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Sahra Wagenknecht
"Ich will nicht, dass die EU in Nationalismus zerfällt"

Ihr Vertrauen, mehr Kompetenzen an die EU-Kommission zu übergeben, sei derzeit gleich null, sagte Sahra Wagenknecht im Deutschlandfunk. Dennoch sieht die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Bundestag die Chance, dass der Brexit als Weckruf für eine Erneuerung der EU verstanden werden könne: "mit einer viel stärker sozialen Ausrichtung, mit deutlich mehr Demokratie".

Sahra Wagenknecht im Gespräch mit Gerhard Schröder |
    Sahra Wagenknecht
    Sahra Wagenknecht: "In Europa sollte wirklich nur über Dinge entschieden werden, die gesamteuropäische Angelegenheiten sind." (picture alliance/dpa/Bernd Von Jutrczenka)
    Gerhard Schröder: Frau Wagenknecht, vor zwei Wochen haben die Briten mehrheitlich für den Ausstieg aus der Europäischen Union gestimmt. Ist das der Anfang vom Ende des vereinten Europas?
    Sahra Wagenknecht: Na, ich denke, wir müssen uns schon fragen, warum in immer mehr Mitgliedsstaaten die Bevölkerung, vor allem die, denen es schlechter geht, Leute, die arbeitslos sind, die sich abgehängt fühlen, sich auch von diesem Europa abwenden. Und ich denke, wenn der Brexit jetzt als Weckruf verstanden wird, tatsächlich in der EU einen Neuanfang zu versuchen, mit einer viel stärker sozialen Ausrichtung, mit deutlich mehr Demokratie, dann könnte das tatsächlich auch eine Erneuerung der EU bringen, auch eine Erneuerung der Akzeptanz dieses Europas. Aber, wenn das nicht stattfindet, wenn man stur auf weiter so setzt, wie es leider viele europäische Vertreter tun und auch von der Bundesregierung ist ja bisher nichts wirklich Kreatives in dieser Frage zu hören gewesen, dann sehe ich tatsächlich schwarz.
    Schröder: EU-Skepsis hat ja nun auch in der Linkspartei eine gewisse Tradition. In älteren Programmentwürfen kann man lesen, die EU sei neoliberal, antidemokratisch, militaristisch. Welche Leidenschaft können Sie denn inzwischen eigentlich für diese EU aufbringen?
    Wagenknecht: Na, diese EU, wenn man sie an ihren jetzigen Repräsentanten misst, wenn man sie an ihren Verträgen misst, ist tatsächlich ein neoliberales Projekt. Also das kann man ja nicht bestreiten.
    Schröder: Antidemokratisch?
    Wagenknecht: Ja, wenn ich mir angucke, wie die EU-Kommission zum Beispiel jetzt versucht, mit allen Tricks ein Handelsabkommen wie CETA, das ja immerhin das Leben der Menschen sehr verändern wird, an den Mitgliedsstaaten vorbei durchzusetzen ... Zunächst mal wollten sie die Mitgliedsstaaten gar nicht fragen, die Parlamente. Dann waren sie unter Druck. Dann haben sie gesagt: Ja, also es wird einen Ratifizierungsprozess geben, aber wir setzen das Abkommen schon mal vorläufig in Kraft. Womit ja der ganze Ratifizierungsprozess im Grunde eine Farce wird, dann ist das natürlich nicht gerade ein besonders demokratisches Verständnis. Und das stößt die Menschen ab. Sie haben das Gefühl, in diesem Raumschiff Brüssel werden Entscheidungen getroffen, die sie nicht beeinflussen können, die sie nicht kontrollieren können. Währenddessen große Unternehmen, Konzerne, Banken dort wirklich an vorderster Front das Sagen haben. Und das stößt die Menschen ab. Das ist völlig verständlich.
    "Die AfD will ein völlig anderes Europa, als ich es haben will"
    Schröder: Sie haben im Bundestag in dieser Woche von den Antidemokraten in Brüssel gesprochen, was Ihnen prompt vonseiten der SPD den Vorwurf eingebracht hat, Sie würden AfD-Rhetorik, also die Rhetorik der Rechtspopulisten ins Parlament bringen. Stimmt das?
