Autorin Sally Freedman, die kürzlich ein Buch zum Thema herausgebracht hat, macht im Dlf deutlich: „Der jüngste Sexismus-Skandal im spanischen Team ist nur die Spitze des Eisbergs und leider nicht das Worst-Cast-Szenario.“ Freedman war im Bereich Kommunikation und Marketing bei zahlreichen Fußball-Vereinen und -Verbänden weltweit angestellt, zuletzt viele Jahre lang auch beim europäischen Fußball-Verband UEFA.
Bei jeder Organisation, bei der sie gearbeitet habe, egal ob bei einem Verein in Australien oder eben dem höchsten europäische Fußball-Verband, der UEFA, hätte es Fälle von Sexismus gegeben. „Es ist bedauerlich, dass solch drastische Ereignisse wie nach dem WM-Finale nötig sind, damit die Leute aufwachen und dagegen angehen.“
Freedman sieht eine dringende Notwendigkeit, Frauen im Fußball mehr Chancen zu geben und ihre Beteiligung in Führungspositionen zu fördern. Echter Wandel sei nur möglich, wenn männliche Führungspersonen, die gegen Veränderungen resistent sind, von der Spitze der Verbände weichen und Frauen in höhere Positionen unterstützt und gefördert werden. „Wir müssen Frauen ermutigen, sich zu bewerben und sie unterstützen, wenn sie da sind. Solange diese männlichen Kumpeltypen und Dinosaurier an der Spitze der Verbände stehen und nicht verschwinden, wird es sehr schwer, systematischen Wandel einzuleiten.“
Das gesamte Interview im Wortlaut:
Raphael Späth: Wie bewerten Sie den Skandal im spanischen Fußball?
Sally Freedman: „Ich würde sagen, dass das nur die Spitze des Eisbergs ist. Ich habe in meinem Buch auf 180 Seiten ja auch explizit aufgelistet, welche Erfahrungen ich selbst mit Sexismus in der Fußballbranche gesammelt habe. So traurig das auch war, zu sehen, was mit dem spanischen Team auf dieser Weltbühne passiert ist: Überrascht darüber war ich nicht. Weil ich in meiner Karriere im Fußballgeschäft ähnliche Dinge erfahren habe, und mein Buch hätte auch gut und gerne als Lexikon dafür herhalten können.“
Späth: Was genau haben Sie denn erlebt?
Freedman: „Es gibt viele verschiedene Anekdoten im Buch, die aufzeigen, wie systematisch dieses Problem ist. Ich habe in Australien gearbeitet, in Neuseeland und zuletzt für die UEFA in der Schweiz. Und während meiner Karriere gab es so viele Beispiele von Sexismus und Misogynie. Es gibt eine Situation, durch die ich mich gut in das hineinversetzen kann, was Jenni Hermoso passiert ist.
Das EM-Finale vor zwei Jahren zwischen England und Italien habe ich als Fan im Wembley-Stadion verfolgt. Ich bin damals mit meinem Bruder ins Stadion gegangen, es war das erste Mal seit Jahren, dass England wieder in einem großen Finale stand. Und dazu waren wir ja alle wie Tiere weggesperrt durch die Pandemie für zwei Jahre. Das war also der perfect Storm. Fans, die plötzlich wieder rausgelassen wurden aus ihren Käfigen. Das war Wahnsinn, so chaotisch. Ich hatte Todesangst bei diesem Spiel, und ich war schon auf der ganzen Welt bei Fußballspielen.
Aber vor allem eine Sache ist bei mir hängen geblieben: Ein paar Stunden vor Anpfiff kam ein Typ von hinten auf mich zu. Ich kannte ihn nicht, ein betrunkener englischer Fan, der mir dann einen fetten, nassen Kuss auf die Wange gab und ein Foto mit mir machen wollte. Und dann meinte er zu meinem Bruder: Pass gut auf sie auf, sie ist wunderschön. Und ich habe einfach nur nervös gelacht und mir gedacht: Wer ist der Typ? Lass uns einfach das Foto machen. Ganz harmlos, er ging weg, und schon war‘s vorbei. Aber das ist natürlich alles andere als okay: Einfach so an eine fremde Person herantreten, sie fest von hinten umarmen und küssen.
