Die ehemalige Hockey-Nationalspielerin Anne Schröder erinnert sich noch genau an die Szene vom Sommer 2024 bei den Olympischen Spielen in Paris. Während einer Auszeit brüllte Bundestrainer Valentin Altenburg die Spielerin an: "Anne, halt die Fresse und komm her, das nervt mich. Meine Güte, jetzt reiß dich zusammen." Die Szene wurde in den Medien im Anschluss vielfach diskutiert.
Sie selbst habe das in dem Moment gar nicht so wahrgenommen, berichtet die dreimalige Olympiateilnehmerin und über 240-fache Nationalspielerin: "Ja, in der Situation ist man so voller Adrenalin, voller Emotionen, da hat man eigentlich gar nicht die Möglichkeit, so lange darüber nachzudenken." Sie habe einfach funktioniert. Erst später, durch die TV-Aufnahmen und öffentliche Diskussionen, habe sie das Ausmaß der Situation erkannt.
Kontext ist wichtig - Grenzen aber auch
Schröder ist nicht nur Leistungssportlerin, sondern auch studierte Psychologin. Als diese betrachtet sie solches Verhalten kritisch: "Als Psychologin hätte ich wahrscheinlich gesagt, wie kann der denn nur seine Spielerin, seine Führungsspielerin da so anschreien, so unsachlich, so aus aus dem Impuls heraus." Sie betont jedoch, dass es im Leistungssport „ab und zu mal normal“ sei. Trotzdem stellt sie klar: „Das bedeutet nicht, dass ich sage, dass das so bleiben soll oder dass ich das immer gutheiße.“ Im Nachgang habe sie das Verhalten mit dem Trainer besprochen und ausdiskutiert.
Katrin Kauschke ist Vizepräsidentin Leistungssport im Deutschen Hockey-Bund und ebenfalls frühere Olympiateilnehmerin. Die Funktionärin betont die Wichtigkeit des Kontextes und der generellen Beziehung zwischen Trainer und Spielerin. Solche Ausdruckweisen sollten nicht unbedingt benutzt werden, es gebe sicherlich auch einen gesünderen Umgang damit, sagt Kauschke, die auch Medizinerin ist.
Altenburg ist inzwischen nicht weiter Bundestainer der Hockeyfrauen. Die Entscheidung, das Amt des Bundestrainers niederzulegen, sei seine persönliche gewesen, sagt Katrin Kauschke. Sie betont, dass diese Entscheidung nicht direkt durch den Vorfall mit den lauten Äußerungen gegenüber einer Spielerin beeinflusst wurde. "Natürlich gab es Gespräche, aber die sind sicherlich nicht so gewesen, dass wir ihn jetzt wegen dieser Sache nahegelegt hätten, sein Amt abzugeben."
Safe Sport Code soll Athleten und Athletinnen schützen
Eine solche Situation wie bei den Olympischen Spielen ist eines von zahlreichen Beispielen für grenzüberschreitendes Verhalten, das nicht unbedingt strafrechtlich relevant ist. Hier setzt der „Safe Sport Code“ an, ein neues Regelwerk des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), das Athleten und Athletinnen besser schützen soll. Der Code soll aber auch Verantwortlichen die Möglichkeit geben, dass sie verbale oder körperliche Grenzüberschreitungen klar sanktionieren können.
Auf seiner Mitgliederversammlung Anfang Dezember will in einem ersten Schritt der DOSB den Code für seinen Verantwortungsbereich implementieren. Landessportbünde und Fachverbände sollen folgen. Langfristig sollen sichere Strukturen im Sport geschaffen werden, die eine gesunde Entwicklung der Athletinnen und Athleten gewährleisten Trainerverhalten wie das Nötigen von Athletinnen und Athleten zu Trainingseinheiten oder Wettkämpfen trotz Verletzungen, das Senden unangemessener Nachrichten (z.B. sexistische Bemerkungen) oder das Anschreien und Erniedrigen von Sportlern vermieden werden.
Kauschke begrüßt diese Entwicklung: „Es ist eine große Hilfe, dass es genaue Regeln gibt, wie von Verwarnung bis strafrechtlicher Verfolgung zu handeln ist.“ Für den konkreten Fall hätte sie aber auch mit dem Safe Sport Code keine anderen Umgang gefunden.
Schröder lobte die Initiative ebenfalls, sieht jedoch die Umsetzung als herausfordernd an: „Die Theorie ist einfacher als die Praxis, weil der Kontext und mehr als nur die Worte berücksichtigt werden müssen.“ Die Diskussion zeigte auch einen Wandel im Leistungssport auf. Schröder erlebte zu Beginn ihrer Karriere noch häufig harsche Kritik: "'Anne, tu deinen Scheiß-Arsch runter', wurde durch die gesamte Halle geschrieen." Heute agierten Trainer und Trainerinnen bewusster, hat Schröder festgestellt: „Ich sehe heute keine Trainer mehr, die kleine Kinder anschreien. Zum Glück.“
Auch die Sensibilität für die Bedürfnisse von Athletinnen habe sich verändert. Während früher der Umgangston oft härter und als normal akzeptiert war, betont Schröder, dass junge Spielerinnen heute eher die Möglichkeit haben, offen über Probleme zu sprechen. "In gewissen Lebensphasen muss man da auch mal durch, aber es kommt halt immer drauf an, durch was durch. Durch psychischen Terror muss man nicht durchgehen!"