99,4 Prozent schiitisch sei. Das deckt sich mit den offiziellen Angaben der iranischen Regierung – nicht aber mit den Zahlen der beiden Forscher aus den Niederlanden. Laut ihrer Studie verstehen sich nur 40 Prozent der Menschen im Iran als muslimisch, wenn man Schiiten, Sunniten und Sufis zusammenrechnet. Pooyan Tamimi Arab hält daher nicht viel von den älteren Studien.
Die seien bedeutungslos. Denn, wenn man Menschen in einem autoritären Staat wie dem Iran an der Tür oder am Telefon befrage, dann würden die Menschen ihre tatsächlichen Einstellungen zumeist nicht preisgegeben, da mit Repressionen rechnen müssten.

Wie funktioniert eine Umfrage in einem autoritären Staat?

Wie also kamen Pooyan Tamimi Arab und sein Kollege Ammar Maleki an genauere Umfrageergebnisse? Indem sie die Befragten über das Internet erreichten und ihnen Anonymität garantierten.
75 Prozent der Iraner über 18 nutzen soziale Netzwerke wie Twitter, Instagram, WhatsApp und Telegram, sagt Ammar Maleki, Politikwissenschaftler an der Universität Tilburg. Über diese Netzwerke haben die beiden Forscher Tausende für ihre Studie akquiriert – Oppositionelle genauso wie Regierungstreue, sagen sie. Sie haben die Daten bereinigt und gewichtet, um möglichst repräsentative Zahlen zu erhalten, so Maleki.
40.000 Antworten haben sie schließlich ausgewertet – um festzustellen, dass die "Islamische Republik Iran" keine islamische Bevölkerungsmehrheit mehr hat. Und dieser Trend hin zu religiöser Diversität und auch zu Nicht-Religiosität - dieser Trend werde sich weiter fortsetzen, meint Pooyan Tamimi Arab. Weil die Säkularisierung unter jungen Leuten besonders ausgeprägt sei.

Nur 15 Prozent der Iraner befürworten die Todesstrafe

In einer weiteren Studie haben die beiden Forscher 20.000 Antworten zur Todesstrafe ausgewertet. Der Iran ist gemessen an der Bevölkerungszahl das Land mit den meisten Hinrichtungen weltweit. Öffentliches Erhängen, Erschießen oder Steinigen stehen auf der Tagesordnung. Die Todesstrafe wird auch bei Delikten wie Gotteslästerung oder Apostasie vollstreckt – also Abfall vom Islam. Die Anwendung der Todesstrafe wird vom iranischen Regime begründet mit dem islamischen Recht, der Scharia. Die Bevölkerung sieht das allerdings offenbar ganz anders: Nur rund 15 Prozent der Menschen im Iran sprechen sich für die Todesstrafe auf Grundlage der Scharia aus, so der Religionswissenschaftler.
Um die säkularen Trends im Iran zu erforschen, setzten die beiden Wissenschaftler allerdings nicht nur auf Umfragen, sondern auch auf andere Daten: etwa Statistiken zu Vornamen. Mit dem Ergebnis: Religiös geprägte Vornamen wurden im Iran in den vergangenen 20 Jahren immer seltener vergeben, wie etwa Muhammad, Ali, Amir Ali oder Hussein.
Die beiden Forscher wollen mit weiteren Studien dem Rest der Welt ein, wie sie meinen, angemesseneres Bild der iranischen Gesellschaft vermitteln, sagt der Politikwissenschaftler Ammar Maleki.
Beide Forscher arbeiten in den Niederlanden, beide sind aber im Iran geboren, Maleki hat 30 Jahre dort gelebt. Sie sagen, sie wollen mit ihren Studien auch zu politischen Veränderungen im Iran beitragen, indem sie den Menschen dort eine Stimme geben – und sei es in Form einer Religionsstatistik.