Karin Fischer: "Nicht einmal in meinen Albträumen", schreibt Charlotte Knobloch, "habe ich geahnt, dass ich mir kurz vor meinem 80. Geburtstag die Frage stellen muss, ob ich den Judenmord überleben durfte, um das erleben zu müssen." Mit "das" meint die ehemalige Vorsteherin des Zentralrats der Juden in Deutschland die besserwisserische Art, in der sich Mediziner, Juristen, Psychologen und Moralapostel zur Beschneidung geäußert haben, die eine Jahrtausende alte Kulturtradition der Juden ist, womit sie, laut Knobloch, die ohnedies verschwindend kleine jüdische Existenz in Deutschland infrage stellen. Den Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland und Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt, Salomon Korn, habe ich gefragt, wie er diese Sätze gelesen hat - als rhetorische Kampfansage, oder als berechtigten Ausdruck höchster Sorge?
Salomon Korn: Ich glaube, Letzteres ist der Fall, weil Frau Knobloch doch einer Generation angehört, die man ja heute gemeinhin als Erlebnisgeneration bezeichnet, und ich habe Verständnis dafür, dass da Ängste und Traumata reaktiviert werden durch solche Debatten. Die Frage ist allerdings, ob sie der Wirklichkeit entsprechen, oder ob es sich hier nicht doch auch, sagen wir, um eine mediale Zuspitzung eines Themas handelt, das ja schon wegen seiner sexuellen Komponente sozusagen untergründig in jedem von uns drinsteckt und bei jedem von uns Assoziationen, Ängste und vielleicht sogar Vorurteile weckt.
Fischer: Und stimmt es denn, Herr Professor Korn, dass gerade auf der Vorurteilsebene der Antisemitismus in den letzten Jahren wieder stärker in Deutschland verbreitet sei, wie das mancherorts behauptet wird? Ich weiß nicht, ob es sich durch Studien recht belegen lässt und ob der Angriff auf den Berliner Rabbiner tatsächlich auch als Beweismittel für so eine systematische Frage taugt. Das Deutschland des Jahres 2012 unterscheidet sich doch wesentlich von dem des Jahres 1960.
Korn: Auch hier, glaube ich, ist es wiederum die mediale Wahrnehmung, die uns wahrscheinlich nicht das wirkliche Bild vor Augen führt. Wir wissen aus Umfragen seit der Silbermann-Studie in den 70er-Jahren – und diese Umfragen zum Antisemitismus werden ja alle paar Jahre erneuert -, dass circa 20 Prozent der deutschen Bevölkerung antisemitische Vorurteile hat, meistens latent. Das bedeutet aber auf der anderen Seite, dass 80 Prozent keine haben, oder wenigstens solche, die man nicht als solche bezeichnen darf. Und wir haben nun mal ein Thema, das sich der Rationalität entzieht, und an dem lassen sich natürlich dann Vorurteile und Ängste und alles, was damit zusammenhängt, festmachen.
Fischer: Ein interessanter Punkt im Artikel von Charlotte Knobloch scheint mir die Bemerkung, wenn es auch nur eine Randbemerkung war, deutsche Juden seien eine verschwindend kleine Minderheit, vielleicht 10.000 Menschen. Das ist richtig, aber natürlich auch stark negativ akzentuiert, während wir uns ja angewöhnt haben, in Deutschland von einer aufblühenden jüdischen Gemeinde zu sprechen, die sozusagen befeuert wird von den Zuzügen aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion.
Korn: Ja! Frau Knobloch hängt natürlich noch sozusagen dem Ideal oder dem sogenannten Ideal des deutschen Judentums an. Das waren jene Juden, die eben bis zum sogenannten Dritten Reich hier gelebt haben, dann vertrieben oder ermordet wurden. Das waren Juden, die ja durch die Knochen deutscher waren als die Deutschen, die häufig mit dem Judentum gar nichts mehr zu tun haben. Dass von denen vielleicht nur noch 10.000 leben, mag stimmen, ich kann die Zahl nicht überprüfen. Aber die Juden, die heute in der Bundesrepublik Deutschland leben, das sind rund 250.000, davon sind ungefähr 107.000 in jüdischen Gemeinden organisiert, haben mit diesem ehemaligen Judentum gar nichts mehr zu tun. Das ist so marginal, dass man eigentlich darüber gar keine Worte mehr verlieren kann. Das heutige Judentum setzt sich zusammen aus den Menschen, die nach 1945 in Deutschland geblieben sind, also vorwiegend Juden aus Polen und dem Osten Europas, und den jüdischen Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion, die 1989 oder seit 1989 nach Deutschland gekommen sind. Und hier ist in der Tat ein völlig anderes Judentum sozusagen im Wachsen und im Werden, das mit dem deutschen Judentum nichts zu tun hat, und da hängt vielleicht Frau Charlotte Knobloch – man kann es vielleicht verstehen von der Biografie her – einem Judentum an, das es eben wirklich nicht mehr gibt und das es auch in dieser Qualität, in diesem Umfang, in dieser Ausrichtung auch nicht mehr geben wird.