Und es gab viele ähnliche Vorfälle während der Partie, aber das ist hängengeblieben, weil es einen ganz guten Einblick darin gibt, was ich alles erlebt habe als Frau im Männergeschäft Fußball. Und da habe ich ja noch nichtmal gearbeitet, ich war einfach nur als Fan da.“
Sexismus ist tief im Fußball verankert
Späth: Genau das wollte ich gerade sagen: Wir hören ja immer wieder von solchen Vorfällen in der Fanszene im Fußball. Aber der Fall in Spanien zeigt ja, wie tief Sexismus auch strukturell im Fußball verankert ist, in den Verbänden selbst.
Freedman: „Ja, ich beschreibe das auch in meinem Buch: Ich habe in vielen Marketing- und Kommunikationsabteilungen im Fußball gearbeitet, auf der ganzen Welt. In der Fanarbeit war ich auch aktiv. Und bei jeder Organisation, bei der ich gearbeitet habe, egal ob bei einem Verein in Australien oder dem höchsten europäische Fußball-Verband, der UEFA, gibt es Fälle von Sexismus. Von daher: Der Fall in Spanien ist definitiv nur die Spitze des Eisbergs und leider nicht das Worst-Case-Szenario.“
Späth: Wir haben in den letzten Jahrzehnten ja immer wieder nicht nur Fälle von Sexismus im Fußballgeschäft, sondern auch von sexualisierter Gewalt gehört, wir haben den Kampf um gleiche Bezahlung in den USA, Kanada, Afrika aber auch hier in Europa miterlebt. Aber was wir bisher noch nicht gesehen haben, ist diese Art von Empörung auf gesellschaftlicher Ebene und auch die Welle der Solidarisierung für die spanischen Fußballerinnen auf der ganzen Welt. Sind Sie überrascht darüber, dass dieser Fall jetzt so öffentlichkeitswirksam wurde?
Freedman: „Ich glaube, dass es jetzt endlich mal an der Zeit ist. Es ist traurig, dass es einen Kuss gebraucht hat, damit die Leute mal aufstehen und zuhören. Es ist wie so oft bei Frauen: Es müssen erst solche gravierenden Dinge passieren wie jetzt nach dem WM-Finale, damit die Leute aufmerksam werden und sich dagegen auflehnen. Ich war nicht überrascht, weil es im Hintergrund schon länger gebrodelt hat, es gab ja schon Berichte über Sexismus im Sport, in der Wissenschaft, oder der Wirtschaft fast täglich in den Nachrichten in den letzten Jahren. Wir wissen also jetzt, dass es existiert. Und zwar gesellschaftsübergreifend.
Und dieser Fall ist jetzt so explodiert, weil er auf der Weltbühne zu sehen war – von Millionen von Menschen. Und obwohl es traurig ist, dass es das jetzt gebraucht hat, um die Menschen aufzuwecken, ist das auch ein Glücksfall: Stellen wir uns mal vor, Spanien hätte den WM-Titel nicht gewonnen. Wenn das nicht passiert wäre, dann hätten diese Männer wahrscheinlich alle noch ihre Jobs. Und es hat ja trotzdem noch ein paar Wochen gedauert, bis sie schlussendlich ihre Jobs verloren haben. Das ist ja nicht von jetzt auf gleich passiert.
Als Frauen sind wir es gewohnt, so hart zu arbeiten und auf diese Möglichkeiten zu warten, genauso wie es ja auch in England nach dem EM-Titel letztes Jahr war: Sie mussten erst einen Titel gewinnen, bevor sie mal an die Regierung schreiben konnten, mit dem Anliegen: Mal so ganz nebenbei, könnte jetzt endlich jedes Mädchen in der Schule auch Zugang zum Fußball bekommen? Was wäre passiert, wenn England nicht gewonnen hätte? Warum braucht es eine Trophäe, damit jedes Mädchen in der Schule Fußball spielen kann? Das ist doch verrückt.
