"In den Nuller Jahren gab es nichts, was man eine neue Bewegung nennen könnte. Ein paar Stilvarianten, ganz gute Musiker ... - aber nichts so Großes und Weltveränderndes wie Punk, Hip Hop oder das Techno Rave Ding."
Simon Reynolds´"Retromania" ist ein Buch der Nuller Jahre. Geschrieben an deren Ende. Es enthält bewusste Zuspitzungen und saftige Polemik über dieses Jahrzehnt mit seinen kurzlebigen Next Big Things – dem nächsten großen Ding. Vor wenigen Jahren sprach alle Welt über Franz Ferdinand - Reynolds verliert kein Wort über die schottischen Indierocker mit Frühachtziger-Appeal. Dafür nennt er Hunderte anderer Beispiele für rückwärtsgewandte Musik. Kurz: Er vermisst die neue große Kulturwelle, die alles erfasst.
"Techno hatte noch eine "Bedeutung", stand für Energie, eine Bewegung mit eigenen Werten. Da wurde versucht, eine eigene Kultur zu erschaffen. Wie auch im Hip Hop. Der ist ein Lebensstil: mit eigener Sprache, Mode, Tanzstil. Ein Gesamtentwurf, die Welt zu sehen."
Auch die Schwemme von Remixes, Covers, Mashups, Anverwandlungen, Reissues und Aufgüssen von Soul Brothers and Sisters der Sechziger überschüttet Reynolds mit Spott. Kaum kam zwischendurch jemand Geniales daher wie Amy Winehouse, die mit Persönlichkeit und Körperlichkeit das Retrofahrwasser transzendierte - schon quoll der Markt über, vor Wiedergängerinnen, die austauschbar klangen. "Soul", "Punk", "Rock" et cetera - nur noch Versatzstücke? Attitüden? Und mehr noch:
"Ich lese ja auch viel, was andere über Musik schreiben. "Der Song klingt wie der oder der, plus ein Schuss von dem oder dem. Die schreiben über Querverweise – und das spiegelt genau wider, wie die Musik heute tatsächlich daher kommt! Und auch die Bands selber erzählen in Interviews, nach welchen anderen Bands sie gerne klingen würden. Als wäre das eine kulturelle Leistung, wie "jemand" zu klingen."
Wo bleiben also: Originalität und Innovation? Die viel diskutierte Frage in und über "Retromania". Sollten wir uns zum Beispiel schämen, wenn uns die Musik von Jung-Soul-Star Michael Kiwanuka anspricht, berührt - aktuell der Inbegriff eines Retromusikers, der uns 40 Jahre zurück in die Vergangenheit beamt? Oder macht er einfach Kitsch? Doch "Retromania" ist kein Manifest und Reynolds kein Rechthaber. Für die jetzt erschienene deutsche Ausgabe hat er kürzlich einen Epilog geschrieben, der auch die kontroverse Diskussion des Buchs reflektiert. Chris Wilpert las in Köln seine deutsche Übersetzung dieses Epilogs vor.
"Warum empfinde ich "retro" trotz der vielen Aspekte, die ich daran mag, nach wie vor als dürftig und beschämend? Während die gegenwärtige Popkultur von der Vergangenheit abhängig ist, gehöre ich zu einer Minderheit der Zukunftssüchtigen."
Das hat auch etwas mit Simon Reynolds eigener musikalischer Sozialisation zu tun. 1980 war er siebzehn.
"In den 80ern war Reißbrett-Pop Mainstream. Also interessierte ich mich für Bands, die dagegen angingen. Nennen wir Hüsker Dü und diese ganzen Lärmkombos. Musik entwickelt sich dann weiter, wenn sie dissident ist, sich in Opposition stellt, gegenüber dem allgemein Vorherrschenden."
Das war in den 80ern auch noch möglich, sich klar zu positionieren, dafür oder gegen etwas: als Begriffe wie "Underground" und "Independent" noch die von Reynolds heute geforderten Lebensentwürfe – und auch Wirtschaftsmodelle - waren.
"Die haben nicht das neueste Equipment benutzt. Sie gingen gewissermaßen zurück zu Gitarren, weg von Synthesizern und Drumcomputern."
Eine der ersten Retrobands waren Mitte der 80er The Jesus and Mary Chain, die einen infernalischen Wust aus Rückkopplungen über zuckersüße 60er-Jahre-Melodien legten. Coverbands hat es freilich schon immer und überall gegeben. Aber wenn eine Parodie so absonderlich originell ist wie in diesem Fall, meint Reynolds, dann müsse man es als popkulturelle Avantgarde ernst nehmen. Und mögen.
