Drei russische Autoren, drei ukrainische und neun aus diversen EU-Ländern. Katharina Raabe und Manfred Sapper haben für ihren Sammelband "Testfall Ukraine. Europa und seine Werte" ein ebenso vielfältiges wie hochkarätig besetztes Autorenteam gewonnen, das den Ukraine-Konflikt aus vielen verschiedenen Perspektiven beleuchtet: historisch, ökonomisch, militärstrategisch, geopolitisch und immer wieder: aus nächster Nähe, vom Standpunkt des Augenzeugen in Kiew, im Donbas und in Moskau. Manfred Sapper:
"Wir wollen schauen was aus dem Aufbruch vor einem Jahr mit dem Euromaidan passiert ist, wo die Ukraine heute steht, wie es zu diesem dramatischen Umbruch kommen konnte, dass es einen Krieg Russlands gegen die Ukraine gibt, der ganz Europa in Atem hält, und wollen fragen, was sind die Haltungen der Europäer zu diesem Konflikt."
Wobei schon der Titel des Bandes den grundsätzlichen Standpunkt der Herausgeber verrät.
"Das Buch heißt "Testfall Ukraine. Europa und seine Werte", weil wir glauben, dass in der Ukraine eine Nagelprobe dafür ansteht, wie ernst es Europa tatsächlich um das ist, was mit Europa in Verbindung gebracht wird, nämlich so etwas wie menschliche Würde, die Demokratie, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit."
Grimmiger ukrainischer Alltag
"Testfall Ukraine" beginnt mit einem Text der ukrainischen Essayistin Kateryna Mishchenko, die den schönen und wichtigen Begriffen Demokratie, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit den grimmigen ukrainischen Alltag ein Jahr nach der Euphorie des Euromaidan an die Seite stellt. Mishchenkos Mann ist von Neonazis mitten in Kiew zusammengeschlagen worden. Die neue Macht hat die Erinnerung an den Aufbruch des Maidan unter neuem Pflaster und Heldenmythen schnell beerdigen lassen und die alten Strukturen sind keineswegs so grundsätzlich besiegt, wie es am Tag der Flucht von Präsident Janukowitsch vielleicht schien.
"Infolge der schrecklichen Verschiebungen von der städtischen Befreiungsguerilla gegen Regierung und Miliz hin zu Okkupation und Krieg hat sich unter unseren Füßen ein Abgrund aufgetan, dessen Magnetfelder Menschenleben wertlos machen und dazu zwingen, die Wirklichkeit nur als Kampf ums Überleben zu sehen; Platz für Gedanken und Kreativität ist hier nicht vorgesehen."
Deal mit der neuen Macht
Yevgenia Belorusets und Serhij Zhadan ergänzen Mishchenkos Bericht aus Kiew mit Fotos und einer Reportage aus dem Kriegsgebiet. Zhadan, der selbst aus dem Donbas stammt, organisiert seit Monaten Hilfslieferungen für die Bevölkerung und für die unterversorgte ukrainische Armee. Im VW-Bus bringen Zhadan und andere Freiwillige Kleidung, Essen, Medizin und andere Überlebensmittel über Pontonbrücken, an Checkpoints vorbei, durch den nasskalten Herbst und Winter. Zhadan beobachtet, er hört sich um, er lernt: Die Altkader von Janukowitschs Partei haben offenbar einen Deal mit der neuen Macht in Kiew gemacht und sitzen weiter fest im Sattel: nicht in den Separatistenrepubliken, sondern in den ukrainisch kontrollierten Teilen des Donbas.
Was der Krieg unterdessen in Russland angerichtet hat, beschreiben die Reportagen von Arkadij Babtschenko und Elena Racheva. Von zerschossenen Häusern und gesprengten Brücken müssen sie nicht berichten, von den tragischen Auswirkungen der Kriegspropaganda auf die russische Gesellschaft, von Hass, Nationalismus, Angst und Paranoia dafür umso mehr.
"Die Situation in Russland ist fatal und in der Ukraine steht auf dem Spiel, dass die Ukraine vor dem Staatsbankrott und vor dem totalen Zusammenbruch als Staat gerettet werden muss. Insofern gibt es für den Optimismus, der in den ersten Wochen und Monaten des Euromaidan im November Dezember 2013/2014 herrschte, heute keinen Anlass."
Ukrainische Widerstandstraditionen
Wie aber konnte aus einer Bürgerbewegung für mehr Demokratie und Freiheit die schlimmste europäische Krise seit den Balkankriegen der 90er Jahre werden? Welche Perspektiven gibt es für eine Lösung der Krise? Und was verbirgt sich hinter ihr?