Also ist es auf irgendeine Art und Weise auch gut, dass jetzt endlich darüber gesprochen wird. Wir sehen Homophobie, Anti-Semitismus, Rassismus regelmäßig in den Nachrichten und der Fußball tut viel, um dagegen anzukämpfen. Aber bis vor Kurzem hat niemand über Sexismus in der Branche gesprochen. Es wird also endlich Zeit.“
"Wir machen Babyschritte, es ist noch ein weiter Weg"
Späth: Wenn wir uns den Fall in Spanien anschauen, dann sehen wir, dass Luis Rubiales, der Verbandspräsident, nicht nur zurückgetreten ist, sondern auch angezeigt wurde. Es laufen sogar Verfahren gegen den Nationaltrainer und gegen weitere Offizielle. Ist das nicht auch ein Indikator dafür, dass das System, das momentan existiert, so funktioniert?
Freedman: „Naja… endlich. Aber es gibt auch viele Fälle, in denen es keine Konsequenzen und keine Bestrafungen gab. Dieser Fall musste ja jetzt fast schon etwas ins Rollen bringen. Aber es hat zu lange gedauert. Die FIFA hat eine Weile geschwiegen, die UEFA war komplett still, obwohl Rubiales Vize-Präsident war. Also: Ja, es ist gut, dass wir jetzt Konsequenzen sehen und das die Leute jetzt verantwortlich dafür gemacht werden. Aber der Weg ist noch weit. Die spanischen Fußballerinnen haben ja trotzdem gestreikt. Jenni Hermoso wurde auch aus dem Kader gestrichen, angeblich weil man sie beschützen wolle. Aber vor was denn? Daran sieht man: Wir machen Babyschritte, aber das Problem ist noch nicht gelöst.“
Späth: Glauben Sie, dass der spanische Verband dahingehend ein Game Changer sein kann?
Freedman: „Ich will da positiv eingestellt sein und denke auch, dass wir das Narrativ wegbewegen müssen von dieser Negativität, von diesem „Das war schrecklich und hätte niemals passieren dürfen.“ Es ist passiert, lasst uns jetzt den Fokus darauf legen, wie wir das Problem lösen können. Damit die Chancen in Zukunft geringer sind, dass so etwas nochmal passiert. Und ich reiße ein paar Lösungsvorschläge in meinem Buch auch an. Ich schiebe den Männern die Schuld nicht in die Schuhe.
Manchmal sind es einfach unterbewusste Vorurteile, die zum Vorschein kommen, ohne dass sie es wissen. Sie werden von ihren Kollegen ermutigt und sind noch nicht so sensibilisiert, dass sie verstehen, was sie da eigentlich tun. In diesem Fall bin ich mir sicher, dass Rubiales ganz genau wusste, was er tut und ihm klar war, dass das falsch war bzw. er wissen sollte, dass das falsch war. Aber in vielen Fällen geht es halt um Alltagssexismus.
Also: Es ist noch ein weiter Weg, was die Sensibilisierung angeht. Aber es ist elementar wichtig, dass die Entscheidungsträger an der Spitze verstehen, was für Vorteile eine geschlechtergleiche Welt mit sich bringt und was die Vorteile sind, wenn wir weniger Sexismus haben und mehr Frauen als Entscheidungsträgerinnen, damit ihre Ideen und Meinungen auch mit einfließen und gehört werden können. Ich bin kein Fan von Quoten, aber wir müssen Frauen mehr Chancen geben, an der Spitze zu stehen. Und wenn sie da stehen, müssen wir sie unterstützen. Sie müssen in diese Entscheidungsprozesse mit eingebunden werden.
