Die Szene sorgte im Sommer 2016 weltweit für Aufregung. An einem Strand in Nizza zwangen vier Polizisten eine Frau, Teile ihres Burkinis auszuziehen, ihres islamischen Ganzkörperbadeanzugs. Den hatten einige französische Badeorte zuvor an ihren Stränden verboten. Für die Kultursoziologin Monika Wohlrab-Sahr ein Beispiel dafür, wie von staatlicher Seite die Grenzen des Religiösen bestimmt werden:
"Interessant ist ja, dass an der Stelle eben Grundsatzfragen verhandelt werden, wenn auch auf eine etwas vielleicht merkwürdige Weise. Nämlich Fragen der Loyalität gegenüber dem Staat und dass diese Form der französischen Säkularität, also der Laizität, wie die Franzosen das nennen, eben sehr rigide zur Geltung gebracht wird. Im Sinne von, wer hier zu dieser Nation gehört, wer loyal ist zu dieser Nation, der darf sich auch in der Öffentlichkeit nicht mit religiösen Insignien zeigen und der Burkini ist dann so bewertet."
Mit den Grenzen des Religiösen befassen sich Monika Wohlrab-Sahr und rund 50 weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einem Kolleg an der Uni Leipzig. Religions-und Sozialwissenschaftler, Juristen, Historiker und andere sind darunter. Acht Jahre lang will das internationale Team Prozesse der Säkularisierung erforschen. "Multiple Secularities" heißt das Projekt, multiple Säkularitäten. Der Begriff Säkularisierung meint in unserem Sprachgebrauch zumeist: Einflusszonen von Religionen werden verweltlicht.
Für Monika Wohlrab-Sahr sind Säkularitäten Prozesse, "in denen gesagt wird: 'Okay, so weit geht die Religion, so weit nicht', oder in denen die sozusagen auch religiösen Akteure sagen: 'Das ist unser Raum. Da soll der Staat nicht hineinregieren. Das ist unterschieden von der Kultur.' Oder was auch immer. Also die Punkte, wo solche Grenzen, solche Grenzlinien bestimmt werden, die interessieren uns insbesondere - und das ist eine Arbeitsdefinition, die ist, Säkularität ist dort, wo es um solche Grenzziehungen geht, wo die Religion zu etwas anderem in Beziehung gesetzt wird."
Weltweite Konflikte über den Geltungsbereich der Religion
Die Forscher betrachten Säkularität dementsprechend nicht als eine exklusive Errungenschaft der westlichen Moderne. Sondern sie sagen: Säkularitäten gab es schon vor vielen Jahrhunderten, auch außerhalb von Europa. Monika Wohlrab-Sahr hat das Projekt zusammen mit dem Religionshistoriker Christoph Kleine initiiert. Er befasst sich mit der Säkularität im vormodernen Japan und kritisiert, dass man sich heute in Deutschland zu sehr auf den Islam konzentrieren würde, wenn es um die Grenzen des Religiösen ginge:
"Dadurch übersieht man natürlich leicht, dass es überall auf der Welt, auch in westlichen Gesellschaften, in ostasiatischen, scheinbar sehr säkularen Gesellschaften, Konflikte darüber gibt, wie weit sozusagen der Geltungsbereich der Religion reicht. Also es schwelt und gärt sozusagen an allen Ecken und Enden überall in der Welt und lässt sich eben nicht auf ein Islamproblem sozusagen reduzieren. Und ich glaube, das ist auch wichtig: Das ist ein Teil natürlich auch der Aufklärungsarbeit, die so ein Projekt wie das unsere leisten sollte."
Gerichte setzen Christen Grenzen
Christoph Kleine verweist darauf, dass es auch zwischen deutschem Staat und Christentum offene Punkte gibt, die ausgehandelt werden müssen: So wollen manche Eltern ihre Kinder nicht in staatliche Schulen schicken, sondern sie zu Hause unterrichten - in Einklang mit ihren religiösen Überzeugungen. Das kollidiert jedoch mit der Schulpflicht:
"Es gab eben kürzlich diesen Fall einer Pädagogin, die einer christlichen Sekte entstammte, die ihre Schüler geschlagen hat, regelmäßig und systematisch und dafür gerichtlich belangt wurde, und die in ihrer Begründung für ihr Verhalten eben ganz dezidiert darauf verwiesen hat, dass für sie die Heilige Schrift eben der Maßstab für die Pädagogik sei und nicht irgendeine staatliche Regelung."
Der Staat musste die Grenzen des Religiösen hier also gerichtlich durchsetzen. Das zeigt: Die Säkularisierung ist nichts Abgeschlossenes, sondern die Grenzen des Religiösen werden immer wieder neu verhandelt. Und das teilweise auch zugunsten des Religiösen: Religionen können einmal verlorenen Einfluss zurückgewinnen. Als Beispiel dafür nennt Monika Wohlrab-Sahr einige ehemals kommunistische Länder wie Polen oder Russland.
Auch der "Islamische Staat" kann die Grenzen zwischen Religiösem und Weltlichen nicht aufheben
Drastischer stellt sich die Grenzverschiebung beim sogenannten Islamischen Staat dar. Dessen Ziel sei es, sagt Wohlrab-Sahr, "die Dokumente der Grenzziehung zu vernichten. Bibliotheken zu zerstören, Museen zu zerstören, das heißt hier, Geschichte zu vernichten. Das sind natürlich die heftigsten, die brutalsten sozusagen Ereignisse, mit denen wir es im Moment zu tun haben."
So will der Islamische Staat das komplette öffentliche und private Leben unter die Kontrolle seines Islams bringen. Er will also die Grenzen maximal verschieben, zugunsten seiner Religion, zuungunsten des Säkularen. Christoph Kleine ist aber überzeugt: Es ist unmöglich, die Grenzen zwischen Religiösem und Weltlichem aufzuheben, diese Idee beerdigen zu wollen:
"Diese Idee stirbt nicht mehr und von daher kann ich mir nicht vorstellen, dass es möglich ist, heute sozusagen in einen Zustand zurückzufallen, wenn es den denn überhaupt jemals gegeben hat, also in dem alles religiös ist oder auch nur alles säkular. Also auch das kann ich mir schwer vorstellen, aber vielleicht leichter, als dass alles religiös ist."
Denn eine vollständig säkulare Welt würde in der Definition der Leipziger Forscher nicht nur bedeuten, dass es keine Religion mehr gibt, sondern dass es keine Idee von Religion mehr gibt.