Charlotte Salomon, gesprochen und gespielt von Johanna Wokalek, sitzt zwischen Orchester und Bühne, einer endlosen Flucht kahler und spärlich möblierter Zimmer, und malt und erzählt im Jahr 1940/41 ihre eigene Lebensgeschichte, eine wahre Geschichte, die Geschichte der fiktiven Charlotte Kann. Charlotte Salomon ist älter geworden als ihre Leidensgenossin Anne Frank. 26 Jahre alt war Charlotte, als die Deutschen sie in Auschwitz ermordeten. Im fünften Monat schwanger. Wie Anne Frank hatte sich Charlotte Salomon versteckt. Nicht in einem Hinterhaus in Amsterdam, sondern in Nizza, zusammen mit ihrem Mann. Irgendjemand hat sie dann denunziert.
"Singespiel" statt Tagebuch
Sie hat kein Tagebuch geschrieben, aber ein "Singespiel", wie sie es nannte. In einem Schaffensrausch über 18 Monate hinweg malte sie in 1325 Gouachen die Geschichte ihrer Familie in Berlin bis zur Flucht und zum Exil in Südfrankreich.
Ein expressionistischer Bilderzyklus versehen mit Erzähltexten, Zitaten des Vaters, der Stiefmutter, der Großeltern, der Nationalsozialisten und mit zahlreichen musikalischen Verweisen auf die Musik ihrer Kindheit und Jugend. Lieder, Oratorien, Opern werden zitiert, vor allem Bizets "Carmen", aber auch Schlager, Gassenhauer, Weihnachtslieder und das Marschgegröle der Nazis. Rund 800 dieser Blätter stellte Charlotte Salomon für ihr "Singespiel" zusammen unter dem Titel "Leben? oder Theater?", ein autobiographischer Comic über Leben und Sterben einer jüdischen Familie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Starke Orientierung am Ursprungstext
Barbara Honigmann als Librettistin und Marc-André Dalbavie als Komponist haben daraus eine Oper gemacht, und Luc Bondy hat sie schlicht, aber eindringlich inszeniert. Alle drei haben sie Charlotte Salomons "Singespiel" weitgehend für ihren jeweiligen Part übernommen. Eigentlich müsste man die Titelheldin von Marc-André Dalbavies Oper auch als Mitkomponistin, als Mitautorin und sogar Co-Regisseurin bezeichnen.
Barbara Honigmanns Libretto besteht aus über 80 Prozent Salomon-Text, Luc Bondy lässt auf die Wände der Zimmer immer wieder Charlottes Gouachen projizieren, den Musiksalon daheim, Szenen der ersten Liebe, den antisemitischen Mob auf der Straße, die Flucht per Schiff. Marc-André Dalbavie nimmt die vielen Musikreminiszenzen des "Singespiels" direkt auf wie die "Carmen".
Protagonistin entscheidet sich für das Leben und stirbt
Dalbavies Oper gleicht mitunter einer Zitaten-Revue, einem musikalischen Bilderbogen, dessen Klänge er in die eigenen überführt. Seine eigene Tonsprache ist eher illustrierend. Sie will dem Theater dienen und mehr atmosphärisch wirken als deuten. Nach wie vor orientiert sich Dalbavie an den harmonischen Farben des Obertonspektrums und bleibt der Schule der französischen Spektralisten treu. Die serielle und atonale Avantgarde war seine Sache noch nie. Sehr melodische Linien darf seine "Singespiel"-Charlotte singen. Mit dunkel funkelndem Timbre setzt das die französische Mezzosopranistin Marianne Crebassa um.
Die malende und erzählende Charlotte Salomon der Johanna Wokalek in schwarzem Rock und blauem Pullover drängt es immer mehr auf die Bühne ihrer eigenen Geschichte, zu ihrem alter Ego Charlotte Kann, ebenfalls in schwarzem Rock und blauem Pullover. Indem sie ihre eigene Geschichte und die ihrer Familie, in der sich viele selbst umgebracht haben, rekapituliert, kann Charlotte schließlich ihrem eigenen Todestrieb widerstehen.
Sie entscheidet sich für das Leben. Dem die Nazis ein jähes Ende setzen. Chronologisch, übersichtlich und doch poetisch wird dieses Schicksal in Salzburg erzählt. Die Lebensgeschichte der historischen Charlotte Salomon bringt uns diese Oper sehr nahe. Ausgereift ist sie allerdings noch nicht. Die Liebesverwicklungen in Berlin müssten stark eingekürzt werden. Dann bliebe ein im besten Sinne einfaches Stück mit leichter Musik, eine publikumsfreundliche Oper vor allem für junge Zuhörer.