    Wagenknecht:Das ist völlig absurd, weil die AfD will ein völlig anderes Europa, als ich es haben will. Und mich interessiert auch nicht, was die AfD sagt. Ich finde auch dieses Argument, wenn man irgendetwas inhaltlich sagt, zu behaupten, das sei jetzt AfD. Also ich finde, man sollte sich inhaltlich damit auseinandersetzen. Mein Vorwurf bezog sich ja auf das Vorgehen der Europäischen Kommission bei CETA. Und wie sich Herr Juncker beispielsweise seit dem Brexit verhalten hat, da muss man wirklich schon das Gefühl haben, also er ist Le Pens bester Mann, wenn sie ihre Frexit-Kampagne in Frankreich fahren will. Also solche Repräsentanten machen die EU eben bei den Bürgerinnen und Bürgern unmöglich. Und ich bedauere das, weil ich will nicht, dass die EU in Nationalismus zerfällt. Ich will nicht, dass solche Kräfte wie der Front National stärker werden. Ich finde das schlimm. Aber dann brauchen wir eben auch ein anderes Europa, wenn wir Menschen dafür begeistern wollen.
    Schröder: Sie haben gefordert, dass auch in Deutschland es Referenden, Volksabstimmungen geben sollte in wichtigen Fragen, wie zum Beispiel auch der EU-Mitgliedschaft. Stellen wir uns jetzt einmal vor, es würde eine Volksabstimmung in Deutschland geben über die Mitgliedschaft in der EU. Mit welcher Kraft würden Sie sich da für den Verbleib in der EU einsetzen?
    Wagenknecht: Na, ich habe vor allem gefordert, dass die EU neue Verträge braucht. Und über diese neuen Verträge würde ich gerne in jedem Mitgliedsstaat abstimmen. Ich würde mir wünschen, dass es solche sind, die man dann wirklich mit Leidenschaft und aus Überzeugung verteidigen kann. Die heutigen Verträge kann man nicht verteidigen. Also beispielsweise gucken Sie sich nur die Klausel an, wo alles darauf gesetzt wird, dass die Mitgliedsstaaten um jeden Preis ihre Defizite reduzieren müssen. Aber es wird nichts dafür getan, dass beispielsweise große Konzerne in der EU lukrativste Möglichkeiten haben, ihre Steuerquote auf drei Prozent und niedriger zu drücken. Also gerade Herr Junker ist nun mit seiner Biografie natürlich auch nicht jemand, den man als besonderen Jäger von Steuersündern jetzt glaubwürdig finden würde. Und das ist doch aber absurd. Also wir zwingen Länder teilweise, die in einer tiefen Krise sind, die eine sehr hohe Jugendarbeitslosigkeit haben, ihren öffentlichen Etat klein zu schrumpfen. Aber wir ermöglichen ihnen nicht, auf der Steuerseite – zumindest bei den wirklich Reichen – mehr Einnahmen zu generieren, was ja der bessere Weg wäre, um öffentliche Defizite zu reduzieren. Und insoweit, finde ich, ist die EU da absolut einäugig auch gepolt. Also es gibt zum Beispiel auch kein Kriterium, das Mitgliedsstaaten erfüllen müssen, was die Senkung der Armut angeht oder was die Senkung von Arbeitslosigkeit angeht. Und ich finde, eine EU, die so agiert, da spüren die Menschen natürlich, das bringt für sie nichts Gutes.
    "Wir haben auch kaum europäische Persönlichkeiten"
    Schröder: Martin Schulz, der EU-Parlamentspräsident, fordert eine Vertiefung der Europäischen Union als Konsequenz aus dem Brexit, also eine gewählte Regierung an der Spitze Europas, ein Parlament mit mehr Rechten, mit mehr Kompetenzen, zwei Kammern. Wäre das nicht ein geeigneter Schritt, um mehr Vertrauen in die Europäische Union in der Bevölkerung zu erzeugen?
    Wagenknecht: Nein. Ich finde, das geht genau in die falsche Richtung und ich finde das auch wirklich ignorant, in einer Situation, wo man merkt, dass die Menschen skeptisch dem gegenüber sind, was in Brüssel passiert, jetzt zu sagen, wir müssen noch mehr Kompetenzen nach Brüssel übertragen.
    Schröder: Und mehr Demokratie.
