Istanbul ist die heimliche Heldin von Sasha Marianna Salzmanns Roman. Die Autorin hat sich, so erzählt sie es selbst, in diese Stadt verliebt. In ihre Energie, den Rhythmus und die Menschen, die sie dort kennen gelernt hat. Und Istanbul war auch der Ausgangspunkt ihres Debütromans. Später unterbrach sie sogar ihre Arbeit am Theater, um in der Türkei weiter konzentriert an ihrem Buch arbeiten zu können. Dabei hatte Salzmann das Prosaschreiben beileibe nicht strategisch geplant. Vielmehr kam "Außer sich" während eines Auslands-Stipendiums quasi wie eine Naturgewalt über sie.
"Ich habe es nicht vorgehabt. Ich war in Istanbul 2012 und ich hatte keine Vorgaben. Ich habe gesagt: Ich schreibe ein Theaterstück und dann kamen über zehn, zwölf Tage 100 Seiten Prosa aus mir heraus, was für mich ein Schock war. Ich wusste überhaupt nicht, was das sein soll und habe es weggelegt. Ich hatte Angst vor der Wucht, mit der so ein Text aus einem herauskommen kann, weil Theater eine andere Form zu denken und zu funktionieren ist. Wie Heiner Müller sagte: Theater schreibt man im Gehen, Prosa schreibt man im Sitzen. Ich kannte mich so gar nicht, sitzend, zwölf Tage schwitzend an einem Schreibtisch."
Treffpunkt Istanbul: Alissa und Anton
"Außer sich" ist ein in jeder Hinsicht wildes, anarchisches Buch: In der Form, die sich jede Freiheit, jede Rückblende, jeden Einschub erlaubt. In der Sprache, die zwischen erlebter Rede, Dialogen und einem anekdotischen Stil bruchlos wechseln kann. Und auch im Inhalt. Es geht um Alissa, die sich selbst nur Ali nennt. Und um Anton, Alis verschwundenen Zwillingsbruder. Beide sind Mitte 20. Zuletzt hatte Anton der Mutter eine Postkarte aus Istanbul geschickt. Darum hat Ali sich aus Deutschland auf den Weg in die Türkei gemacht. Sie will ihren Bruder wiederfinden. Ali ist mit ihren Eltern aus Russland nach Deutschland gekommen. Russische Juden, die nach ihrer Ankunft sogleich mit einer vollen Ladung Antisemitismus konfrontiert wurden. Ein Kindheitstrauma, eines von vielen.
Neben der Gegenwartserzählung rekonstruiert Sasha Marianna Salzmann wie nebenbei die Geschichte von Alis Familie vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die sowjetische Nachkriegszeit. So zum Beispiel die von Alis Urgroßeltern Etja und Schura, die sich an der Universität kennen lernen, im Jahr 1939 gemeinsam ihren Abschluss machen und sich nach dem Krieg als Ärzte und Forscher verdient machen – obwohl sie als Juden in der stalinistischen Ära längst schon ihren Job hätten verloren haben müssen.
Oder auch die von Alis und Antons Eltern, Valentina und Konstantin. Letzterer geht nach Russland zurück und stürzt dort buchstäblich ab. Sasha Marianna Salzmann hatte nicht vor, dieses russische Panorama auszubreiten. Auch deshalb, weil sie fürchtete, man würde "Außer sich" als einen streng autobiografischen Roman lesen. Doch im Arbeitsprozess wurde ihr klar, dass sie den Hintergrund ihrer Hauptfigur historisch ausleuchten muss, um Ali glaubhaft zu machen.
Komplexes Geflecht von Figuren
"Wenn ich Alis Geschichte nicht kenne, und damit meine ich nicht meine, denn meine kenne ich, dann kann ich den Roman nicht schreiben. Und das ist im Grunde genommen genau der Weg, den Ali dann abläuft: Ich muss wissen, wo ich herkomme, um zu wissen, wo ich hinrenne. Und dann habe ich gedacht: OK, Ali, dann müssen wir jetzt eben deine Familiengeschichte aufarbeiten."
"Außer sich" ist ein komplexes Geflecht, das Aufmerksamkeit erfordert. Fast jede Figur hat nicht nur einen, sondern gleich mehrere Namen; je nachdem, aus welcher Perspektive sie gerade betrachtet wird. Es ist deutlich zu erkennen, dass Salzmann keine gewöhnliche Debütantin ist, dass sie Szenen entwerfen und Dialoge schreiben kann. Vor allem aber hat sie ein tiefes Misstrauen gegen glatt aufgehende, ungebrochen stringente Deutungen von Vergangenheit. Es gibt keine einfachen Lösungen und keine Herkunftserklärungsmuster im Roman, die nicht selbst wiederum hinterfragt würden. Die Mythen, Erinnerungen, Heldengeschichten, die sie als kollektive Familienhistorie aufschreibt, setzt sie nicht als unumstößlich voraus. Nostalgisch oder gar rührselig ist nichts an diesem Buch. Den in Familienromanen so beliebten "Großvater erzählt"-Duktus gibt es bei Salzmann allenfalls als Zitat oder gar Karikatur einer oralen Tradition. Es könnte alles so gewesen sein. Aber auch ganz anders.
