In klügeren Momenten gelangt Theater ja sehr oft an jenen Punkt, den Bert Brecht in ein kluges Bild von der Bühne fasste: "Der Vorhang zu, und alle Fragen offen." So sitzt das Publikum - auch ohne Vorhang - vor der jüngsten Arbeit von "Rimini Protokoll"; und das ist nur logisch. Noch lange kann niemand wirklich "wissen", wie das Hirn "tickt" und wie mit ihm wir funktionieren, die ahnungslosen Eigentümer jenes noch immer schwer durchschaubaren Urwalds aus Synapsen.
"Seit in den 90er-Jahren die Dekade des Gehirns ausgerufen wurde, ist die Hirnforschung zur ersten Adresse für die Beantwortung der ganz großen Fragen geworden."
Das "Brain Project" der EU soll letztlich erkunden, inwieweit Bewusstsein und Verhaltensmuster abhängig sind von der Hirn-Aktivität - Irini Skaliora spricht da, Hirnforscherin aus Athen; davor markierte der Neuro-Wissenschaftler und Autor Felix Hasler aus Lichtenstein die Basis auch des Theaterabends. Die Levantinerin Lobna Allamii, vielseitig ausgebildet in Bergsteigen wie in Wissenschaft und Weltmusik, ist die Dritte im Bunde; sie alle beschreiben (überwiegend in übertiteltem Englisch) die Wege eigener Forschungstätigkeit: wie etwa Frau Skaliora Mäusehirne in Scheiben schneidet.
Da wir aber nicht nur Zeuge eines dreistimmigen akademischen Vortrags werden sollen, kommen Bühne und Medien ins Spiel – in kleine szenische Modelle, auf Tische gebaut und unter Kamera-Beobachtung, werden die drei Fachleute oft hinein projiziert; dafür stehen sie dann ihrerseits vor Kameras und außerdem vor grünen Vorhängen, die als neutraler Hintergrund wirken. So kann der Mensch optisch "hineinsteigen" in den Laborversuch - und sogar ins Mäusehirn.
Ambitionierte Rimini-Recherche
Gut so. Aber ein Theaterabend wird so noch lange nicht daraus. Die ambitionierte Rimini-Recherche hat nicht die Spur einer Fabel und führt trotz aller Information zu keinerlei Erkenntnis, die nicht auch nachzulesen wäre. Und nur wenige schöne Gedankenbilder gibt’s: wie das vom Schiff, das jahrelang über die Weltmeere fährt und dabei immerzu repariert wird. Ist es am Ende noch das Schiff, das es mal war? Irini Skaliora singt das Lied, das diese Frage stellt:
"Ich bin Mediziner, ich glaube an Neuronen; die ganze Welt ist nur eine Konstruktion unseres Gehirns. Aber trotzdem, das sage ich Ihnen jetzt gratis als Arzt, sollte man es mit dem Konstruieren nicht übertreiben – sonst sieht man dann eben überall Gespenster. Ihre medizinischen Weisheiten – das sind doch Erfindungen skrupelloser Lügner, die mit fremden Mächten zusammen arbeiten, um uns fertigzumachen."
Dieser Dialog steht im Zentrum von Karin Beiers szenischer Fantasie über die "Gespenster der Freiheit"; vor allem Bunuels "Würgeengel" von 1962 hat für "Hysteria" Pate gestanden. Einer der klügeren Gäste bei der "Housewarming"-Party von Linda und Robert, von Beruf Arzt, versucht dem ungebetenen Gast Schacke, all die Gespenster-Fantasien auszureden, mit denen der die Gesellschaft in Angst und Schrecken versetzt: "Das Fremde" lauere draußen vor dem totalverglasten Bungalow, behauptet dieser Schacke, ein grenzdebiler Brüll-Pöbler wie auf der "Pegida"-Demo; dieser arme Irre vergiftet die Atmosphäre fundamental. Und aus der keimenden Angst erwächst der Terror aller gegen alle. Die meisten sind tot am Ende, aber Linda, schwanger am Beginn, hat das Kind geboren - als wenn da Hoffnung wäre.
Derweil kreist abendfüllend die Glashaus-Bühne von Johannes Schütz, aber wie atmosphärisch dicht Beiers Inszenierung auch zuweilen gerät, gerade dann übrigens, wenn kreativ gespielt wird mit dem Hin und Her vom Sound, kommt diese "Hysteria" über das zentrale Problem nie hinweg: Die Fabel des Abends ist extrem flach und dünn, als Geschichte für’s Theater führt Beiers Fantasie gegen Ende sehr vorhersehbar nur noch in die Langeweile, in die Leere, ins Nichts.
So haben beide Premieren zum Hamburger Schauspielhaus-Auftakt akkurat das gleiche Problem – sie nehmen den eigenen Ort nicht ernst genug: das Theater.