Heute gäbe es dagegen nur noch müde Versuche, auf das Trittbrett einstiger Genies noch einmal kurz aufzuspringen, kaum noch eine große Entwicklungslinie einer Band, mit der Ausnahme von Radiohead. Da ist sie wieder, die polemische Zuspitzung. Reynolds ist eigentlich ein Fan von Post Punk und härterer Gangarten elektronischer Musik, so auch von Dubstep mit seinen aggressiven Basslines, von allem, was in "klassischen Clubs" beheimatet ist. Musik muss für Reynolds körperlich sein. Musikcollagen aus Klingeltönen oder Ähnliches zu Hause Zusammengefrickeltes? Großes Misstrauen:
"Es ist paradox. Wenn wir unsere digitale Welt ansehen, gibt es zwei Tendenzen. Auf der einen Seite kann man Dinge totrecherchieren. Gehen Sie mal auf Wikipedia, da können Sie dann Details zu jedem einzelnen Song erfahren!– oder: Sie erleben Musik, völlig aus dem Kontext gerissen: keine Info, von wem der Song stammt, wie die aussehen, wo die herkommen."
Die Kernthese von "Retromania": Musiker sind heute so zugemüllt von diesem ständig verfügbaren Meta-Archiv aus Musik-Daten, dass sie gar nicht mehr dazu kommen, sich etwas Eigenes auszudenken. Die Popkultur habe sich bereits selber zu Tode recycelt. Nach Retro käme jetzt nur noch "Nowtro", eine Musik, bei der schon von vornherein klar ist, dass in ihr nichts Neues ist und auch nichts mehr kommen wird.
""Popmusik hat ihre genüsslichen Seiten. Du kannst dazu tanzen, du kannst richtig rocken. Aber vielleicht ist die Anzahl der Möglichkeiten, diese recht simplen Dinge zu tun, auch begrenzt?"
Gepfefferte Thesen. Man versteht, warum "Retromania" ein viel diskutiertes Buch ist.
Buchangabe:
Simon Reynolds "Retromania - Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann"
Ventil Verlag Mainz
540 Seiten, Euro 29,90
Weitere Lesungs-Termine:
23. Oktober: Nürnberg, Musikverein, (Königstr. 93, www.musikverein-concerts.de)
24. Oktober: Marburg, Trauma (Affoellerwiesen 3a, www.cafetrauma.de)
25. Oktober: Frankfurt, Orange Peel (Kaiserstr. 39, www.orange-peel.de)
26. Oktober: Luxemburg, Exit07 (1, rue de l’Aciere, www.rotondes.lu)
Simon Reynolds´"Retromania" ist ein Buch der Nuller Jahre. Geschrieben an deren Ende. Es enthält bewusste Zuspitzungen und saftige Polemik über dieses Jahrzehnt mit seinen kurzlebigen Next Big Things – dem nächsten großen Ding. Vor wenigen Jahren sprach alle Welt über Franz Ferdinand - Reynolds verliert kein Wort über die schottischen Indierocker mit Frühachtziger-Appeal. Dafür nennt er Hunderte anderer Beispiele für rückwärtsgewandte Musik. Kurz: Er vermisst die neue große Kulturwelle, die alles erfasst.
"Techno hatte noch eine "Bedeutung", stand für Energie, eine Bewegung mit eigenen Werten. Da wurde versucht, eine eigene Kultur zu erschaffen. Wie auch im Hip Hop. Der ist ein Lebensstil: mit eigener Sprache, Mode, Tanzstil. Ein Gesamtentwurf, die Welt zu sehen."
Auch die Schwemme von Remixes, Covers, Mashups, Anverwandlungen, Reissues und Aufgüssen von Soul Brothers and Sisters der Sechziger überschüttet Reynolds mit Spott. Kaum kam zwischendurch jemand Geniales daher wie Amy Winehouse, die mit Persönlichkeit und Körperlichkeit das Retrofahrwasser transzendierte - schon quoll der Markt über, vor Wiedergängerinnen, die austauschbar klangen. "Soul", "Punk", "Rock" et cetera - nur noch Versatzstücke? Attitüden? Und mehr noch:
"Ich lese ja auch viel, was andere über Musik schreiben. "Der Song klingt wie der oder der, plus ein Schuss von dem oder dem. Die schreiben über Querverweise – und das spiegelt genau wider, wie die Musik heute tatsächlich daher kommt! Und auch die Bands selber erzählen in Interviews, nach welchen anderen Bands sie gerne klingen würden. Als wäre das eine kulturelle Leistung, wie "jemand" zu klingen."