    Wagenknecht: Na ja, das Problem ist ja, dass wir überhaupt keine europäischen Parteien haben. Wir haben auch kaum europäische Persönlichkeiten. Also vielleicht hält sich Herr Schulz für eine, aber die Wahrheit ist doch, dass schon bei der letzten Europawahl man einmal versucht hat, mit europäischen Spitzenkandidaten anzutreten. Das war ein Riesenflop, weil die überhaupt nicht bekannt sind in den einzelnen Ländern.
    Schröder: Wenn Vertiefung der falsche Weg ist, heißt also der Richtige Weg "weniger Brüssel, mehr Kompetenzen für die Nationalstaaten"?
    Wagenknecht: Ich würde sagen, der richtige Weg heißt "mehr Demokratie". Das heißt, Entscheidungen sollten da getroffen werden, wo sie am besten demokratisch kontrollierbar getroffen werden können. Und in Europa sollte wirklich nur über Dinge entschieden werden, die gesamteuropäische Angelegenheiten sind. Und auch da sollte das Gewicht eigentlich auf Vereinbarungen der Regierungen liegen. Wir brauchen natürlich ein europäisches Parlament. Wir haben diese EU-Kommission. Aber ich muss sagen, mein Vertrauen, mehr Kompetenzen gerade an die EU-Kommission zu übergeben, das ist gleich null, wenn ich ...
    Schröder: Wo sind zu viele Kompetenzen in Brüssel? Wo müssten sie verlagert werden, zurückverlagert werden?
    Wagenknecht: Also ich glaube, schon, dass es falsch ist, wenn die EU-Kommission inzwischen ja fast das Recht hat, sich wirklich auch in Arbeitsmarktpolitik und andere Dinge einzumischen. Und ich finde, die Haushaltspolitik, die Wirtschaftspolitik das gehört in die Souveränität der Mitgliedsstaaten. Und natürlich schließt das ein, dass man dann auch für seine Schulden selber haftet. Das ist völlig klar. Aber ich finde nicht, dass es da einer Überinstanz in Brüssel bedarf, die den einzelnen Staaten in ihre Politik reinregieren kann. Und was ich mir wünschen würde, wo tatsächlich europäische Regeln notwendig wären, das wäre zum Beispiel bei der Steuerpolitik, dass wir endlich dieses miese Steuerdumping nicht mehr ermöglichen, wo die einzelnen Länder gegenseitig sich Konkurrenz machen mit besonders lukrativen Geschäftsmodellen für große Unternehmen. Da wäre Bedarf. Aber die ureigenen Kompetenzen – was mache ich für eine Arbeitsmarktpolitik, was mache ich für eine Bildungspolitik, welche Ausgaben stelle ich da zur Verfügung, wie ist mein Haushalt – das sollten die Mitgliedsstaaten und die Parlamente entscheiden, weil alles andere ist Abbau von Demokratie.
    Sahra Wagenknecht während einer Rede im Bundestag.
    Sahra Wagenknecht während einer Rede im Bundestag. (AFP - Steffi Loos)
    Schröder: Jetzt werden demnächst irgendwann Verhandlungen beginnen der EU mit Großbritannien über den Ausstieg aus der Union. Welche Marschrichtung empfehlen Sie da? Besonders hart verhandeln, um auch Nachahmer abzuschrecken, die es ja durchaus gibt – Bewegungen in Österreich etwa oder Frankreich haben Sie genannt. Oder doch kompromissbereit, um auch nicht zusätzliches Porzellan zu zerschlagen?
