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Sammelband zur "Aktualität Susan Sontags"
Autorin ohne Berührungsängste

Die amerikanische Kulturkritikerin Susan Sontag wurde durch ihre Essays über die sogenannte Camp-Ästhetik bekannt. Sie schrieb über Fotografie, Pornografie und den Zusammenhang von Krankheit und Sprache. Ein neuer Sammelband fragt, wie aktuell ihr schillerndes und radikales Werk heute ist.

Von Maik Brüggemeyer |
    Porträt von Susan Sontag, das Kinn auf ihre Hand gestützt
    Autorin, Kulturkritikerin, Journalistin: Susan Sontag auf einer Veranstaltung der Leipziger Buchmesse 2002. Die New Yorkerin starb am 28. Dezember 2004. (imago/gezett)
    "Radikales Denken" haben die Literaturwissenschaftlerinnen Anna-Lisa Dieter und Silvia Tiedtke die von ihnen herausgegebene Aufsatzsammlung zur Aktualität des Werks der US-Autorin Susan Sontag überschrieben. Das Wort "radikal" hat seinen Ursprung im lateinischen Begriff für "Wurzel" – "radix". Wer radikal denkt, gräbt also im Verborgenen und holt es ans Licht, betrachtet ein Phänomen vom Ursprung her und sieht es wie zum ersten Mal. Wer radikal denkt, denkt originär und originell zugleich. Wie zeigt sich die Radikalität im Denken von Susan Sontag?
    "Was bisher nur Eingeweihte kennen, hebt Sontag aus dem Untergrund ans Licht der Öffentlichkeit. Was jede kennt, aber keine bislang ernsthaft bedacht hat, findet Eingang in ihre Essays. Als eine der ersten Kritikerinnen begeistert sie sich für das Kino und schreibt ein Buch über oder besser gegen Fotografie, das zum Grundlagenwerk der Theorie und Geschichte dieser Kunstform wird. Fundamente legt Sontag auch in der Rezeption europäischer Literatur in den USA: Ihre Porträts entdecken die literarische Größe zuvor eher unbekannter Figuren wie Roland Barthes, Antonin Artaud, Walter Benjamin, Elias Canetti und W.G. Sebald. Sontags originelles Denken über den Komplex von Krankheit und Metaphern verändert nachdrücklich den Blick auf Krebs und Aids. Werden heute die Sprechweisen und Vorstellungen kritisch geprüft, die diese Krankheit mit Bedeutung überfrachten, so geht eine solche Sensibilität auf Sontag zurück." (Auszug aus dem besprochenen Buch)
    Ihr wohl bekanntester Text: "Notes On Camp" von 1964
    Es sei Sontags unerschöpfliches Interesse, das die Hochkultur genauso umfasse wie die Populärkultur, das Alltägliche wie das Abweichende und Extravagante, das sie zu einer radikalen Denkerin mache, so Dieter und Tiedtke in ihrer Einleitung. Auch Sontags überspitzte, oft aphoristische Sprache zeige ihre Radikalität, ihre Weigerung, abzuwägen und zu relativieren, die Unmittelbarkeit und Wucht ihrer Texte, deren Form sich in geradezu empathischer Weise aus dem Inhalt ergebe. Wenn Sontag über einen fragmentarischen Film von Jean-Luc Godard schrieb, tat sie das in Form eines Fragments, schrieb sie über Elias Canettis Philosophie der Bewunderung, wurde daraus eine Liebeserklärung. Sontags Schreiben war sinnlich, nicht wissenschaftlich.
    In ihrem wohl bekanntesten Text, "Notes On Camp" von 1964, beschreibt sie das kulturelle Phänomen des ironisch schlechten Geschmacks in Form einer Liste aus 58 Thesen. Sie fühle sich unwohl in einer Essayform, die einer linearen Argumentation folge, hat sie einmal in einem Interview mit dem amerikanischen "Rolling Stone" erklärt. Daher ermutigen auch Dieter und Tiedtke eine unkonventionelle Lektüre ihres Buches.
    "Dieses Buch möchte neben der linearen auch eine andere, nicht-lineare Lektüre vorschlagen, die eher wie 'ein Spaziergang, ein Lustwandeln, eine Handlungsreise’ ist. Eine Einladung zum Querlesen ohne schlechtes Gewissen, zum Umherstreifen und Schlendern, zum Sprung zwischen den Texten."
    Dafür haben sie mittels Symbolen vier Pfade durch das Buch markiert, die es ermöglichen, einen Weg über die Grenzen der einzelnen Essays hinaus zu finden und so Aussagen zu Sontags Stil, ihren Einflüssen, ihren Inszenierungen und ihrer Wirkung zu erkunden. Und in der Tat scheint diese Lektüre dem Titel "Radikales Denken" gerechter zu werden als das lineare Lesen von Buchdeckel zu Buchdeckel. Denn naturgemäß sind die Autoren der hier versammelten Texte vor allem damit beschäftigt, Sontags Werk in einen wissenschaftlichen Kontext einzuordnen, es zu zähmen, statt sich von der Radikalität anstacheln und provozieren zu lassen.