Wo bleiben also: Originalität und Innovation? Die viel diskutierte Frage in und über "Retromania". Sollten wir uns zum Beispiel schämen, wenn uns die Musik von Jung-Soul-Star Michael Kiwanuka anspricht, berührt - aktuell der Inbegriff eines Retromusikers, der uns 40 Jahre zurück in die Vergangenheit beamt? Oder macht er einfach Kitsch? Doch "Retromania" ist kein Manifest und Reynolds kein Rechthaber. Für die jetzt erschienene deutsche Ausgabe hat er kürzlich einen Epilog geschrieben, der auch die kontroverse Diskussion des Buchs reflektiert. Chris Wilpert las in Köln seine deutsche Übersetzung dieses Epilogs vor.
"Warum empfinde ich "retro" trotz der vielen Aspekte, die ich daran mag, nach wie vor als dürftig und beschämend? Während die gegenwärtige Popkultur von der Vergangenheit abhängig ist, gehöre ich zu einer Minderheit der Zukunftssüchtigen."
Das hat auch etwas mit Simon Reynolds eigener musikalischer Sozialisation zu tun. 1980 war er siebzehn.
"In den 80ern war Reißbrett-Pop Mainstream. Also interessierte ich mich für Bands, die dagegen angingen. Nennen wir Hüsker Dü und diese ganzen Lärmkombos. Musik entwickelt sich dann weiter, wenn sie dissident ist, sich in Opposition stellt, gegenüber dem allgemein Vorherrschenden."
Das war in den 80ern auch noch möglich, sich klar zu positionieren, dafür oder gegen etwas: als Begriffe wie "Underground" und "Independent" noch die von Reynolds heute geforderten Lebensentwürfe – und auch Wirtschaftsmodelle - waren.
"Die haben nicht das neueste Equipment benutzt. Sie gingen gewissermaßen zurück zu Gitarren, weg von Synthesizern und Drumcomputern."
Eine der ersten Retrobands waren Mitte der 80er The Jesus and Mary Chain, die einen infernalischen Wust aus Rückkopplungen über zuckersüße 60er-Jahre-Melodien legten. Coverbands hat es freilich schon immer und überall gegeben. Aber wenn eine Parodie so absonderlich originell ist wie in diesem Fall, meint Reynolds, dann müsse man es als popkulturelle Avantgarde ernst nehmen. Und mögen.
Heute gäbe es dagegen nur noch müde Versuche, auf das Trittbrett einstiger Genies noch einmal kurz aufzuspringen, kaum noch eine große Entwicklungslinie einer Band, mit der Ausnahme von Radiohead. Da ist sie wieder, die polemische Zuspitzung. Reynolds ist eigentlich ein Fan von Post Punk und härterer Gangarten elektronischer Musik, so auch von Dubstep mit seinen aggressiven Basslines, von allem, was in "klassischen Clubs" beheimatet ist. Musik muss für Reynolds körperlich sein. Musikcollagen aus Klingeltönen oder Ähnliches zu Hause Zusammengefrickeltes? Großes Misstrauen:
"Es ist paradox. Wenn wir unsere digitale Welt ansehen, gibt es zwei Tendenzen. Auf der einen Seite kann man Dinge totrecherchieren. Gehen Sie mal auf Wikipedia, da können Sie dann Details zu jedem einzelnen Song erfahren!– oder: Sie erleben Musik, völlig aus dem Kontext gerissen: keine Info, von wem der Song stammt, wie die aussehen, wo die herkommen."
Die Kernthese von "Retromania": Musiker sind heute so zugemüllt von diesem ständig verfügbaren Meta-Archiv aus Musik-Daten, dass sie gar nicht mehr dazu kommen, sich etwas Eigenes auszudenken. Die Popkultur habe sich bereits selber zu Tode recycelt. Nach Retro käme jetzt nur noch "Nowtro", eine Musik, bei der schon von vornherein klar ist, dass in ihr nichts Neues ist und auch nichts mehr kommen wird.
""Popmusik hat ihre genüsslichen Seiten. Du kannst dazu tanzen, du kannst richtig rocken. Aber vielleicht ist die Anzahl der Möglichkeiten, diese recht simplen Dinge zu tun, auch begrenzt?"
Gepfefferte Thesen. Man versteht, warum "Retromania" ein viel diskutiertes Buch ist.
Buchangabe:
Simon Reynolds "Retromania - Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann"
Ventil Verlag Mainz
540 Seiten, Euro 29,90
Weitere Lesungs-Termine:
23. Oktober: Nürnberg, Musikverein, (Königstr. 93, www.musikverein-concerts.de)
24. Oktober: Marburg, Trauma (Affoellerwiesen 3a, www.cafetrauma.de)
25. Oktober: Frankfurt, Orange Peel (Kaiserstr. 39, www.orange-peel.de)
26. Oktober: Luxemburg, Exit07 (1, rue de l’Aciere, www.rotondes.lu)