    Wagenknecht: Also ich halte die Theorie, dass man Nachahmer dadurch entmutigt, dass man jetzt an den Briten ein Exempel statuiert, erstens für unverantwortlich und zweitens auch für falsch. Also, wenn man jetzt dort besonders unangenehm auftritt, ist das ja auch keine Werbeveranstaltung für die EU. Also die Briten haben sich entschieden. Ich hoffe, dass die Regierung das in Großbritannien auch weiterhin als Auftrag begreift, also egal, ob man jetzt das Referendum gut findet oder nicht, wie es ausgegangen ist, es hat so stattgefunden. Aber das ist, sagen wir mal, eine britische Angelegenheit. Was ich jetzt für die Verhandlungen erwarte ... also ich glaube gar nicht, dass dieses ganze Gerede, was jetzt so teilweise öffentlich verkündet wird "in ist in" und "out ist out", dass das wirklich so vehement dann auch vertreten wird, weil wir einfach sehen müssen, es ist vor allem die deutsche Wirtschaft, die ein extremes Interesse daran hat, dass der britische Markt weiterhin offen bleibt, weil wir viel mehr nach Großbritannien exportieren, als die Briten zu uns schicken. Und insoweit ist zum Beispiel aus der deutschen Wirtschaft ein ganz massiver Druck, dass der britische Markt jetzt nicht hinter riesigen Zollmauern verschwindet. Insoweit glaube ich gar nicht, dass das, selbst wenn es jetzt Verhandlungen gibt, dass das so harsch stattfinden wird, wie das teilweise angekündigt ist.
    "Man muss sich ja immer bewusst sein: Hier stehen Atommächte einander gegenüber"
    Schröder: Das Interview der Woche mit Sahra Wagenknecht, Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Deutschen Bundestag. Frau Wagenknecht, richten wir den Blick etwas nach Osten. Die Beziehungen zu Russland sind auf einem Tiefpunkt angelangt. Die Annexion Russlands, der Krim, Wirtschaftssanktionen des Westens, die dann folgten, militärische Manöver im Baltikum, Muskelspiele auf beiden Seiten. Nun hat die Nato Ende der Woche beschlossen, die Truppen in Polen und den drei baltischen Staaten zu verstärken. Wie gefährlich ist die Lage? Müssen wir uns mit der Möglichkeit beschäftigen, dass ein Krieg in Europa möglich ist?
    Wagenknecht: Also ich finde, man sollte sich nicht mit dieser Möglichkeit beschäftigen, sondern damit, wie man alles tun kann, dass das niemals eintreten darf. Und ich finde schon, das, was die Nato jetzt macht, seit Jahren und forciert eigentlich in der letzten Zeit, das sind Kriegsspiele. Und das ist eine hochgefährliche Politik. Was soll das? Manöver in unmittelbarer Nähe der russischen Grenze, noch dazu unter dem martialischen Namen einer Würgeschlange. Dann dauerhafte Truppenstationierung, Raketenbasen. Deutschland ist überall beteiligt und dass angesichts der deutschen Geschichte. Ich finde das wirklich unglaublich verantwortungslos, weil so natürlich die Gefahr einer militärischen Eskalation sehr, sehr groß ist. Die kann aus einem Missverständnis entstehen. Und man muss sich ja immer bewusst sein: Hier stehen Atommächte einander gegenüber. Also es geht ja nicht darum, ob man jetzt die russische Politik toll findet. Ich finde da vieles überhaupt nicht toll. Aber wir müssen doch einfach einsehen, dass es in Europa Sicherheit nur mit Russland gibt und nicht gegen Russland. Und, wenn man ...
    Schröder: Aber kann man die Verantwortung so einfach an die Nato delegieren? Trägt nicht Russland mit eigenen Rüstungsprogrammen, mit der Annexion der Krim entscheidenden Anteil daran, dass die Beziehungen so eskalieren?
    Wagenknecht: Also, wenn man zum Beispiel die Rüstungsausgaben betrachtet, dann gibt die Nato aktuell das 13-Fache dessen für Rüstung und Militär aus als Russland. Und trotzdem will man jetzt noch mal eine deutliche Erhöhung der Rüstungsausgaben mit diesem Ziel, dass alle Länder zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung in Militärausgaben verschleudern. Also das ist völlig irre. Wir haben ja schon das 13-Fache der Russen. Und was Grenzverschiebungen angeht, natürlich sind wir als Linke immer Kritiker von völkerrechtswidrigem Vorgehen. Das war auch schon im Kosovo so. Aber man muss natürlich schon sehen, wenn man sich die Entwicklung seit den 90er-Jahren ansieht, hat die Nato ihre Grenze immer weiter nach vorn geschoben, immer mehr in Richtung Russland. Erst die Osteuropäer, dann die Südosteuropäer. Jetzt ist Montenegro noch aufgenommen worden.
    Schröder: Aber es wurde kein Land annektiert.
