Claire DeWitt, die Ich-Erzählerin in Sara Grans Roman "Das Ende der Lügen", erinnert sich, dass ihre Freundin Tracy einmal von einem Mann berichtet hatte. Nacht für Nacht stand er am Fenster eines Wohnheims und konnte sich nicht überwinden, hinauszuspringen; ihm fehlte der Mut zu leben und die Kraft zu sterben. Bis er eines Tages erkannte, dass man sich selbst nicht entfliehen kann. Die einzige Chance, glücklich zu werden, besteht darin, das Leben so zu nehmen, wie es ist.
Claires Freundin Kelly widerspricht: Tracy hätte nicht von einem Mann gesprochen, sondern von einer Frau in einem Hotelzimmer. Nacht für Nacht saß sie am Fenster, konnte sich aber nie überwinden zu springen. Bis sie eines Tages erkannte, dass das, was gestern war, heute schon nicht mehr existierte. Die Welt wird jeden Tag wiedergeboren. Man kann der Vergangenheit und sich selbst also entkommen und neu anfangen: Das ist der einzige Weg, um glücklich zu werden.
Eine Ermittlerin, die davonlief
Die Vergangenheit hinter sich lassen oder mit ihr leben – das ist eines der zentralen Themen des Romans und eine der Fragen, vor der Claire DeWitt davonläuft. In den achtziger Jahren, als Jugendliche, lösten die drei Freundinnen Claire, Tracy und Kelly in New York Kriminalfälle – bis Tracy eines Nachts spurlos verschwand. Kelly und Claire scheiterten daran, sie zu finden. Von Schuldgefühlen zerrissen, verließ Claire wenig später New York:
"Ich wurde die beste Detektivin der Welt, genau wie ich es mir erträumt hatte. (…) Ich löste die Rätsel meiner Klienten und förderte ihre Geheimnisse zutage. Ich trat in ihr Leben, riss es nieder und fand genau das, was sie brauchten, um ihr Leben wieder aufzubauen. Ich traf Menschen, die auf Erden alles besaßen außer dieser einen Sache, die sie am wenigsten wollten und am meisten brauchten: die Wahrheit. Ich löste jeden Fall, der mir unterkam.
Außer meinem eigenen."
Außer meinem eigenen."
Ermitteln heißt Erkennen
Claires Fälle tragen so poetisch-trashige Namen wie "Die Spur des Goldenen Schmetterlings" oder "Der Fall des Fluchs der Weißen Perle in der Gruft des Verlorenen Goldlotos". Ihre Ermittlungsmethode basiert auf einem schmalen Büchlein mit dem Titel "Detéction" von Jacques Silette, einem Detektiv aus den fünfziger Jahren. Während die einen Silette als Scharlatan belächeln, ist "Detéction" für Claire weit mehr als ein Ratgeber:
"Ein Buch, das einem durch Mark und Bein ging und einen Menschen umkrempeln konnte. Es durchbohrte den Schutzschild, den man sich im Laufe seines Lebens ums Herz gelegt hatte, und bewies, dass man die ganze Zeit das Falsche beschützt hatte. (…) [W]enn man dem Buch auch nur mit einem Hauch von Ehrlichkeit begegnete, schenkte es einem ein neues Leben und legte das alte, bessere in Schutt und Asche."
"Das Ende der Lügen" spielt auf drei verschiedenen Zeitebenen, auf denen Claire DeWitt mit drei unterschiedlichen Fällen konfrontiert ist: Zum einen geht es um das spurlose Verschwinden von Tracy in den achtziger Jahren; außerdem untersucht die Detektivin im Jahr 1999 den Tod eines Künstlers; und im Jahr 2011 beschäftigt sich Claire mit der Frage, warum jemand einen Mordanschlag auf sie verüben wollte.
