Manuel ist ein Sonderfall, und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Zum einen ist sein Wachstum bei 157 Zentimetern stehen geblieben. Zum anderen ist er das, was man wohl einen Nerd nennen würde. Geboren im Jahr 1991, begann er bereits im Alter von elf Jahren im Internet nach Arbeit zu suchen, verfügt über eine außergewöhnliche Lern- und Auffassungsgabe und hat ein Faible für Technik und Mechanik. All das behauptet jedenfalls Manuels Onkel, der als Erzähler dieses Romans fungiert. Er ist ein Ersatzvater für Manuel, dessen Eltern kein allzu großes Interesse an dem verschrobenen und eigenwilligen Jungen zeigen.
Santiago Lorenzo hat seinen Protagonisten als Vertreter einer verlorenen Generation junger Spanier angelegt. Wir schreiben das Jahr 2015. Der Zustand des Landes ist desolat. Selbst mit einem abgeschlossenen Ingenieursstudium in der Tasche findet Manuel keine Arbeit. Die Wirtschaftskrise ist auf dem Höhepunkt; auf den Straßen von Madrid herrschen Aufruhr und Polizeiwillkür. Qualifizierte Arbeitskräfte verlassen das Land. Nicht so Manuel, der in einer heruntergekommenen Einzimmer-Wohnung haust und sich mit Gelegenheitsjobs durchschlägt – bis er eines Tages in der Eingangshalle seines Wohnhauses von einem Polizisten in die Mangel genommen wird, der ihn fälschlicherweise für einen gewalttätigen Demonstranten hält. Manuel wehrt sich:
„In der Tasche trug er seinen Schraubenziehertalisman. Seit dem Tag der reparierten Lampe trug er ihn immer bei sich. Spannkräftig zog er ihn hervor und stieß die Spitze des Werkzeugs in den nackten Hals des dräuenden Angreifers. Getroffen. Der Polizist ließ den Knüppel fallen und fasste sich an den Nacken.“
Sozialkritik als Groteske
Von diesem Augenblick an entkoppelt „Wir alle sind Widerlinge“ sich endgültig von allen Wahrscheinlichkeiten und wird zu einer Groteske. Weil Manuel denkt, er könnte den Polizisten getötet haben, wendet er sich an seinen Onkel. Der kommt auf die Idee, sein Neffe solle sich in einem der zahlreichen Geisterdörfer in der ländlichen Region nördlich von Madrid verstecken. Manuel richtet sich in einem halb verfallenen Haus ein und steht mit dem Onkel mittels Prepaid-Handy in Verbindung. Der wiederum versorgt ihn über einen Lieferdienst mit dem Nötigsten. Eine insgesamt eher haarsträubende, aber aparte Geschichte. Allerdings steht der Freude an der Lektüre zumindest im ersten Teil des Romans Santiago Lorenzos Drang nach sprachspielerischer Witzigkeit im Weg. Das klingt dann beispielsweise so:
„Es stimmte, der Kauf von etwas Essbarem (fungibel dank Molar), einigen Geräten (maniabel dank Manus) und ein paar Hygieneartikeln (konsumibel dank Schmutz) war unabdingbar. Abgesehen von diesen Wenigkeiten konnte Manuel keine Waren entdecken, die zu besitzen ihn gelüstete.“
Unterhaltsamer Furor
Die pseudooriginelle Verschraubtheit dieser Formulierungen hat keinerlei Mehrwert, zumindest vorerst. Manuel führt in seinem Geisterdorf ein Robinson-Leben, erschließt sich mit Geschick und Schlauheit seinen Alltag. Ein einsames Arkadien. Bis eines Tages, nach etwa einem Jahr der Ruhe und Zurückgezogenheit, ausgerechnet das Nachbarhaus von einer Drei-Generationen-Familie als Wochenend-Freizeitspot entdeckt wird. Ob diese Menschen wirklich so ekelerregend sind, wie der aufgescheuchte Manuel es empfindet, mag dahingestellt sein. Der Ekel, der Furor und die Komik, mit der das Treiben auf dem Nachbargrundstück beschrieben werden, sind ausgesprochen unterhaltsam. Plötzlich finden die überdrehte Sprache und die Handlung zueinander:
„Er sagt, man merke schon aus der Ferne, dass sie vom Kopf her bis zum Himmel stinke, ein Geruch wie in unbeleuchteten Häuserecken. Ihre Kniekehlen röchen nach Schlachtfeld. Die Kinder (Söhne, Cousins, Neffen) waren ballonärschig geraten und gaben nur Dünndürftiges von sich. Sie waren die infantilen Empfänger des Infantilismus ihrer Eltern und gehörten der verkümmerten Linie an, der arglistigen, der degenerierten, der mit den schlechten Aussichten.“
Am Ende Fehlzündung
Mit Akribie und Einfallsreichtum macht Manuel sich daran, den Alltag seiner Wochenend-Nachbarn zu sabotieren. Die Beschreibung dieser Bemühungen ist höchst vergnüglich, doch insgesamt bleibt man nach der Lektüre von „Wir alle sind Widerlinge“ eher unbefriedigt zurück, denn die Quintessenz des Buchs beschränkt sich letztlich auf seinen Titel. Lorenzos in Spanien erfolgreicher Unterhaltungsroman mit seinem skurrilen Protagonisten reißt den sozialen Kontext zu Beginn an, um dann in einer etwas lauen Pointe zu enden. Es ist, als hätte hier jemand ein gigantisches Tischfeuerwerk mit einer sehr langen Zündschnur aufgebaut. Und nach einer langen Wartezeit ertönt am Ende dann nur ein enttäuschendes „Pffffffff“.
Santiago Lorenzo: „Wir alle sind Widerlinge“
Aus dem Spanischen von Daniel Müller und Karolin Viseneber
Heyne Hardcore Verlag, München. 240 Seiten, 20 Euro.
Aus dem Spanischen von Daniel Müller und Karolin Viseneber
Heyne Hardcore Verlag, München. 240 Seiten, 20 Euro.