    Wagenknecht: Ich finde natürlich nicht gut, wenn Grenzen verschoben werden. Ich finde auch schon gar nicht gut, wenn Länder annektiert werden. Das sollten wir überwunden haben. Aber ich sehe doch trotzdem Ursache und Wirkung. Und, wenn man natürlich jemanden ... ein Land – und das war immerhin mal eine Supermacht und ist immer noch eine Großmacht. Wenn man es in die Ecke drängt, wenn man es einkreist, dann provoziert man Gegenreaktion. Und ich finde, das ist unverantwortlich. Das heißt nicht, dass ich die Gegenreaktion rechtfertige, aber ich sage, man hätte mit einem anderen Agieren der Nato überhaupt nicht erst so eine Situation zulassen müssen oder zulassen können, wie sie jetzt entstanden ist. Und jetzt muss man gucken, dass man aus diesem Kreislauf, aus dieser Spirale der Gewalt wieder rauskommt und nicht immer noch einen draufsetzt.
    Schröder: Die Menschen in Polen, im Baltikum die sorgen sich ihrerseits vor russischer Aggression, vor den russischen Aufrüstungsprogrammen. Können Sie das einfach ignorieren?
    Wagenknecht: Also ich halte es wirklich nicht für realistisch, wenn irgendeiner denkt, dass Russland demnächst das Baltikum überfällt. Das ist doch absurd. Also in der Ukraine war eine spezielle Situation. Die russische Schwarzmeerflotte war schon da. Die war ja immer stationiert auf der Krim. Also die hat die nicht besetzt, sondern die war vorher schon da und die Russen wollten sie nicht abziehen und wollten auch nicht in der Situation sein, dass plötzlich ihre Schwarzmeerflotte und ihre für sie strategisch wichtige Schaltstelle dort auf Nato-Territorium steht. Wie gesagt, das rechtfertigt nichts, aber es ist trotzdem so, dass man politisch, glaube ich, wenn man etwas tut, immer die Gegenreaktion berücksichtigen und kalkulieren muss. Und es wäre weitaus besser, wenn man die Nato, statt sie in dieser Weise in ein wirklich auch – ja – auch Aggressionsbündnis zu verwandeln, wenn man sie ausgedehnt hätte auf Russland, Russland mit einbezogen hätte. Dann wäre eine deutlich bessere Sicherheitsarchitektur entstanden.
    Schröder: Wie kann es denn jetzt weitergehen? Die EU hat die Wirtschaftssanktionen gerade um ein halbes Jahr verlängert. Außenminister Steinmeier sagt: Ja, man kann die lockern, wenn Russland Zugeständnisse macht. Dafür gibt es keinen Hinweis, also alles festgefahren.
    Wagenknecht: Also ich denke, dass die Sanktionen überhaupt niemandem etwas bringen. Die schaden der deutschen Wirtschaft. Sie schaden natürlich auch der russischen Wirtschaft. Und am Ende sind die Einzigen, die davon profitieren ... ist die USA, weil die USA hat tatsächlich ihr Handelsvolumen ausgedehnt. Also wir müssen uns ja auch mal fragen, welche Interessen mit solch einer Politik tatsächlich befördert werden. Also auch die Nato-Osterweiterung hat vor allem die Hegemonie der Vereinigten Staaten in Europa befestigt. Also das muss man auch mitberücksichtigen.
    Schröder: Das Interview der Woche mit Sahra Wagenknecht, der Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei im Bundestag. Frau Wagenknecht, kommen wir zur Innenpolitik. Beherrschendes Thema nach wie vor die Flüchtlingspolitik. Nun hat die Bundesregierung, die große Koalition in dieser Woche das Integrationsgesetz verabschiedet. Damit soll sichergestellt werden, dass die, die dauerhaft hierbleiben, auch schnell Fuß fassen können, heimisch werden, auch einen Job finden. Werden damit die richtigen Signale gesetzt?