Frauen ermutigen, sich auf Stellen zu bewerben
Späth: Und wie kann man das umsetzen? Wenn man sich einen Großteil der Verbände weltweit anschaut, stehen da vor allem Männer an der Spitze. Der Fußball befindet sich immer noch in einer Art Blase, die schwer zum Platzen zu bringen ist. Wie kann man also das, was sie fordern, umsetzen, ohne eine Revolution loszutreten?
Freedman: „Ich bin kein Fan von Quoten, aber was ich immer wieder höre: Es bewerben sich ja nur Männer, das ist eben ein männerdominiertes Feld – das ist für mich keine Ausrede. Wenn sich 100 Männer bewerben, und man vier davon dann zum Vorstellungsgespräch einlädt – was wird dann passieren? Ein Mann bekommt den Job. Was also getan werden muss: Ein paar Schritte zurückgehen, und Frauen ermutigen, sich für diese Stellen zu bewerben. Man muss sie finden, dafür muss natürlich auch eine gewisse Geschlechterbalance in dem Pannel bestehen, das Leute rekrutiert. Wo schauen sich Frauen häufig nach Jobs um? Wo werden ihnen andere Jobs angeboten? Auf welchen Websites?
Und wenn man dann zwei Männer und zwei Frauen zum Vorstellungsgespräch einlädt und ein Mann dann den Job bekommt, dann ist das halt so. Aber momentan setzen wir ja nicht einmal den ersten Schritt um. Wir ermutigen Frauen nicht, sich zu bewerben. Wir unterstützen sie nicht, wenn sie dann mal an der Spitze stehen. Wir geben ihnen nicht den Support, den sie brauchen. Also ist das glaube ich ein Schritt, den Verbände gehen können: Frauen auf dem Weg nach oben zu unterstützen und eine Art Pipeline zu haben, eine Nachfolgeplanung zu haben. So dass irgendwann die Einstellung besteht: Sie ist gut, er ist gut, lasst uns dafür sorgen, dass wir ihnen zur Seite stehen und beide unterstützen auf dem Weg nach oben.
Ich glaube also, dass es Wege gibt und dass wir wegkommen müssen von diesem Gedanken: Es bewerben sich halt nur Männer. Wenn wir diese Einstellung haben, wird sich nie etwas ändern. Wir müssen Frauen dazu ermutigen, sich zu bewerben und sie unterstützen, wenn sie da sind. Damit die Nachwuchskräfte dann Vorbilder haben. Als ich in dieser Position war, hatte ich nämlich keine Vorbilder. Weil es sonst nur Männer waren.“
Spitze der Verbände muss sich ändern
Späth: Wie weit sind wir denn auf diesem Weg? Wenn wir uns zum Beispiel mal die FIFA anschauen: Die FIFA versucht mehr und mehr, in Frauenfußball zu investieren. Einer ihrer großen Slogan ist: Wir wollen Equality, Gleichberechtigung, und zwar überall. So stark die FIFA auch kritisiert wurde zuletzt, bewegt sie sich immerhin in diese Richtung. Wie weit ist der Weg also noch auf Verbandsebene?
Freedman: „Wir haben bisher vielleicht zwei Babyschritte von 10.000 Schritten gemacht. Wir sind nicht mal ansatzweise da, wo wir hin müssten, um das Problem zu lösen. Wie ich gesagt habe: Für jeden Schritt nach vorne, den wir machen – okay, in Spanien wurden jetzt endlich mal Leute zur Rechenschaft gezogen und es hat Konsequenzen gegeben – gibt es am nächsten Tag neue Schlagzeilen, die so schlimm sind wie das, was wir zuletzt gesehen haben.
Dieses Problem wird nicht von heute auf morgen gelöst. Ja, es ist toll, dass Frauenfußball endlich mehr Aufmerksamkeit bekommt und die FIFA Equality- und Diversitätsstrategien aufsetzt und merkt, dass etwas getan werden muss. Aber ich bin der Meinung: Solange diese männlichen Kumpeltypen und Dinosaurier an der Spitze der Verbände stehen und nicht verschwinden, wird es sehr schwer, systematischen Wandel einzuleiten.“
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.