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Sanktionen gegen Russland
Aufhebung wäre "ein Verrat an der Ukraine"

Sanktionen gegen Russland aufzuheben, wie dies der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki vorgeschlagen hat, wäre brandgefährlich für die europäische Sicherheit, sagte der ukrainische Botschafter Andrej Melnyk im Dlf. Die deutsche Wirtschaft leide auch nicht unter den Sanktionen, sondern habe ihre Exporte nach Russland sogar noch gesteigert.

Andrej Melnyk im Gespräch mit Peter Sawicki |
    Porträtbild des ukrainischen Botschafters Andrej Melnyk
    Der Botschafter der Ukraine in Deutschland Andrej Melnyk (picture alliance / dpa/ Michael Kappeler)
    Peter Sawicki: "Wolfgang Kubicki redet sich um Kopf und Kragen", so titelte es die "Bild"-Zeitung in dieser Woche. Gemeint waren Aussagen des FDP-Politikers, die er im Deutschlandfunk getätigt hat: Man solle die Sanktionen gegen Russland Schritt für Schritt abbauen, so die Kernbotschaft von Wolfgang Kubicki.
    Wolfgang Kubicki: Wenn wir uns nur gegenüberstehen und immer mit dem Finger auf den anderen zeigen und sagen, du musst anfangen, kommen wir nicht weiter. Mein Vorschlag ist, dass wir im Sanktionsregime beispielsweise bei den Sanktionen im Agrarbereich einen ersten Schritt tun und warten und schauen, wie Russland darauf reagiert. Gibt es eine vernünftige Reaktion, dann können wir die Gespräche intensivieren; gibt es keine vernünftige Reaktion, dann können wir bei dem Sanktionsregime bleiben. Aber einer muss anfangen, um aus der Sprachlosigkeit herauszukommen.
    Sawicki: Wolfgang Kubicki bei uns im Deutschlandfunk in dieser Woche. Damit steht er allerdings – das muss man dazu sagen – in der FDP auf verlorenem Posten weitgehend. Trotzdem dürfte man in Russlands Nachbarstaat Ukraine nicht allzu glücklich darüber sein. Wie also weiter umgehen mit Russland? Fragen wir das einen Vertreter der Ukraine. Wir haben jetzt am Telefon den Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrej Melnyk. Schönen guten Morgen!
    Andrej Melnyk: Schönen guten Morgen, Herr Sawicki!
    Sawicki: Darf Wolfgang Kubicki noch in die Ukraine einreisen?
    "Das wäre brandgefährlich für die europäische Sicherheit"
    Melnyk: Klar, klar, darf Kubicki in die Ukraine einreisen. Ich kenne und schätze Herrn Kubicki als einen starken Rhetoriker. Seine Idee allerdings, die Sanktionen abzubauen, ist total abwegig. Ihre Umsetzung wäre…
    Sawicki: Warum?
    Melnyk: … auch brandgefährlich für die europäische Sicherheit und auch ein Verrat an der Ukraine als Opfer einer militärischen Aggression Russlands mit über 10.000 Opfern. Also diese Aufhebung der Sanktionen wäre ein Dolchstoß in unseren Rücken, denn diese Diskussion, die Herr Kubicki jetzt wieder angekurbelt hat, die wird ausschließlich von Emotionen betrieben. Der Vorstoß ist nach unserem Empfinden total realitätsfern und kann und muss sogar durch die Fakten widerlegt werden.
    Sawicki: Was sind denn die Fakten, die er außen vor lässt Ihrer Meinung nach?
    Melnyk: Die Fakten sind auf dem Tisch. Diese vermeintlichen Verluste, über die man hier sehr gerne spricht, die sind nichts anderes als ein Mythos, und ich kann Ihnen nur ein paar Zahlen nennen, damit man versteht, dass mit solchen Äußerungen die deutsche Öffentlichkeit sehr oft in die Irre geführt wird. Im Jahre 2017 sind die deutschen Exporte insgesamt um 6,2 Prozent auf ein neues Rekordhoch von 1.279 Milliarden Euro angestiegen.
    Sawicki: Exporte nach Russland meinen Sie damit?
