Die Erinnerungen an das Frauengefängnis in Mekka verfolgen Kholoud Bariedah bis heute. Sie ist 20, als die Religionspolizei eine Wohnung stürmt, in der sie mit Freunden eine Party feiert.
"Das war eine normale Party, wie jede Party hier jedes Wochenende. Wir hörten unsere Musik, also das war gemischt zwischen saudischer und arabischer und ausländischer Musik."
Doch in Saudi-Arabien ist das ein Verbrechen. Nicht-verwandte Männer und Frauen dürfen sich nicht zusammen in einem Raum aufhalten, tanzen, Musik hören. Kholoud Bariedah wird zu vier Jahren Haft und 2000 Stockhieben verurteilt – selbst für saudische Verhältnisse eine hohe Strafe; weil sie keine Reue zeigte vor Gericht, vermutet Kholoud Bariedah. Sie kommt ins Frauengefängnis nach Mekka, die ersten Wochen verbringt sie in Isolationshaft.
"Es gibt Folter, die größer und stärker ist als körperliche Folter. Für mich war die Anstalt die Hölle selber. Albtraum."
Haftverkürzung für Koran-Kenntnis
Einige Wochen später wird sie in den normalen Trakt verlegt. Viele ihrer Mitgefangenen sind keine Kriminellen, sondern Frauen, die vor häuslicher Gewalt und sexuellem Missbrauch geflohen sind. Oder psychisch Kranke, die die Familie loswerden wollte. Frauen in Saudi-Arabien brauchen für wichtige Entscheidungen einen männlichen Vormund. Wer bei der Entlassung aus dem Gefängnis nicht von einem männlichen Verwandten abgeholt wird, bleibt in der Haftanstalt, selbst wenn die Strafe abgesessen ist.
Doch Kholoud Bariedah erfährt, dass Haftzeitverkürzung möglich ist, wenn man den Koran auswendig kann. Mit eisernem Willen verfolgt sie dieses Ziel. Die Koranverse geben ihr Halt, manchmal macht sie im Gefängnis sogar tiefe spirituelle Erfahrungen.
"Es gibt ein Gefühl oder einen Zustand, den man erreicht nach einer Weile, nach Hingabe an die spirituellen Rituale. Man kann das erreichen durch den Koran oder die Bibel oder Thora, egal, was man macht, ob man fastet oder meditiert. Oder einfach in dem Moment lebt."
Outing als Atheistin
Nach eineinhalb Jahren darf Kholoud das Gefängnis verlassen – denn sie hat es tatsächlich geschafft, den Koran auswendig zu lernen. Und hat sich zugleich vom Islam losgesagt – zunächst noch nicht öffentlich. Einige Jahre versucht sie, ein normales Leben zu führen, studiert, gründet ein Unternehmen. Doch mit Kritik hält sie sich auch trotz der schrecklichen Hafterfahrung nicht zurück. Mit Freunden betreibt sie eine Facebookseite, dort postet sie, dass sie Atheistin geworden ist. Sie ist gerade beruflich unterwegs in Europa,
"Als ich die Nachricht bekommen habe, dass eine ägyptische Zeitung über mich geschrieben hat - oder mich genannt hat als Atheistin - in diesem Moment, es war 2014, das war eine Katastrophe, weil drei Freunde von mir, die arbeiteten auch an derselben Seite auf Facebook, wurden in Ägypten festgenommen. Was machen sie mit mir in Saudi-Arabien dann? Ich war in Europa, hatte geplant, zurück nach Dschidda zu gehen, aber nach der Veröffentlichung dieser ägyptischen Zeitung war es sehr gefährlich, aus Europa zu reisen."
In Deutschland bekommt sie Asyl. Und verarbeitet ihre Erfahrungen zu einem Buch. Auf die neue Führung in Saudi-Arabien setzt sie einige Hoffnung:
"Momentan ist die Zeit für Änderungen in Saudi-Arabien. Ich hoffe, Hamad bin Salman wird der neue Gorbatschow für Saudi-Arabien. Oder er hat keine Chance."
Zu den Veränderungen durch Kronprinz bin Salman gehört die Aufhebung des Autofahrverbots für Frauen. Es werden wieder Kinos eröffnet und erstmals wurde das Existenzrecht Israels anerkannt. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International ist allerdings nicht so optimistisch. René Wildangel:
"Was die Menschenrechtslage angeht, hat sich in Saudi-Arabien bisher nichts verbessert. Man muss fast sagen, im Gegenteil, die Lage ist noch schwieriger geworden, in verschiedenen Feldern. Das heißt 2017 haben wir wieder eine hohe Zahl von Todesstrafen, die Meinungsfreiheit ist ganz stark eingeschränkt, Menschenrechtsverteidiger werden verfolgt. Wir haben im September noch mal eine regelrechte Verhaftungswelle gehabt, wir haben eine ganz starke Unterdrückung der schiitischen Gemeinde."
Kholoud Bariedah setzt sich von Deutschland aus für die Frauenrechte in Saudi-Arabien ein, besonders für die Abschaffung des gesetzlichen Vormunds für erwachsene Frauen. Als Atheistin betrachtet sie sich nicht mehr; sie ist jetzt auf der Suche nach einer neuen spirituellen Heimat.