    Wagenknecht: Nein. Also, dass Integration über Ein-Euro-Jobs funktionieren kann, das sehe ich nicht. Und die Gefahr bei diesen Ein-Euro-Jobs ist ja immer, dass sie auch reale Jobs, die es schon gibt in der privaten Wirtschaft, dass sie sie auch verdrängen, oder dass andere öffentliche Jobs, die es vorher gab, eben dadurch ersetzt werden. Es gibt auch andere Instrumente in diesem Integrationsgesetz, die es den Unternehmen erleichtern, Flüchtlinge für Lohndumping einzusetzen, zum Beispiel auch als Leiharbeiter und in vielen anderen Wegen. Und ich finde, das ist gerade das Falsche. Das ist auch das, was die Menschen aufbringt, wenn sie das Gefühl haben, Flüchtlinge sind ein Instrument, das Lohnniveau nach unten zu drücken. Und ich finde, dass die Politik da viel mehr hätte tun müssen, um dem entgegenzuwirken. Und wir haben zwar jetzt auch den Kompromiss im Bundesrat, etwas mehr Geld an die Länder zu geben für Integrationsausgaben, auch für sozialen Wohnungsbau. Aber das ist ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn ich mir ansehe, wie groß der Bedarf ist. Wir haben doch eine immer schärfere Konkurrenz um Wohnungen, gerade in den Ballungszentren, und zwar gerade in den Wohngebieten, wo die wohnen, denen es sowieso schon nicht gut geht und wo die Flüchtlinge jetzt auch noch nach Wohnungen suchen. Und dort müsste viel, viel mehr, und zwar mit deutlich größeren Summen öffentlicher Wohnungsbau wieder gefördert werden, damit es einfach auch nicht diese Ängste gibt in der Bevölkerung, dass der Flüchtling jetzt ihre Mieten hochtreibt. Und das ist leider eine sehr, sehr verbreitete und ja nicht ganz unrealistische Angst.
    Schröder: Also hat die AfD Recht, wenn sie sagt, die Regierung tut für die Flüchtlinge viel, für die Heimischen wenig?
    Wagenknecht: Nein, die AfD hat nicht recht, weil die Regierung insgesamt viel zu wenig tut. Also sie tut für die Flüchtlinge nicht viel in dem Sinne, weil wenn auf dem Wohnungsmarkt nach Wohnungen gesucht wird, haben die Flüchtlinge genauso die höheren Mieten, wie es die haben, die schon hier gewohnt haben. Also da kann man die Leute nicht gegeneinander ausspielen. Ich finde es auch falsch, immer so diesen Kontrast zu machen. Aber natürlich ist es auch so, dass viele Menschen das Gefühl haben, für soziale Leistungen, für vieles andere ist seit Jahren nichts ausgegeben worden. Wenn man will, das zeigt sich jetzt, hat man Geld für bestimmte Zwecke. Und das schürt natürlich auch nicht unbedingt die Zustimmung zu dieser Art von Politik. Das ist schon richtig. Aber da braucht man nicht die AfD, um das festzustellen.
    "Die AfD zerlegt sich an vielen Stellen"
    Schröder: Gleichwohl, die Flüchtlingskrise hat der AfD einen ungeahnten Höhenflug beschert bei den Wahlen im März – in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz zweistellige Ergebnisse. Sie hat auch der Linkspartei viele Wähler weggenommen oder viele sind übergelaufen, die vormals die Linkspartei gewählt haben, zur AfD. Bislang ist nicht erkennbar, wie die Linkspartei diesen Trend stoppen soll.
    Wagenknecht: Ich denke, dass das Entscheidende ist, dass wir deutlich machen müssen – und ich glaube, das gelingt uns jetzt besser als noch vor einem halben Jahr – dass soziale Veränderungen und das ist ja das, was sich die meisten Menschen wünschen. Sie wünschen sich, dass sie bessere Renten haben, dass sie bessere Löhne haben, dass sie nicht in dieser ständigen Unsicherheit leben müssen, dass solche sozialen Veränderungen in keiner Weise befördert werden, wenn man die AfD stärkt. Sondern die AfD ist ja im Gegenteil in sozialer Hinsicht eine absolut neoliberale Partei. Also Frauke Petry hat ja vor Kurzem noch mal gesagt, sie will eigentlich die Renten noch viel brutaler kürzen, als es die Regierung tut. Also da ist ja nichts zu erwarten. Und die AfD hat es sehr geschickt geschafft, die Unsicherheit der Menschen, die gerade durch die große Zahl der Flüchtlinge und die völlige Unfähigkeit der Bundesregierung, mit dem Problem klarzukommen, diese Unsicherheit, die entstanden ist, dann auf ihre Mühlen zu lenken. Aber ich denke, dass das inzwischen doch auch stark an Charme verloren hat. Wir sehen ja auch, die AfD zerlegt sich an vielen Stellen. In Baden-Württemberg haben wir jetzt zwei Fraktionen oder irgendwie sogar faktisch drei, weil einer ist ja noch alleine. Und auch andernorts ist ja auch bis heute nicht wirklich klar, was die AfD in den Landesparlamenten zum Beispiel will, wo sie da relativ stark reingewählt wurde.