    Eigentümliche Begegnung mit Thomas Mann
    "Radikales Denken" ist in fünf Sektionen eingeteilt, die erste beschäftigt sich mit Sontags Verhältnis zu Deutschland – hier erzählt ihr Verleger Michael Krüger von ihren Besuchen in München und ihrer Weigerung, die in der von ihr verehrten romantischen Literatur beschriebenen Landschaften selbst in Augenschein zu nehmen. Und der amerikanische Psychologe Laurence A. Rickels analysiert, was sie über ihre eigentümliche Begegnung als Teenager mit Thomas Mann in Kalifornien geschrieben hat. Im zweiten Teil geht es um die Beschäftigung mit Populärkultur in Sontags Frühwerk. Der Journalist Jens-Christian Rabe zeigt sie als hippe Denkerin und Pionierin der Cultural Studies, die sich in ihrer keine Berührungsängste kennenden Herangehensweise wesentlich von männlichen Kollegen wie Umberto Eco und Roland Barthes unterscheidet, die ebenfalls das Triviale im Blick hatten. Der Philologe Eckhard Schumacher konfrontiert Sontags Definition von Camp mit den Texten des britischen Autors Christopher Isherwood.
    Im dritten Teil geht es um Sontags durch ihre eigene Krebserkrankung inspirierte Beschäftigung mit der sprachlichen Repräsentation von Krankheit. Hier zeigt etwa die Literaturwissenschaftlerin Nicola Behrmann Parallelen zum öffentlichen Tagebuch "Arbeit und Struktur" des tumorkranken deutschen Autors Wolfgang Herrndorf auf, und die Literaturkritikerin Ina Hartwig zeichnet den Dialog zwischen Sontags Texten und den Bildern ihrer langjährigen Lebensgefährtin Annie Leibovitz nach. Im vierten Teil beschäftigen sich die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen und die Kunsthistorikerin Tanja Zimmermann mit Sontags Texten zur Problematik der Kriegsfotografie im Spannungsfeld zwischen kollektivem Gedächtnis und pornografischem Blick.
    "Stellt die feministische Gesellschaftskritik in den Schatten"
    Der vielleicht erhellendste Text dieser Sammlung stammt von der Filmwissenschaftlerin Heide Schlüpmann, die sich mit Sontags Rolle als Grenzgängerin zwischen den Welten der Schreibstube und der Öffentlichkeit auseinandersetzt:
    "Sontag hat Texte veröffentlicht. Aber zusätzlich hat sie der Öffentlichkeit das gegeben, was sie erwartet von einer Frau, was sie beglückt, nämlich, dass sie sich zur Schau stellt. Sie tat dies virtuos nach zwei Seiten hin: einmal entsprechend ihrer Tätigkeit als Autor in der Kultivierung ihrer Männlichkeit der Erscheinung und zum anderen als Schönheit, die sich dem Mann in ihrer Weiblichkeit zu erkennen gibt. Ihre Auftritte vereinen beides und scheinen also die Wirklichkeit eines Entweder-Oder – entweder schreiben oder ihr Leben leben – Lügen zu strafen. Sie stellt die feministische Gesellschaftskritik in den Schatten. Vereinbarkeit? Geht doch!"
    Dies ist ein wesentlicher Punkt der Radikalität und Aktualität Sontags, deren öffentliches Image durch ihre Streitbarkeit und ihre Erscheinung, die graue Strähne im langen dunklen Haar, ebenso geprägt wurde wie durch ihre pointierten Texte. Sie war eine Person, die nicht nur reflektierte, sondern auch ausstrahlte. Dem trägt "Radikales Denken" im letzten Abschnitt Rechnung, der zwei künstlerische Auseinandersetzungen mit Sontags Denken ausstellt. Michaela Melians Bearbeitung einer Szene aus der Puccini-Oper "La Bohème" vor dem Hintergrund des Essays "Krankheit als Metapher" und sechs Passagen aus Thomas Meineckes Roman "Selbst", die in ihrem assoziativen Listencharakter Parallelen zu Sontags Texten aufweisen. Womöglich lässt sich die Radikalität von Sontags Denken am besten in diesem freien und assoziativen künstlerischen Umgang mit ihrem Schaffen freilegen.
    Anna-Lisa Dieter, Silvie Tiedtke (Hg.) "Radikales Denken. Zur Aktualität Susan Sontags", Diaphanes, Zürich, 288 Seiten, 29,95 Euro