    "Die Agrarexporte nach Russland sind wieder gewachsen"
    Melnyk: Nein, das meine ich insgesamt. Also insgesamt haben wir ein neues Rekordhoch, aber die Exporte nach Russland, die steigerten sich sogar in dieser Zeit um 20 Prozent auf 25 Milliarden Euro. Mit anderen Worten beträgt der Anteil der russischen Föderation bei den deutschen Ausfuhren gerade mal zwei Prozent. Zwei Prozent, das heißt, dass der reine Exportzuwachs im letzten Jahr, nämlich 76 Milliarden Euro, diesen russischen Markt um das Dreifache übersteigt. Und Herr Kubicki beklagt, dass, ich zitiere, "unsere deutsche Landwirtschaft, die ja in die Knie gegangen ist teilweise", Zitatende. Fakt ist, auch die Agrarexporte nach Russland sind seit zwei Jahren wieder gewachsen - um 2,4 Prozent im Jahre 2016 und im letzten Jahr um weitere zwölf Prozent. Dabei macht der Anteil Russlands am gesamten Volumen der steigenden deutschen Agrarexporte knapp 1,2 Prozent. Das heißt, hier zu sprechen oder nahezulegen, dass die deutsche Wirtschaft womöglich morgen kollabieren würde, das wäre im besten Falle übertrieben.
    Sawicki: Das sagt ja keiner, Herr Melnyk, und das Ganze - muss man ja auch dazusagen - passiert ja, die Zahlen können wir jetzt nicht überprüfen, aber angenommen, dass sie stimmen, das passiert ja trotzdem im Rahmen der Sanktionen, die verhängt wurden, das ist ja alles im rechtlichen Rahmen. Aber wenn wir mal auf die Position von Wolfgang Kubicki schauen, der ist ja allein in der FDP auf verlorenem Posten mit dieser Meinung, wozu eigentlich diese ganze Aufregung?
    Melnyk: Es gibt keine Aufregung, sondern was wir wollen, wir wollen …
    Sawicki: Sie klingen aufgeregt.
    Melnyk: Wir wollen diese Diskussion jetzt nicht emotional führen, sondern versuchen, die mit Zahlen und Argumenten zu führen. Und Herr Kubicki beruft sich auch auf die Meinung von fünf Ministerpräsidenten der östlichen Bundesländer, die auch beklagt haben vor Kurzem, dass die Sanktionen einen enormen Schaden zufügen. Und auch hier ist Fakt, dass aus jedem dieser Bundesländer die Exporte nach Russland im letzten Jahr auch gestiegen ist - aus Sachsen-Anhalt um 15 Prozent, Brandenburg 16 Prozent, Thüringen 31 Prozent, Mecklenburg-Vorpommern 43 Prozent.
    Sawicki: Herr Melnyk, Sie haben ja schon Zahlen genannt, wir drehen uns da jetzt im Kreis. Aber noch einmal: Wolfgang Kubicki, der vertritt ja eine einzelne Meinung, also wo erkennen Sie denn sozusagen, dass man da Sanktionen abbauen will auf europäischer Ebene?
    Melnyk: Also Wolfgang Kubicki hat auch in seinem Interview vor einigen Tagen gesagt, dass das natürlich sehr wohl nicht angeblich seine eigene Meinung ist, sondern dass er viele Stimmen in der Partei vertritt, als Sprachrohr, wie er sagte, und er meinte, dass 62 Prozent der Parteimitglieder hinter ihm stehen.
    Sawicki: Aber die FDP ist nicht in der Bundesregierung, sie hat da nicht viel mitzureden.
    "Der Versuch, Emotionen zu schüren, stört uns massiv"
    Melnyk: Das stimmt, aber die FDP ist in der Opposition, und wir glauben, dass Deutschland eine wichtige Rolle als Vermittler gespielt hat und spielt diese Rolle nach wie vor. Das schätzen wir als Ukrainer, und wir glauben, dass auch die Oppositionsparteien da gut beraten sind, die gleiche Neutralität, die gleiche Vermittlerrolle als Partei im Bundestag zu spielen. Und wenn das jetzt in dieser Weise geschieht, indem man versucht, diese Emotionen zu schüren, ohne den Grund, wie ich Ihnen dargelegt habe, das stört uns massiv. Und deswegen sind wir dankbar Herrn Christian Lindner und seinen Kollegen im quasi außenpolitischen Flügel der Partei dafür, dass sie bekräftigt haben, der Kurs der Partei ist ein anderer.