Fischer: Die Beschneidungsdebatte, wird man in drei Monaten sagen können, war überflüssig wie ein Kropf, behaupte ich jetzt mal. Was, wenn Sie vom Judentum in Deutschland sprechen, braucht das Judentum in Deutschland? Mehr Unterstützung?
Korn: Ja! Zunächst mal wäre es natürlich gut, wenn von offizieller Seite, sagen wir mal, Aufklärungskampagnen unterstützt würden, die auch verdeutlichten, dass Juden in Deutschland zunächst mal seit 1700 Jahren in diesem Land leben, also länger als die meisten deutschen Stämme, die erst im 4., 5. und 6. Jahrhundert während der Völkerwanderung zugewandert sind. Also Juden sind hier keine Fremdlinge, keine Eindringlinge, keine Flüchtlinge, die in dieses Land gekommen sind, sondern sie sind Teil der deutschen Kultur und eben keine Sondergruppe, die auch einer sogenannten Sonderbehandlung, besonders schonend zum Beispiel, bedarf. Nein, Menschen wie du und ich, die einen anderen Glauben haben, die ein anderes Schicksal haben, die vielleicht einer Schicksalsgemeinschaft angehören, die den Völkermord der Nationalsozialisten überlebt hat, aber ansonsten Menschen wie du und ich, und es gibt ja auch in Deutschland durchaus eine Entwicklung, die mich zumindest doch ganz hoffnungsvoll stimmt, dass das jetzt gerade bei der jüngeren Generation sichtbar wird, dass die Vorurteile, die ich noch vor Jahrzehnten bei der älteren Generation ausmachen konnte, jetzt nicht mehr oder nicht mehr in demselben Maße auftreten, selbst wenn das medial anders dargestellt wird.
Fischer: Einschätzungen zur Situation der Juden in Deutschland von Salomon Korn waren das.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Weitere Infos zur Beschneidungsdebatte auf dradio.de:
Beschneidungsdebatte bricht nicht ab - Knobloch sieht jüdische Existenz in Deutschland bedroht
Aktuelle Rechtslage "gibt klare Bedingungen für eine Beschneidung" - Rechtspolitischer Sprecher hält ausführliche Diskussion für nötig
Salomon Korn: Ich glaube, Letzteres ist der Fall, weil Frau Knobloch doch einer Generation angehört, die man ja heute gemeinhin als Erlebnisgeneration bezeichnet, und ich habe Verständnis dafür, dass da Ängste und Traumata reaktiviert werden durch solche Debatten. Die Frage ist allerdings, ob sie der Wirklichkeit entsprechen, oder ob es sich hier nicht doch auch, sagen wir, um eine mediale Zuspitzung eines Themas handelt, das ja schon wegen seiner sexuellen Komponente sozusagen untergründig in jedem von uns drinsteckt und bei jedem von uns Assoziationen, Ängste und vielleicht sogar Vorurteile weckt.
Fischer: Und stimmt es denn, Herr Professor Korn, dass gerade auf der Vorurteilsebene der Antisemitismus in den letzten Jahren wieder stärker in Deutschland verbreitet sei, wie das mancherorts behauptet wird? Ich weiß nicht, ob es sich durch Studien recht belegen lässt und ob der Angriff auf den Berliner Rabbiner tatsächlich auch als Beweismittel für so eine systematische Frage taugt. Das Deutschland des Jahres 2012 unterscheidet sich doch wesentlich von dem des Jahres 1960.
Korn: Auch hier, glaube ich, ist es wiederum die mediale Wahrnehmung, die uns wahrscheinlich nicht das wirkliche Bild vor Augen führt. Wir wissen aus Umfragen seit der Silbermann-Studie in den 70er-Jahren – und diese Umfragen zum Antisemitismus werden ja alle paar Jahre erneuert -, dass circa 20 Prozent der deutschen Bevölkerung antisemitische Vorurteile hat, meistens latent. Das bedeutet aber auf der anderen Seite, dass 80 Prozent keine haben, oder wenigstens solche, die man nicht als solche bezeichnen darf. Und wir haben nun mal ein Thema, das sich der Rationalität entzieht, und an dem lassen sich natürlich dann Vorurteile und Ängste und alles, was damit zusammenhängt, festmachen.