Wahrheitsgetrieben, aggressiv und selbstzerstörerisch
Diese drei Stränge sind eng miteinander verwoben und verschränkt zu einem beziehungs- und anspielungsreichen Netz. Sie werfen erhellende Lichter aufeinander – und machen das Geschehen gleichzeitig immer vager. Denn Claire DeWitt ist eine unzuverlässige Erzählerin, nicht aus Kalkül, nicht weil sie die Leser irreführen will, sondern weil sie sich selbst belügt – vielleicht aus Schuldgefühlen, vielleicht aus Verdrängung, aus Selbsthass oder aufgrund der vielen Tabletten, die sie fortwährend einwirft, Upper, Downer, Schmerzmittel, bei Dealern gekauft oder von anderen Menschen gestohlen. Claire ist von Selbstzerstörung getrieben und hat ihre Aggressionen nicht im Griff, weder sich selbst noch Dritten gegenüber. Was andere von ihr denken, ist ihr vollkommen egal. Ihr geht es einzig darum, die Wahrheit aufzudecken. Doch womöglich ist sie gar nicht die "beste Detektivin der Welt", und vielleicht hat es Tracy nie gegeben.
"Manchmal muss man alles in Brand stecken"
Was Claire DeWitt erzählt, ist von leisen Widersprüchen durchzogen, manchmal sind es nur Nebensächlichkeiten, die jedoch – geht man ihnen nach – alles in Frage stellen, auch Claires Wahrnehmung:
"Langsam trippelte die Maus auf mich zu und blieb kurz vor mir stehen. Ich beugte mich weiter vor, ging auf alle viere und streckte mich bäuchlings am Boden aus, um mit der Maus auf Augenhöhe zu sein. Ich sah, dass sie etwas in ihren winzigen, unheimlichen Mausehänden hielt. (…) Es war – was sonst? – eine Ausgabe von Jacques Silettes 'Détection'. Die Maus schlug Seite fünfundvierzig auf. 'Rätsel sind wie Termiten: Selbst wenn man nicht weiß, dass sie da sind, bohren sie Löcher ins Fundament, und eines Tages ist alles schief und krumm, und man versteht nicht, warum einem das eigene Haus so beängstigend und fremd erscheint. Manchmal besteht die Lösung darin, sich ein neues zu bauen. Manchmal muss man alles in Brand stecken.'"
Glück und Wahrheit als vages Versprechen
"Das Ende der Lügen" wirft immer wieder aufs Neue die Frage auf, was von Menschen bleibt, wenn sie verschwinden, was das Verschwinden mit denen macht, die zurückbleiben – und wie es jene traumatisiert, die verschwinden. Wer ist man, wenn alles weg ist? Wer ist man, wenn man sich nicht über andere definiert? Und was ist mit der Wahrheit, die Claire so zwanghaft sucht?
"Silette schrieb: 'Ungelöste Rätsel machen mehr Freude als gelöste. Die Möglichkeiten faszinieren uns. Sobald die Wahrheit ans Licht kommt, sind alle anderen Möglichkeiten tot und massakriert. Wir werden auf das Unangenehmste allein gelassen, nackt, zwischen unseren haltlosen Spekulationen und unseren blinden Flecken. Das Leben ist immer dann am schönsten, wenn die Würfel noch in der Luft sind.'"
Claire DeWitt ist eine Detektivin auf der Suche nach sich selbst, während sie gleichzeitig alles daransetzt, sich selbst zu entkommen. Sie ist von stahlharter Zartheit, an deren Kanten man sich hoffnungsvolle Wunden schlägt. Am Ende sind nicht alle Rätsel gelöst, auch viele der Lügen sind nicht aufgedeckt, doch für einen kurzen Moment, in dem alles in der Schwebe ist, in dem die Lösung des nächsten Rätsels wie ein Versprechen aus der Zukunft aufscheint, ist das Glück zum Greifen nah.
Sara Gran: "Das Ende der Lügen"
Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Bonné, Heyne Verlag, München, 347 Seiten, 16 Euro
Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Bonné, Heyne Verlag, München, 347 Seiten, 16 Euro