    Sawicki: Ja, und die CDU hat ja auch einen anderen Kurs. Da läuft ja möglicherweise einiges auf weitere Strafmaßnahmen hinaus gegenüber Russland. Was für ein Verhältnis, wenn wir das mal weiterdrehen, was für ein Verhältnis zu Europa wünschen Sie sich für die Ukraine?
    Melnyk: Für uns ist Europa, ist die Europäische Union natürlich ein strategisches Ziel. Wir wollen der EU beitreten, allerdings nicht jetzt, wir sind noch nicht bereit. Aber in mittelfristiger Perspektive glauben wir sehr wohl, dass wenn die Ukraine wirtschaftlich gesehen stärker wird – und dank den Reformen passiert das auch von Jahr zu Jahr –, dann haben wir auch gute Chancen, in der nahen Perspektive auch der EU tatsächlich beizutreten, um diese Gemeinschaft auch zu stärken, denn wir gehören zu Europa geografisch gesehen, und wir wollen auch diesem Europa wirtschaftlich und politisch angehören.
    Sawicki: Sie wollen der EU beitreten, sagen Sie als Zielmarke eindeutig, müssen Sie da aber nicht noch eine ganze Menge vor der eigenen Haustür kehren, beispielsweise beim Thema Korruption – Ihr Präsident Petro Poroschenko ist seit vier Jahren im Amt, es hat sich de facto nichts getan dort. Laut Transparency International ist die Ukraine auf der Indexliste auf Platz 130 von 180. Warum passiert da nichts?
    Strukturen gegen Korruption geschaffen
    Melnyk: Also, ich würde diese Meinung nicht unbedingt teilen.
    Sawicki: Das ist keine Meinung, das ist eine Zahl, das ist ein Fakt.
    Melnyk: Nein, also Fakt ist auch, was in diesen vier Jahren getan wurde, und es wurde sehr, sehr viel getan.
    Sawicki: Ja, aber laut Transparency International nicht viel.
    Melnyk: Ja, also ich meine, das, was in der Ukraine in diesen vier Jahren seit den Maidan-Protesten getan wurde, wurde auch von unseren europäischen Partnern und auch von der Transparency übrigens anerkannt. Wir haben die Strukturen geschaffen, die gegen die Korruption vorgehen können, und das kann man nicht bestreiten. Wir sind jetzt dabei, auch das Justizsystem umzukrempeln, also die Richterschaft wird erneuert. Wir haben von null ein neues Oberstes Gericht geschaffen, und wir sind dabei – jetzt ist das Gesetz gerade im Parlament in der zweiten Lesung –, auch ein extra Antikorruptionsgesetz zu schaffen. Auch das verlangen von uns sowohl die europäischen Partner als auch die Zivilgesellschaft in der Ukraine. Und deswegen zu behaupten, dass im Land sich gar nichts geändert hat, das wäre falsch.
    Sawicki: Ja, es verändert sich ja einiges zum Schlechten offenbar, es gibt da noch andere Punkte. Ihre Regierung hat auch die Minderheitenrechte, was den Unterricht von Muttersprachen angeht, beschnitten eindeutig. Ist das der richtige Weg nach Europa?
    Melnyk: Nein, auch das stimmt nicht. Was wir getan haben: Wir führen jetzt eine Bildungsreform durch, und im Rahmen dieser Bildungsreform wurde ein Gesetz verabschiedet, das auch den Minderheiten ermöglicht, ihre Sprachen zu bewahren. Und deswegen zu sagen, dass die Ukraine jetzt die Rechte der Minderheiten beschneiden wird, das ist natürlich nicht wahr. Also wir stärken unsere Minderheiten …
    Sawicki: Andere EU-Staaten behaupten genau das Gegenteil. Der rumänische Präsident Johannis, der hatte extra eine Reise in die Ukraine abgesagt. Ungarn sieht das genauso im Übrigen, dass diese Rechte beschnitten werden.
    "Ungarn haben schräge Kampagne gegen Ukraine begonnen"
    Melnyk: Nein, es geht hier ausschließlich um Ungarn. Die Ungarn, die haben begonnen, eine schräge Kampagne gegen die Ukraine, und für mich, wie ich Ihnen schon sagte, zählen die Fakten. Und Fakten sind: Wir haben mit diesem Gesetz an die Kommission uns gewandt, und wir haben den Beschluss dieses Gremiums – das ist quasi im Europarat das höchste Gremium, das sich mit solchen Fragen beschäftigt. Und diese Kommission hat eindeutig gesagt, dass dieses Gesetz nicht unseren Verpflichtungen innerhalb des Europarates widerspricht und hat auch uns einige Empfehlungen ausgesprochen, die wir jetzt Schritt für Schritt auch umsetzen. Deswegen Ungarn, ja, Sie haben recht, Ungarn ist das einzige Land heute, nicht Rumänien, das weiterhin diese hohen Wellen schlägt, aber eigentlich ohne Grund, und das bedauern wir sehr.
