Von außen betrachtet, wirkt alles recht harmlos. Wir sehen eine Hotellobby in dunkel getäfeltem Edeldesign, rechts eine Bar, in der Mitte hinten ein Treppenaufgang, der sich teilt und rechts und links zur Galerie der Hotelzimmer führt. Das gedämpfte Licht der Wandleuchten vermittelt Behaglichkeit und signalisiert nächtliche Stunden. Ein Allerweltsort gepflegter Langeweile. Bühnenbildner Rolf Glittenberg hat das Einheitsambiente für diesen "Don Giovanni" solide gestaltet. Dass es mit Ruhe und Behaglichkeit aber nicht weit her ist, macht die Ouvertüre unmissverständlich deutlich.
Bedrohliche Atmosphäre
Christoph Eschenbach am Pult sorgt mit den Wiener Philharmonikern für eine sehr bedrohliche Atmosphäre. Großsymphonische Schwärze steigt aus dem Graben auf. Gekonnt breiten sie ihren Mozart aus, den sie natürlich in- und auswendig kennen. Mitunter aber hat man das Gefühl, dass die gesamte Komposition auch ohne Dirigent und nur mit einem etwas flexibleren Metronom als Kapellmeisterersatz heruntergeschnurrt werden könnte. Alles ist da, auch durchaus mit Elan musiziert, mit Könnerschaft sowieso, und doch wirkt vieles undifferenziert, so jedenfalls der Eindruck vom ersten Rang an der Seite: Routine auf hohem Niveau, aber doch nur Routine. Eine individuelle Handschrift lässt sich nicht erkennen.
Dabei bietet der "Don Giovanni" ein so reichhaltiges Deutungsmaterial. Unter den Sängern sticht heraus Anett Fritsch. Sie singt die von Don Giovanni ewig versetzte und ihm ewig hinterherrennende Donna Elvira. Ihren Schmerz und ihre Sehnsucht singt Anett Fritsch mit eleganter Schönheit und ihre Warnung vor der List des Verführers mit glänzender Kraft.
Diese Donna Elvira kann eines der Zimmermädchen des Hotels, Zerlina, vor diesem zudringlichen Gast Don Giovanni bewahren. Die schlaue Zerlina muss sämtliche Verführungskünste aufbieten, um ihren Bräutigam, den Barkeeper Masetto, wieder zu besänftigen. Valentina Nafornita als Zerlina ist die zweite große Überraschung dieser Salzburger Opernsaison-Eröffnung. Präzise, schlank, kultiviert ist ihr Sopran und vollkommen beseelt.
Amoral von Don Giovanni
Don Giovanni bringt mit seiner libidogesteuerten Amoral in dieser Nacht die ganze Hotelordnung ins Wanken. Denn eigentlich herrscht der Hotelchef, der Komtur, mit strengem moralischem Zepter über seinen Laden. Die Prostituierten wurden schon während der Ouvertüre von Männern in schwarzer Uniform aus den Hotelzimmern geschleppt und rausgeworfen. So hat der Salzburger Schauspielchef Sven-Eric Bechtolf als Regisseur des "Don Giovanni" einen normativen Rahmen inszeniert, damit der permanent notgeile Titelheld gegen die Regeln verstoßen kann und der Skandal seiner Unzucht fassbar werden soll. Auf diese Weise meint Bechtolf die Lasterhaftigkeit und Bösartigkeit, für die Don Giovanni am Schluss sogar mit der Hölle bestraft wird, uns Heutigen verständlich machen zu müssen. Da die libertinäre Entgrenzung zu Beginn des 21. Jahrhunderts kein Tabu mehr ist, setzt Bechtolf das Tabu per Bühnenbehauptung wieder ein. Tatsächlich tritt am Schluss ein ganzes Teufelsrudel mit roten Gesichtern und schwarzen Hörnern auf. Aber erschrecken können uns die Höllenwesen nicht. Diese Inszenierung hat kein Furchtpotenzial.
Auch Ildebrando D'Arcangelo als Don Giovanni lehrt uns das Fürchten nicht, trotz seines starken Basses. Er bleibt in dieser Inszenierung ein sehr biederer Charakter. Seine Sexsucht ist ja nur eine seiner Persönlichkeitsschichten. Seinen existenziellen Lebenshunger würde man samt der Gefahren für ihn und andere gerne genauer kennenlernen. Aber das traut sich Bechtolf nicht. So kommen die Salzburger Festspiele zum Auftakt insgesamt weder szenisch noch musikalisch über die gepflegte Langeweile einer Hotellobby hinaus. Auch wenn am Schluss alles jubelt.