Das Verhältnis zwischen Großmüttern und ihren Enkelinnen ist oftmals so besonders, dass es geradezu einlädt, literarisch erkundet zu werden. Regale könnte man füllen mit Büchern, die das Gelände zwischen den Generationen bewandern.
Auch die Schriftstellerin Sandra Hoffmann lässt ihre Ich-Ezählerin, von der anzunehmen ist, dass sie viel mit ihr selbst zu tun hat, die Spur zu ihrer Großmutter Paula aufnehmen. Geboren im Kriegsjahr 1915, verstorben im November 1997. Sie ist die Mutter der Mutter der Erzählerin.
Der Vater der Mutter ist unbekannt, weil eben jene Großmutter Paula beharrlich schweigt, ihr Leben lang, bis in den Tod hinein. Das Wissen um den Vater der Mutter nimmt sie mit ins Grab. Die Erzählerin weiß also gar nicht, wer ihr Großvater ist. Es und er bleiben ein Geheimnis, das nicht mehr gelüftet werden wird:
"Eine Lücke ist eine Leerstelle, und es kann sein, dass sie eine Leerstelle bleibt. Nicht mehr zu schließen, beim besten Willen nicht. Weil niemand sagt: Ich kenne die fehlenden Variablen, ich habe den Fingerabdruck, um das Geheimnis zu lüften, den Pin, den Puk. Weil es keine Formel gibt und kein Passwort, weil jemand, dessen Zellen du in dir trägst, ein Niemand geblieben ist. Namenlos, staatenlos, ohne Bild, Pass, ohne Eintrag im Geburtsregister, das deine Mutter verzeichnet. Ein Mensch, ein Mann, der nur eines sicher nicht war, hellhäutig und blond oder ganz schwarzhäutig. Und gerade deshalb oder weil Du spürst, dass du etwas in Dir trägst, was du nicht kennst, stierst du, starrst du darauf, auf dieses Nichts, von dem du wünschst, es gäbe sein Geheimnis preis, je länger du es wendest, je länger du es umkreist, wie Hyänen ihr Beute einkreisen. Zuerst fragst du, dann phantasierst du. Vieles ist möglich, nicht alles."
Beschwörung der Großmutter in all ihren Möglichkeiten
Das Geheimnis um die eigene Abstammung dient Sandra Hoffmann als Erzählimpuls für die Suche nach dem Vater der eigenen Mutter. Immer wieder sitzt die Erzählerin über den Fotos aus der Vergangenheit, um einen Hinweis zu finden, eine neue Fährte, irgendeine Spur.
Es ist das Rätsel der eigenen Herkunft, das sie nicht mehr los lässt. Deswegen stellt sie all die Mutmaßungen über Paula an, rekonstruiert sich, wie es gewesen sein könnte, beschwört die Großmutter in all ihren Möglichkeiten. Als die Großmutter stirbt, hinterlässt sie wie so viele Großmütter einige Kisten, darin nicht nur Fotos, sondern auch Trauer- und Geburtsanzeigen, die wiederum Rückschlüsse auf ungeahnte Verbindungen zulassen.
Für die Erzählerin sind es kleine Anker, die sie in die eigene Erinnerung schlägt, wobei sie natürlich weiß, dass Erinnerungen immer auch erfunden werden, weswegen sie Geschichtenerzählern als formbare Masse dienen:
"Die Erinnerung folgt keiner Chronologie, manches ist ganz wirklich, als geschehe es in diesem Moment, ganz nah. Manches erschließt sich, wenn ich die Bilder betrachte. Wenn ich an das Leben vor mir selbst zurückdenken möchte, muss ich meine Großmutter erfinden, ich muss, wie die alten Griechen es taten, ihr Totenreich rückwärts betreten. Aber was erzählen Fotografien über den Moment hinaus?"
Pflicht zur Präzision, Pflicht zur Fiktion?
An anderer Stelle des Romans spricht die Erzählerin von der Pflicht zur Fiktion, die sich aus der Pflicht zur Präzision ergebe. Die ureigene Aufgabe des Schriftstellers wäre es demnach, die Lücke zwischen dem, was war und dem, was gewesen sein könnte zu schließen.
