"Sie hat immer gesagt, wenn ich einmal weg bin, bist du da. Und bei der Totenwache meiner Mutter haben dann alle anderen Vorsteher mich als die neue Madrina bestätigt."
Kristhel Vargas ist 30 Jahre alt. Sie ist Anwältin für Familienrecht in Mexiko City und - seit dem Tod ihrer Mutter Enriqueta - die Madrina eines der größten Santa Muerte Schreine Mexikos. Madrina, was man mit "Patentante" übersetzen kann, werden die Vorsteherinnen der Santa Muerte Schreine liebevoll genannt. Die junge Frau kann sich noch gut erinnern, wie sie sich fühlte, als sie das Amt von ihrer Mutter vor einem Jahr übernahm und sie zum ersten Mal vor die Gemeinde trat:
Kraft des Zuhörens
"Meine Mutter hat mich gelehrt, dass wenn man in die Gebetstrance geht, muss man vor allem zuhören. Da reicht es nicht, einfach dabei zu sein. Man verbindet sich mit der Erde, mit der Santa Muerte und bittet sie, sich zu manifestieren und dir und der Gemeinde zu helfen."
Kristhels Schrein steht in einem Vorort im Norden der Metropole direkt neben einer viel befahrenen Ausfallstraße. Mit seiner 22 Meter hohen pechschwarzen Santa Muerte Figur, die ihre Arme ausbreitet, ist das Gelände zwischen Autowerkstätten und Holzbetrieben leicht zu finden. Seit ihre Mutter den Schrein von ihrem Sohn vor sechs Jahren übernommen hatte, hat sich viel verändert.
Die Gemeinde ist enorm gewachsen und in dem Netzwerk Santa Muerte International haben sich circa dreißig Gemeinden zusammengetan, auch in Los Angeles, San Diego, Chicago und New York. Die Heilige soll helfen, wenn Politik und Rechtsstaat an ihre Grenzen kommen, etwa bei Gewalt gegen Frauen.
Denn vor allem junge Frauen mit ihren Kindern zieht es zum Schrein, die die Santa Muerte als Schutzheilige verehren. Häusliche und organisierte Gewalt ist für viele von ihnen Alltag – jeden Tag verschwinden Frauen, werden getötet oder verkauft. Gewalt gegen Frauen, das ist nicht nur in Mexiko ein wachsendes Problem.
"Wir versuchen immer die Menschen zu unterstützen, die es gerade besonders schwer haben. Es gibt so viele Frauen die Gewalt erfahren, Frauenmord und Verschleppung. Deswegen wollen wir sie ermutigen."
Neue spirituelle Heimat
In einem ganz normalen Wohnhaus in einer stillen Seitenstraße in Jackson Heights, Queens, New York, gut sechzig Gläubige versammeln sich in Arely Vasques Haus. Ihr Wohnzimmer wird von einer großen Santa Muerte Figur in einem langen grünen Samtkleid in Beschlag genommen, vor ihr ein farbenfrohes Meer aus Blumen, jede Menge grüne Bananen, frisch gebackene Pan de Muerto – ein Gebäck ähnlich deutscher Stutenkerle – Bier und Tequila. Auf einer kleinen Erhöhung steht auch ein Bild von Enriqueta Vargas.
Arely Vazques Schrein in Queens ist Teil des Santa Muerte International Netzwerkes. Arely ist eine transgender Frau und hat in ihrem Glauben an die Santa Muerte eine neue spirituelle Heimat gefunden. Mit ihrem Mann und anderen transgender Frauen organisiert sie den Schrein. Und sie pflegte eine enge Freundschaft mit Enriqueta.
"Ich werde nie vergessen, wie Kristhel mir gesagt hat, ich soll nicht weinen und heiter bleiben. 'Sei stolz, denn meine Mutter hat dich immer wie eine Tochter gesehen. Und sie hat uns allen gesagt, dich immer zu respektieren und zu lieben. Das haben wir ihr versprochen.'"
Arely und Kristhel, beides Frauen, die sich als Erben von Enriquetas Mission verstehen, Santa Muerte in ihrer liebevollen Weiblichkeit zu zeigen. Für beide ist ihre wichtigste Botschaft, dass sie nicht urteilt. Für sie sind alle gleich, egal welchen Lebensstil jemand führt, welche sogenannten Sünden man begangen und welches Geschlecht man hat. Kristhel:
"Sie verurteilt nicht."
Weibliche Theologie
Sie ist die heilige Mutter, erklärt Kristhel, die das Leben jedes Einzelnen in ihren Händen hält – ohne Unterschied. Diese weibliche Theologie der Zuwendung ohne Verurteilung und Verdammnis spricht besonders Frauen an.
Das Hauptgebet, das alle Gemeinden des Netzwerkes verbindet, stammt von Enriqueta. In ihm beten die Gläubigen um Führung, dem Tod ohne Schmerzen, aber mit Glauben und Vertrauen im Herzen begegnen zu können. Sie beten um Klarheit, Reinigung und Gleichmut. Darum, ihre Träume und Lebensziele verwirklichen zu können, um Erlösung vom Hass in ihrem Herzen und die Kraft an sich selbst glauben, sich selbst lieben und ein leidenschaftliches und erfülltes Leben führen zu können.
"Generationen wechseln, alles ändert sich. Es ist bemerkenswert, dass die, die den Santa Muerte Kult vorstehen, Frauen sind. Frauen sind natürliche Vermittler, glaube ich. Das Leben mag im Moment magisch sein, wie eine Fantasie, aber nur der Tod ist wirklich real, das Einzige, dessen wir sicher sein können. Das Leben dagegen gehört uns nicht."
Obwohl die katholische Kirche in Mexiko den Kult als synkretistisch kritisiert und manchmal sogar als diabolisch diffamiert, wachsen seine Anhänger auf dem ganzen amerikanischen Kontinent – geschätzte Mitglieder: 22 Millionen, Tendenz steigend. Offensichtlich bietet der Kult eine Perspektive, die vielen Menschen immer wichtiger wird.