Saul Friedländer wurde 1932 in Prag geboren. 1938 floh er mit seinen Eltern nach Frankreich. Seine Eltern konnten ihn 1942 bei Nonnen unterbringen. Sie selbst konnten dem Holocaust nicht entkommen.
Saul Friedländer wurde als Überlebender und Historiker des Holocaust in seiner Anfangszeit von Zunftkollegen angegriffen, da er, so der Vorwurf, angesichts seiner eigenen Geschichte die Vernichtung der europäischen Juden nicht objektiv analysieren könne. In seinen umfangreichen Studien über "Das dritte Reich und die Juden" wollte Friedländer allerdings bewusst nicht verbergen, mit welcher Fassungslosigkeit er die Dokumente über die Judenvernichtung studiert hatte. Die subjektive Ergriffenheit, das "innere Bedürfnis", persönlich Stellung zu nehmen, bildet auch den Ausgangspunkt seines Essays über Marcel Prousts Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit".
"Las ich den Roman nicht immer wieder, weil er einem inneren Bedürfnis entsprach, weil er auf etwas in meinem persönlichen Leben antwortete, das danach rief, sich in dieses Buch zu vertiefen? Einige Themen des Romans kamen meinem eigenen, jahrzehntelangen Nachsinnen vor allem über Identität sehr nahe."
Bekenntnis oder Verleugnung
Um "Identität" kreist nun auch sein aktueller Essay zu Proust. Friedländer fragt: Bekennt sich Proust zu seiner Identität als Jude und als Homosexueller in seinem Leben und in seinem Werk? Schwankt er, oder verleugnet er sein Schwulsein und sein Judentum?
In seinem Hauptwerk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" gibt Marcel Proust bekanntlich seinem Erzähler den eigenen Vornamen: Marcel. Im Roman beschreibt Marcel, wie er Schriftsteller wird. In seiner Kindheit in Combray geht er noch in die Kirche. Als Erwachsener besucht er die mondänen Pariser Salons, bis er nur noch die Kunst anbetet. Und seinen Roman schreiben kann. Marcel liebt junge Mädchen, die Lesben sind. Und er beobachtet Männer wie den Baron de Charlus, die schwul sind. Aber beide nennt Marcel "Invertierte" von "Sodom und Gomorrha". Nach dem biblischen Ort für die Verdammnis der gleichgeschlechtlichen Liebe.
Da im Text des Romans der alternde homosexuelle Baron de Charlus mit "ockergelben Flecken", "geschminktem Gesicht", "weiblich betonter Brust" und "stark ausgebildetem Hinterteil" ausgestattet wird, vermutet Friedländer darin eine Verhöhnung von Charlus in der "Sprache des Hasses". Geschuldet sei dies der Anpassung des Autors Proust an das konventionelle Publikum seiner Zeit. Proust habe seine Leser nicht abstoßen, sondern "beschwichtigen" und "besänftigen" wollen. Nur getarnt, versteckt, indirekt bekennten sich Autor und Erzähler zu ihrer Homosexualität.
Die Wunde Proust
Noch entschiedener geht Friedländer mit Marcel Prousts Haltung zum Judentum ins Gericht. Er begrüßt zwar das Engagement, mit dem sich Proust zu seiner Zeit für den jüdischen Artilleriehauptmann Dreyfus einsetzte, der zu Unrecht wegen Verrats an die Deutschen verurteilt worden war. In Prousts Romanwerk aber findet Friedländer Stellen, die angeblich beweisen, dass Proust den Antisemitismus seiner Zeit bedient habe. Besonders abstoßend wirkt auf Friedländer ein Vergleich, in dem der Jude Bloch und Kamerad des katholischen Erzählers Marcel gleich zwei Mal mit einem Schakal gleichgesetzt wird.
"Und dennoch geht der Erzähler, nachdem er diese widerwärtigen Beleidigungen hingeschleudert hat, wieder zu beinahe wohlwollenden Bemerkungen über seinen jüdischen Jugendfreund über, als wäre die Hyäne nie erwähnt worden."
Solche und andere Herabsetzungen von Bloch als "Itzig" und "Wanze" machen Friedländer "fassungslos". Proust wird für ihn zur Wunde. Und er legt die Finger in diese Wunde.
Die zionistische Lesart von Proust
Man kann indessen das Werk von Proust auch ganz anders lesen, wie etwa aktuell der bedeutende französische Literaturhistoriker Antoine Compagnon. Dieser zeigt, wie Proust in den 1920er-Jahren von jüngeren französischen Juden und Zionisten gelesen wurde. Aus dieser Sicht wäre Bloch die Karikatur eines assimilierten Juden, der um jeden Preis in die höhere französische Gesellschaft aufsteigen will, deshalb sein Jüdischsein verleugnet, es aber dadurch umso deutlicher verrät. Zudem sei der Stil von Proust geradezu "rabbinisch", meint Compagnon, mit komplizierten Satzstrukturen und mehreren Sinnstufen. Eben wie im Talmud.