Hoffmanns Roman ist ein Erinnerungsbuch, das sich der eigenen Geschichte und Familie stellt. Das macht Sandra Hoffmann mal zart, rührend, mal drastisch; immer aber wahrhaftig. Ihr Erzählen zeichnet sich durch Klarheit und enorme Dichte aus. Immer strahlt dabei eine Helligkeit hinein in den Text, eine Helligkeit, die freilich ums Dunkel weiß. Einmal ist in Bezug auf die Augen der Erzählerin und die Augen ihrer Mutter die Rede von einem Leuchten aus einer Traurigkeit heraus. Genau so ein Leuchten aus einer Traurigkeit heraus umgibt auch die Erzählstimme des schmalen Romans.
Dabei verschiebt sich der Fokus von der Beschwörung der Großmutter zur Abrechnung mit der Großmutter. Die Erzählerin lässt ihre eigene Geschichte mit dieser Frau Revue passieren, ihre Gottesfürchtigkeit aus Beten, Beichten, Büßen, ihren Kontrollwahn, ihre Unverschämtheit, unter der das Mädchen, das die Erzählerin einmal war, zu leiden hatte. Damals in den siebziger Jahren, im katholischen Oberschwaben, in Aßmannshardt.
Annäherung wird zur Austreibung
Mit dem dazugehörigen Zeitkolorit aus RAF, Rama und Bonanza entführt uns der Roman in die Enge des Ortes und der Familienstrukturen. Die Großmutter wohnt im selben Haus, was ihre Enkelin dazu bringt, gegen sie aufzubegehren. In solchen Momenten gleicht der Roman auch einer Großmutter-Austreibung in genau platzierten Worten. Erwachsen geworden, versucht die Erzählerin es wieder auf die sanfte Art:
"Als ich bereits in einer anderen Stadt wohne und nur noch gelegentlich zurückkomme und bei ihr im Sessel sitze, frage ich nicht nach ihr, sondern nach dem Leben im Allgemeinen, ich spiele die die vorsichtige Gesprächspartnerin, ich will alles wissen, aber ich weiß, sie will nichts erzählen, oder sie kann nicht, und es ist, als könne ich mich heranpirschen ans Besondere, an sie, also sage ich es so: Wie war es so alleine, als Frau nach dem Krieg, mit Kind?
Und sie zögert und sagt schließlich: No hosch halt Trost gesuacht.
Und in der Schürzentasche windet sie den Rosenkranz, ich sehe das und sehe nicht hin, denn ich weiß, dass man das nicht sehen soll.
Und ich frage: Woher bekam man Trost? Und ich weiß, das ist keine gute Frage."
Und sie zögert und sagt schließlich: No hosch halt Trost gesuacht.
Und in der Schürzentasche windet sie den Rosenkranz, ich sehe das und sehe nicht hin, denn ich weiß, dass man das nicht sehen soll.
Und ich frage: Woher bekam man Trost? Und ich weiß, das ist keine gute Frage."
Geschichte bleibt oft im Privaten hängen
Viele Fragen und keine Antworten halten das Buch zusammen, das im Kern vom Abschiednehmen erzählt. Die Großmutter, die Kindheit, die Gewissheit werden verabschiedet. Dabei scheint sich der Roman zuweilen nicht von der Stelle zu bewegen, weil er die immerselben Schleifen zieht. Das vielleicht alles so und vielleicht auch ganz anders war, ist ein Gedanke, den das Buch oft wiederholt.
Die Fassungslosigkeit darüber überträgt sich beim Lesen nicht durchweg, oftmals bleibt die Geschichte geradezu im Privaten hängen, scheint einen nichts anzugehen, zumindest im Gegensatz zu den unausgepackten Kisten und Geschichten der eigenen Familie. Sich diesen endlich zu widmen, dazu indes regt die Lektüre von Sandra Hoffmanns Roman nachdrücklich an.
Sandra Hoffmann: "Paula"
Hanser, 2017 Berlin. 158 Seiten, 18 Euro
Hanser, 2017 Berlin. 158 Seiten, 18 Euro