    Schröder: Gleichwohl hat sie gute Chancen zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern oder auch in Berlin wieder zweistellige Ergebnisse im Herbst, wo dort gewählt wird, einzufahren. Das wird auch wieder auf Kosten der Linkspartei gehen. Oder sehen Sie da, dass Sie wirklich ein Rezept haben, dass Sie Wähler überzeugen können, nicht zur AfD zu wechseln, sondern bei der Linkspartei zu bleiben?
    Wagenknecht: Also ich denke schon, dass wir Schlussfolgerungen gezogen haben, zum Beispiel aus dem Wahlkampf in Sachsen-Anhalt. Wir haben ja dort einen extrem regierungsorientierten Wahlkampf gemacht. Wir haben uns absolut staatstragend gegeben. Und wir haben eigentlich gerade das, was Die Linke ausmacht, dass wir die Politik, die in diesem Lande gemacht wird, dass wir die politische Richtung kritisieren, dass wir deutlich sagen, so, wie es jetzt läuft, darf es nicht weitergehen, und dass alle anderen Parteien – das ist ja leider der Fall – auch verantwortlich dafür sind, dass die soziale Kluft immer größer wird, dass dieses Land sozial zerfällt, diese Attacke, die haben wir überhaupt nicht mehr verkörpert. Und damit haben sich natürlich viele gar nicht mehr – gerade, die unzufrieden sind – von uns nicht mehr angesprochen gefühlt. Und ich denke, wenn wir das in den Landtagswahlkämpfen berücksichtigen und sehr, sehr deutlich sagen, es gibt eigentlich nur eine soziale Alternative, das ist Die Linke.
    Schröder: Sie selbst haben für Irritation gesorgt auch in den eigenen Reihen mit Äußerungen über die Aufnahmekapazitäten, die begrenzt seien in der Flüchtlingspolitik oder auch mit Forderungen, härter gegen kriminelle Ausländer vorzugehen. Muss die Linkspartei sich da korrigieren?
    Wagenknecht: Also, dass Kapazitäten begrenzt sind, ist ja eine Banalität. Also das muss die Linkspartei nicht lernen. Das weiß die Linkspartei, weil das natürlich überhaupt niemand bestreiten kann. Und, dass man Flüchtlingsaufnahme mit einer guten Integrationspolitik verbinden muss, weil sonst natürlich unglaubliche Gefahrenpotenziale entstehen, also das weiß auch in unserer Partei jeder. Natürlich wollen wir keine Parallelwelten. Natürlich wollen wir nicht, dass in einzelnen Wohngebieten Schüler in eine Klasse kommen, wo die Mehrheit der Kinder kein Deutsch spricht. Also das sind ja keine Zustände, die man wollen kann. Und man kann aber auch politisch etwas dagegen tun. Und das Schlimme an der aktuellen Politik ist – und auch an Merkels Politik – dass sie zwar im letzten Jahr relativ großzügig Flüchtlinge aufgenommen hat, aber sie hatte überhaupt keinen Plan, wie sie mit den daraus entstehenden Problemen umgeht. Und sie hat einen Finanzminister, der in erster Linie die Schwarze Null verteidigt. Und das ist natürlich eine Melange, die am Ende dazu führt, dass Probleme eben gar nicht versucht werden zu lösen. Und das führt dann natürlich zu Unmut. Das führt zu Abwehr. Und da kann man aber politisch mit einer anderen Politik natürlich die Probleme auch anders lösen.
    Schröder: SPD-Chef Sigmar Gabriel hat ein Bündnis aller progressiven Kräfte gegen die rechtspopulistischen Bewegungen eingefordert, angeregt. Fühlen Sie sich da angesprochen mitzumachen?