Auf diese Fragen versuchen Historiker, Politikwissenschaftler, Ökonomen und Friedensforscher Antworten zu geben. Andreas Kappeler untersucht die ukrainischen Widerstandstraditionen zwischen Kosakenlager und Maidan. Andrew Wilson entwirrt die russischen und ukrainischen Geschichtsmythologien, die in Anschlag gebracht werden, um den Anspruch auf den Donbas historisch zu unterfüttern.
Irina Prochorowa schließlich stellt in "Der autoritäre Virus und das Unterbewusstsein Europas", wichtige Fragen zum Verhalten des russischen Staates in der Krise. Als engagierte Bürgerin zieht Prochorowa der wohlfeilen Anklage und Dämonisierung bohrende Fragen vor: Warum ist das Imperium eine wichtige Idee in Russland? Warum dominiert die pathetische Heldenverehrung den Blick auf den 2. Weltkrieg und nicht das Andenken an die Opfer? Warum ist das Land so konservativ? Warum ist es so schwer, ein säkulares Wertesystem zu errichten? Prochorowa umreißt so die Aufgaben, vor denen Russlands Zivilgesellschaft, vor allem aber seine Intellektuellen, Denker, Wissenschaftler und Schriftsteller stehen. Und sie zieht überraschende Parallelen:
"In gewisser Hinsicht kann man die heutige Situation in Russland mit derjenigen Westeuropas im 18.Jahrhundert vergleichen, als es das Gebot der Stunde war, ein neues humanistisches Wertesystem zu formulieren, es zur ethischen Norm für die ganze Gesellschaft zu erheben und damit die säkulare Kultur gegen klerikale Angriffe zu verteidigen."
Überlegene Sachkenntnis
Prochorowa, Kappeler, Wilson und andere liefern wichtige historische Hintergründe, allesamt sachlich, ruhig, im Bewusstsein ihrer überlegenen Sachkenntnis. Deutlich polemischer geht es naturgemäß in jenen Texten zu, die unmittelbarer mit der aktuellen Krise, der Frage nach Schuld und Verantwortung und mit der Suche nach Auswegen verbunden sind. Mit unterschiedlichen Argumenten weisen die Texte von Helmut König, Stefan Auer und Bruno Schoch allesamt Russland und seinem Präsidenten die Alleinschuld an der Eskalation der Krise zu.
"Es ist nicht Amerika oder die Osterweiterung der EU oder der NATO, die zur Eskalation des Konfliktes führte, sondern es ist die politische Aufbruchsbewegung des Euromaidan, die eine existenzielle Gefahr für ein autoritäres Herrschaftsmodell von Janukowitsch und anschließend auch von Putin darstellte. Die Interpretation, dass der Konflikt in der Ukraine primär das Ergebnis von geopolitischen Entwicklungen sei, hält einer empirischen Überprüfung überhaupt nicht stand."
Der in Chicago lehrende Politikwissenschaftler John Mearsheimer. Der Berliner Osteuropahistoriker Jörg Baberowski, Helmut Schmidt und viele andere sehen das wie bekannt anders. Ein Dienst am mündigen Leser wäre es gewesen, zum Beispiel John Mearsheimers Text "Why the Ukraine Crisis Is the West's Fault" aus der renommierten Zeitschrift "Foreign Affairs" einem breiten Publikum auf Deutsch zugänglich zu machen. Nicht weil Mearsheimer Recht hat und seine Kritiker nicht, sondern weil die Öffentlichkeit ein Recht hat, die Argumente selbst zu studieren.
Das zu verlangen aber hieße schlicht, die Intention von "Testfall Ukraine" zu verkennen. Das Buch ist gedacht als zielgerichtete Intervention in einen laufenden politischen Konflikt. Darum ist es engagiert, streitbar und auf eine Art selbstgewiss im Urteil, die auch verwundert. Und sei es nur aus einem Grund: Widerstand gegen autoritäre Herrscher wie Janukowitsch und Putin ist ohne Frage gut und die Bürger der Ukraine haben auch jedes Recht, in ihrem Land eine an europäischen Idealen orientierte Gesellschaft aufzubauen.
Richtig ist aber auch, dass die Verteidigung oder gar der Export von Demokratie und westlichen Werten in den letzten 25 Jahren oft ein Vorwand waren und häufig in blutigen Katastrophen aller Art endeten. Ein wenig Skepsis sei also erlaubt, wenn so vollmundig wie hier von Europa und seinen Werten geschwärmt wird.
Testfall Ukraine. Europa und seine Werte. Herausgegeben von Katharina Raabe und Manfred Sapper, 256 Seiten, 15 Euro. Suhrkamp Verlag