    Sawicki: Warum hat Ihre Regierung eigentlich ein Problem mit Andersdenkenden. Michail Saakaschwili, dem wurde die Staatsbürgerschaft entzogen, die frühere Kampfpilotin Sawtschenko ist in Untersuchungshaft. Hat Petro Poroschenko ein Problem mit abweichenden Meinungen?
    Melnyk: Nein, nein, das ist auch nicht der Fall, eindeutig. Diese Namen, die Sie erwähnt haben, das kann man natürlich jetzt in jedem einzelnen Fall besprechen. Der letzte Fall von Sawtschenko, Mitglied des Parlamentes, also sie wurde gestern verhaftet aus einem ganz einfachen Grund: weil sie beschuldigt wurde - für die Aufhebung ihrer Immunität hat auch ihre eigene Fraktion gestimmt, die Fraktion Batkiwtschtschyna -, weil sie beschuldigt wurde, einen Terrorakt mitten im Parlament zu verüben. Und ich glaube, da geht es nicht um andere Meinungen, sondern es geht um einen sehr, sehr gravierenden Tatverdacht, den man nicht einfach ignorieren kann.
    Sawicki: Aber es fällt doch auf, Herr Melnyk, dass viele Kritiker mundtot gemacht zu werden scheinen. Wenn wir auf Saakaschwili noch mal schauen, der hatte ja die Korruption angeprangert, die ja immer noch ein Problem ist - das bestreiten Sie ja auch nicht - in der Ukraine, und ihm wurde die Staatsbürgerschaft entzogen. Ist das der richtige Umgang mit Kritik?
    Nicht tatenlos zusehen bei Stimmungsmache "mit Fake News"
    Melnyk: Herr Saakaschwili war Gouverneur in einer großen Stadt, Odessa, und er hat auch seine Zeit und seine Chance bekommen, zu beweisen, was er tun kann und wie er auch selbst gegen diese Korruption vorgehen könnte. Er hat da versagt, und deswegen glaube ich, dass auch in Bezug auf Saakaschwili, dass das kein Beispiel dessen ist, wie die Gesamtsituation in meinem Lande heutzutage aussieht.
    Sawicki: Es werden ja aber auch viele Journalisten ausgewiesen beziehungsweise bekommen keine Akkreditierung, die sich über bestimmte Sachen, über bestimmte Politiken der Regierung kritisch äußern. Im vergangenen Jahr wurden alleine da fünf Korrespondenten, unter anderem aus Spanien, ausgewiesen. Das wurde auch von der OSZE kritisiert. Also noch einmal: Hat Ihre Regierung ein Problem mit abweichenden Meinungen?
    Melnyk: Nein, wir haben kein Problem. Was die Journalisten betrifft, die Sie erwähnt haben: Wir versuchen also, gegen diese Propaganda, über die man heutzutage hier auch in Deutschland spricht …
    Sawicki: Welche Propaganda meinen Sie?
    Melnyk: … vorzugehen. Ich meine die Berichterstattung, also diese Linie zwischen der Berichterstattung und zwischen Propaganda und Fake News, diese Linie ist leider sehr dünn geworden. Auch in Deutschland wurde dieses Gesetz verabschiedet, um gegen den Hass in den sozialen Medien quasi vorzugehen, und dasselbe tun wir. Wir müssen uns verteidigen, wir sind auch in einem bösen Krieg gegen Russland in diesen Bereichen, und da kann man nicht tatenlos zusehen, wenn über Fake News die Stimmung im Lande gemacht wird und wo man nicht nur mit Waffen uns beschießt, sondern auch mit Fake News. Das ist quasi der einzige Grund.
    Sawicki: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk, der Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrij Melnyk. Danke, dass Sie Zeit hatten, dass Sie sich den Fragen gestellt haben von uns!
    Melnyk: Ja, vielen Dank, danke schön, Herr Sawicki!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.