Aber gerade auf Stilfragen lässt sich Friedländer in seinem Proust-Buch überhaupt nicht ein. Eine Schwäche, die seine Fehleinschätzungen offenbaren.
Zum Beispiel glaubt Friedländer, eine antisemitische Äußerung im Frühwerk von Proust sei ein Zitat von Flaubert. In Wahrheit handelt es sich um ein "Pastiche", eine literarische Verfahrensweise, mit der Proust den Stil seiner Vorbilder imitierte und ironisierte. Ein Beispiel:
"Alle Juden haben eine Hakennase, eine außergewöhnliche Intelligenz, eine gemeine nur nach Gewinn strebende Seele; ihre Frauen dagegen sind etwas weich."
Hier karikiert Proust einen Allgemeinplatz à la Flauberts "Bouvard und Pécuchet". Und liefert so eine anti-antisemitische Attacke auf den damaligen Judenhasser Drumont. Ein Pastiche hält Friedländer also für ein Zitat. Und an anderer Stelle fasst er wiederum ein Zitat als wörtliche Rede auf. Wenn etwa die Mutter des Erzählers Marcel im französischen Provinznest von Combray das deutsche Wort "Empfindelei" gegen das deutsche Wort "Empfindung" setzt. Friedländer führt das auf die echte Identität der Mutter von Proust zurück, Jeanne Proust, geborene Weill. Aufgrund ihrer jüdisch-elsässischen Herkunft aus großbürgerlichem Haus sei die Mutter von Proust gebildet und weltgewandt gewesen. Zitat Friedländer:
"Die Verwendung von 'Empfindelei' deutet auf eine hervorragende Kenntnis der gesprochenen deutschen Sprache hin, die unter den wahren Eingeborenen von Combray vermutlich rar war."
In Wahrheit aber hat Marcel Proust die deutschen Ausdrücke nicht von seiner realen Mutter gehört, sondern im Briefwechsel von Mendelssohn-Bartholdy nachgelesen. Er hat sie der katholischen Mutter im Roman nur in den Mund gelegt. Friedländer nimmt alles wörtlich und hat keine Empfindung für Übertragungen und Übertreibungen, für mehrere Sinnstufen.
Im Essay von Saul Friedländer bietet die Kenntnis von "Empfindelei" den Beweis für die Verkennung der jüdischen Identität von Prousts Mutter und somit auch seiner eigenen jüdischen Herkunft. In Wahrheit aber zeugt es von Friedländers Unkenntnis der kommentierten Ausgaben von Prousts "Recherche".
Proust als Zumutung
Am Ende seines Essays versucht Friedländer seinen Proust vor der eigenen Verdammung zu retten, indem er die erhabene Schönheit seiner Bilder und Klänge bewundert. Und er fügt noch eine persönliche Note hinzu:
"Ein tiefer Schmerz begleitet mich bis heute: die Erinnerung an die niemals wiederkommende Mutter."
Als Saul Friedländer 2007 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, las er den letzten Brief seiner Mutter vom 28. August 1942 vor:
"Meine große innige Bitte an Sie, gnädige Frau, ist nun, sich unseres Kindes anzunehmen und ihn bis zum Ende dieses Krieges Ihre Patronage angedeihen zu lassen. Wenn wir zugrunde gehen müssen, so haben wir das eine große Glück, unser geliebtes Kind gerettet zu wissen."
Der neunjährige Saul sah seine Mutter nie wieder. Sie ist in Auschwitz verschollen. Friedländer kann Proust nicht verzeihen, dass der französische Schriftsteller in seinem Lebenswerk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" seine jüdische Mutter in eine engstirnige, katholische Provinzlerin aus Combray verwandelte.
Objektiv irrt Friedländer. Er hat zu wenig Verständnis für den Stil und die Technik von Proust, seine Parodien und Pirouetten, seine Überbietungen und Umkehrungen, seine Inversionen. Aber vielleicht muss man ihn angesichts seiner Biografie verstehen: Für Friedländer ist Proust und dessen literarisches Spiel mit der jüdischen Identität eine Zumutung, die ihm offensichtlich wenig Raum lässt für Differenzierung und genaue Lektüre.
Saul Friedländer: "Proust lesen". Ein Essay
aus dem Englischen von Annabel Zettel
C.H. Beck Verlag, München. 208 Seiten, 22 Euro.
aus dem Englischen von Annabel Zettel
C.H. Beck Verlag, München. 208 Seiten, 22 Euro.