"Ich habe so ein vages Gefühl, dass Erinnerung das zentrale Thema des Romans ist. Das Umschreiben von Erinnerung, diese Fetzen, die angeblich etwas Ganzes ergeben sollten, was unmöglich ist. Wir wissen ja mittlerweile durch die Hirnforschung, dass Erinnerung nichts ist, was auf einer Festplatte gespeichert und abgerufen wird, sondern eine Information, die dauerhaft überschrieben wird."
Geschlechteridentitäten lösen sich auf
Neben dem Wort "Erinnerung" ist das dehnbare Wort "Identität" wohl der Schlüsselbegriff in "Außer sich", und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Nichts ist für Ali gesichert; nicht die eigene Herkunft und auch nicht das Geschlecht. Im von Demonstrationen und Unruhen aufgeputschten Istanbul stürzt sie sich in ein abenteuerliches Leben, lernt in einer Bar Katho, wahlweise auch Katharina oder Katüscha kennen; einen Tänzer aus Odessa, der gerade dabei ist, von der Frau zum Mann zu werden. Und auch Alis eigene Geschlechtsidentität löst sich im Verlauf des Romans zunehmend auf. Ali beginnt, Testosteron zu nehmen und sich zu verwandeln. Aus dem Sie wird ein Er. Die Mutter in Deutschland wird angesichts der langsam wachsenden Barthaare nicht mehr nach Enkelkindern fragen.
Ein harter Stoff. All das allerdings ist zu keinem Zeitpunkt in ein theoretisch-diskursives Korsett gepresst, sondern literarisch umgesetzt und erzählerisch eingelöst. Selbstverständlich geht es auch um Machtverhältnisse. Salzmann ist sich dessen bewusst, dass der Akt einer Identitätszuschreibung durch sie als Autorin auch wiederum ein Herrschaftsakt ist. Was auf dem Papier steht, ist nicht mehr zurückzunehmen. Und gerade die sich zunehmend radikalisierende Ali ist eine ideale Projektionsfläche für viele Klischees: migrantisch, jüdisch, lesbisch. Doch genau gegen diese Form der Fremdbestimmung und Fremdbeschreibung wehrt Salzmann sich. Weder ihre Theaterarbeiten noch ihren Roman möchte sie durch vorschnelle Etikettierungen in ihrer Komplexität eingeengt sehen.
"Ich würde mir mehr Diskussionen in der Richtung wünschen, und zwar intersektional: Was soll schwules Erzählen sein? Oder was ist ein queeres Buch? Oder was ist ein jüdisches Thema? Oder was ist Migrantenliteratur? All diese Kategorien, wir anscheinend brauchen, um zu kommunizieren, und ich nehme mich da nicht raus, wir müssen kategorisieren, um zu verorten. Das ist aber wahnsinnig schade, vor allem, wenn es um Kunst geht. Weil Kunst sich all dem ja entziehen muss, sonst ist es keine Kunst. Wenn ich sage, ich schreibe jetzt programmatisch einen lesbischen Roman, dann ist es keine Kunst."
Ein Text, der nicht gefallen will
Es wird Stimmen geben, die behaupten, "Außer sich" sei ein Buch, das kalkuliert modische Diskurse der Gegenwart verhandele. Sie hätten zum einen Recht, doch das ist nicht das Problem des Buches. Zum anderen aber würden sie genau in jene Falle hineintappen, die Sasha Marianna Salzmann aufgestellt hat. Denn diese Prosa ist nicht auf Themen hingeschrieben; sie produziert auch keine Ergebnisse. Auch ist dieser Text keinesfalls darauf angelegt, um jeden Preis zu gefallen. Er ist eckig, sperrig, oft kühn in seiner Bildsprache und überschießend in seinem emotionalen Gehalt. Aus "Außer sich" sprechen vor allem eine innere Dringlichkeit und eine sprachliche Kraft, die buchstäblich in der Lage sind, geografische und Genregrenzen zu überschreiten.
Sasha Marianna Salzmann: Außer sich. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 366 Seiten, 22 Euro
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 366 Seiten, 22 Euro