    Wagenknecht: Also ich fühle mich unbedingt angesprochen, wenn es wirklich darum geht, ein Bündnis und eine Politik zur Wiederherstellung des Sozialstaates zu machen. Das ist doch das, worum es geht. Wir haben in Deutschland seit der Jahrtausendwende in etwa eine Politik, die auf massive Weise soziale Sicherungssysteme zerstört hat. Die Rente, die Arbeitslosenversicherung, auch im Gesundheitsbereich, in immer mehr Bereichen werden Menschen in unsichere und prekäre Situationen gebracht. Und das muss sich ändern. Und, wenn Herr Gabriel das möchte, wenn er wirklich eine Politik möchte, die eben gerade auch die Verheerungen der Agenda 2010 zurücknimmt, dann hat er uns als Partner. Aber, wenn er einfach nur Kanzler werden will, aber es soll sich politisch nichts ändern, dann ist es wahrscheinlich nicht eine gute Idee, das mit der Linken zu versuchen.
    Schröder: Was heißt das jetzt? Rot-Rot-Grün – ist das etwas, was Sie aktiv ansteuern oder wo Sie sagen, hat sowieso keinen Sinn?
    Wagenknecht: Also ich will dieses Land verändern und das kann man aus der Regierung besser als aus der Opposition. Ich möchte, dass der soziale Zerfall gestoppt wird. Ich möchte, dass die Menschen wieder sicher sein können, dass sie im Alter ihren Lebensstandard halten können und nicht in die Armut fallen. Und ich möchte auch, dass Menschen von ihrer Arbeit würdig leben können, also nicht nur irgendwie überleben mit einem Zweitjob, sondern dass die Löhne wieder anständig sind. Und die sind unanständig in vielen Bereichen. Und, wenn ich das möchte, suche ich Partner, mit denen ich das realisieren kann. Und, wenn ich dann das Gefühl habe, die Sozialdemokraten würden mitziehen und die Grünen würden auch mitziehen, ja, dann wäre das ein tolles Projekt. Ich finde ...
    Schröder: Aber dieses Gefühl haben Sie noch nicht?
    Wagenknecht: Ja, ich sage mal, es schwankt. Also bei der SPD hat man mal das Gefühl, aber einen Tag später wieder nicht. Und das ist eben schwierig. Ich glaube auch, dass wir ein anderes Wahlergebnis hätten, wenn die Menschen daran glauben würden, dass es wirklich eine alternative Regierungsoption gibt, weil das ja viele auch dazu ermutigen würde, wieder zur Wahl zu gehen, die sich längst zurückgezogen haben. Also insoweit ja, aber ich möchte eine Politik, wo die Menschen sich dann auch wieder aufgehoben fühlen und nicht das Gefühl haben, hier wird eigentlich von mächtigen Wirtschaftslobbys über ihre Köpfe hinweg regiert.
    Schröder: Erster Testlauf für eine rot-rot-grüne Gemeinsamkeit könnte ja die Wahl des Bundespräsidenten im nächsten Jahr sein. Sehen Sie da Chancen zusammenzukommen?
    Wagenknecht: Also das würde ich mir sehr wünschen, weil ich finde, das ist auch wirklich eines der Signale, die dringend notwendig sind. Also, wenn man zur Bundestagswahl irgendwie glaubwürdig verkörpern möchte, dass da eine Alternative entsteht, dann sollte man vorher doch Signale da in diese Richtung setzen. Und insoweit fände ich es auch für dieses Land gut natürlich, wenn wir einen sozial ausgerichteten Bundespräsidenten oder eine Bundespräsidentin hätten und bekommen würden, die dann auch oder der dann auch den Mut hat, seine Stimme zu sozialen Problemen zu erheben, was Herr Gauck leider nie getan hat. Und da sind wir also nicht nur offen, sondern das ist aktiv etwas, wo wir unseren Beitrag leisten würden. Aber letztlich ist auch hier die SPD natürlich in der Vorhand oder muss den Vorschlag machen. Also nicht Die Linke kann jetzt sagen, wir wollen den oder den, sondern die SPD müsste mit Vorschlägen jetzt an uns, an die Grünen herantreten, von denen sie davon ausgehen, dass wir das gut finden. Und dann sollte man das gemeinsam machen.
    Schröder: Frau Wagenknecht, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.
    Wagenknecht: Sehr gerne.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.