Fischer: Ein interessanter Punkt im Artikel von Charlotte Knobloch scheint mir die Bemerkung, wenn es auch nur eine Randbemerkung war, deutsche Juden seien eine verschwindend kleine Minderheit, vielleicht 10.000 Menschen. Das ist richtig, aber natürlich auch stark negativ akzentuiert, während wir uns ja angewöhnt haben, in Deutschland von einer aufblühenden jüdischen Gemeinde zu sprechen, die sozusagen befeuert wird von den Zuzügen aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion.
Korn: Ja! Frau Knobloch hängt natürlich noch sozusagen dem Ideal oder dem sogenannten Ideal des deutschen Judentums an. Das waren jene Juden, die eben bis zum sogenannten Dritten Reich hier gelebt haben, dann vertrieben oder ermordet wurden. Das waren Juden, die ja durch die Knochen deutscher waren als die Deutschen, die häufig mit dem Judentum gar nichts mehr zu tun haben. Dass von denen vielleicht nur noch 10.000 leben, mag stimmen, ich kann die Zahl nicht überprüfen. Aber die Juden, die heute in der Bundesrepublik Deutschland leben, das sind rund 250.000, davon sind ungefähr 107.000 in jüdischen Gemeinden organisiert, haben mit diesem ehemaligen Judentum gar nichts mehr zu tun. Das ist so marginal, dass man eigentlich darüber gar keine Worte mehr verlieren kann. Das heutige Judentum setzt sich zusammen aus den Menschen, die nach 1945 in Deutschland geblieben sind, also vorwiegend Juden aus Polen und dem Osten Europas, und den jüdischen Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion, die 1989 oder seit 1989 nach Deutschland gekommen sind. Und hier ist in der Tat ein völlig anderes Judentum sozusagen im Wachsen und im Werden, das mit dem deutschen Judentum nichts zu tun hat, und da hängt vielleicht Frau Charlotte Knobloch – man kann es vielleicht verstehen von der Biografie her – einem Judentum an, das es eben wirklich nicht mehr gibt und das es auch in dieser Qualität, in diesem Umfang, in dieser Ausrichtung auch nicht mehr geben wird.
Fischer: Die Beschneidungsdebatte, wird man in drei Monaten sagen können, war überflüssig wie ein Kropf, behaupte ich jetzt mal. Was, wenn Sie vom Judentum in Deutschland sprechen, braucht das Judentum in Deutschland? Mehr Unterstützung?
Korn: Ja! Zunächst mal wäre es natürlich gut, wenn von offizieller Seite, sagen wir mal, Aufklärungskampagnen unterstützt würden, die auch verdeutlichten, dass Juden in Deutschland zunächst mal seit 1700 Jahren in diesem Land leben, also länger als die meisten deutschen Stämme, die erst im 4., 5. und 6. Jahrhundert während der Völkerwanderung zugewandert sind. Also Juden sind hier keine Fremdlinge, keine Eindringlinge, keine Flüchtlinge, die in dieses Land gekommen sind, sondern sie sind Teil der deutschen Kultur und eben keine Sondergruppe, die auch einer sogenannten Sonderbehandlung, besonders schonend zum Beispiel, bedarf. Nein, Menschen wie du und ich, die einen anderen Glauben haben, die ein anderes Schicksal haben, die vielleicht einer Schicksalsgemeinschaft angehören, die den Völkermord der Nationalsozialisten überlebt hat, aber ansonsten Menschen wie du und ich, und es gibt ja auch in Deutschland durchaus eine Entwicklung, die mich zumindest doch ganz hoffnungsvoll stimmt, dass das jetzt gerade bei der jüngeren Generation sichtbar wird, dass die Vorurteile, die ich noch vor Jahrzehnten bei der älteren Generation ausmachen konnte, jetzt nicht mehr oder nicht mehr in demselben Maße auftreten, selbst wenn das medial anders dargestellt wird.
Fischer: Einschätzungen zur Situation der Juden in Deutschland von Salomon Korn waren das.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Weitere Infos zur Beschneidungsdebatte auf dradio.de:
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