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"Scènes du Geste"
Auszüge aus historischen Tanzwerken auf PACT Zollverein

Christophe Wavelet hat Auszüge aus Tanz-Schlüsselwerken des 20. Jahrhunderts kompiliert und durch historische Film-Ausschnitte ergänzt. Gezeigt wurde diese Performance in Essen auf Pact Zollverein.

Von Nicole Strecker |
    Die Idee ist simpel: Der Dramaturg, Autor und Kurator Christophe Wavelet wird von Mathilde Monnier beauftragt die Tanzhistorie zu plündern und für das von ihr geleitete Centre National de la Danse eine Art lebendiges Archiv zu erarbeiten. Dass darin die Namen Merce Cunningham, Valsav Nijinsky oder Oskar Schlemmer auftauchen überrascht nicht weiter, aber zum Glück: Ein schlichtes Nostalgie-Sampling ist nicht dabei herausgekommen. Hier wird nicht einfach die Vergangenheit nachgetanzt, sondern sie wird neu-inszeniert und in betont andere Kontexte verschoben. Szene eins: "Narcisse" von Isadora Duncan aus dem Jahr 1905.
    Duncan – das bedeutet duftige Wallekleidchen und üppige Weiblichkeit. Nichts davon bei Wavelet. Bei ihm ist es der Tänzer und Choreograf Francois Chaignaud, Dragqueen des zeitgenössischen Tanzes, der halb nackt und mit blonder Lockenmähne die Bühne betritt, um – zutiefst ergriffen von der eigenen Einzigartigkeit – einen herrlich androgynen Narziss hinzutänzeln und so die Choreografie für eine Frau auf den männlichen Mythos zurückzuführen.
    Mit filigranen Armen streichelt er die Luft, wogt hin und her als wäre er selbst der sanft-wellenbewegte See, der sein Abbild spiegelt. Nur seine Füße – die gehören eben doch eher einem Hobbit als einer göttlichen Duncan-Narzisse. Das Cross-Gendering und seine verfremdende Wirkung bleibt Grundprinzip des Abends – was einerseits ein Hinweis auf den historischen Abstand ist. Denn das veränderte Geschlechterbild ist sicher eine der bedeutendsten Unterscheidungen heutiger Tänzer zu denen des vergangenen Jahrhunderts. Die Emanzipation hat auch die Tanzwelt umstrukturiert, viele zeitgenössische Choreografen inszenieren Männer und Frauen unterschiedslos, selbst klassische Ballerinen haben nicht mehr zwangsläufig Lust auf die Rolle der ätherisch-asexuellen Sylphide. Andererseits: Bei Duncan und Nijinsky steckte schon damals in der Erotik die Provokation.
    Daran erinnert Christophe Wavelet, wenn er nun bei Nijinskys Skandal-Choreografie "Nachmittag eines Fauns" den geilen Waldgeist von einer Frau tanzen lässt. Oder umgekehrt: das eigentlich weibliche Opfer im Sacre du Printemps von einem männlichen Tänzer. Die Rekonstruktion dieser Szene ist ohnehin einer der Höhepunkte im Programm: Statt das berühmte Strawinsky-Stück einzuspielen, umkreist eine Musikerin das Opfer und zählt laut die Takte des rhythmisch hochkomplexen Werks – und der sich dem letalen Kollaps entgegenhüpfende Tänzer wird wortwörtlich 'angezählt'. Im zweiten Teil des Abends sind es dann vor allem die live vom Ensemble Musikfabrik gespielten Kompositionen von Lachenmann und John Cage, die herkömmliche Kategorien sprengen. Ein erwachsener Pianist klemmt sich hier hinter ein winziges Spielzeugklavier für die berühmte "Suite for Toy Piano" von John Cage.
    Was heißt 'rekonstruieren' im Tanz, also einer Sparte, die kaum zu verschriftlichen ist und in der die Trennung von Werk und Aufführung praktisch unmöglich ist? Schon vor einigen Jahren ließ der Brite Tino Sehgal eine Abfolge von Zitaten aus bahnbrechenden Choreografien gleich dreimal hintereinander von drei nackten Männern in drei unterschiedlichen Räumen durchtanzen – die originellste Hinterfragung des Tanzkanons, die man sich denken kann. So witzig ist nun die im PACT Zollverein gezeigte Beschwörung der wildesten Avantgarde-Geister nicht. Aber auch Wavelets "Scenes du Geste" sind ein eindeutiges Plädoyer fürs eigenständige Re-Enactment. Keine werktreue Ehrfurcht vor der Vergangenheit, sondern eine klug-ironische Bildungsrevue über ästhetische Revolutionsmomente.