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Schäfer-Gümbel zur Flüchtlingspolitik
"Die Union erlebt momentan einen Realitätsschock"

Im Streit um die Flüchtlingspolitik hat SPD-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel die Union aufgefordert, die gemeinsam beschlossenen Maßnahmen "endlich vernünftig" umzusetzen statt immer neue Instrumente zu verlangen. Vor dem Krisentreffen der drei Regierungsparteien sagte er im DLF, die Union habe die Themen Flucht, Zuwanderung und Fluchtursachen "über Jahre ignoriert".

Thorsten Schäfer-Gümbel im Gespräch mit Christiane Kaess | 30.10.2015
    Der hessische SPD-Vorsitzende Thorsten Schäfer-Gümbel.
    Der hessische SPD-Vorsitzende Thorsten Schäfer-Gümbel. (picture alliance / dpa / Timm Schamberger)
    Der CSU-Chef und bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer erwecke den Eindruck, "dass das, was beschlossen wird, nicht wirkt, nicht ausreichend ist, bevor es überhaupt umgesetzt ist", sagte der stellvertretende SPD-Vorsitzende im DLF. "Deswegen entsteht ein Bild von Durcheinander, von Chaos." Die "rechtspopulistische Stimmungsmache" Seehofers sei "extrem verantwortungslos".
    Schäfer-Gümbel, der auch Landesvorsitzende der hessischen SPD ist, fordert die CSU auf, nicht länger "ein politisches Spiel zu inszenieren" und die Bundesländer gegeneinander auszuspielen. "Man braucht uns nicht zu erzählen, den anderen Bundesländern, dass die Lage kompliziert ist und dass wir alle gefordert sind. Da hat Bayern keine exorbitante Sonderstellung."
    Der SPD-Vize bezweifelt, dass die Zahl der Asylsuchenden begrenzt und reguliert werden könne. "Wer glaubt, Menschen, die auf der Flucht sind, vor Krieg fliehen, vor Hunger, ernsthaft mit Zäunen aufzuhalten, der irrt gewaltig. Wir müssen Fluchtursachen bekämpfen. Und da muss man der Unionsfamilie schon vorhalten: Sie haben das Thema Flucht, Zuwanderung, Fluchtursachen über Jahre ignoriert." Schäfer-Gümbel sagte weiter: "Die erleben momentan einen Realitätsschock."
    Der Vergleich mit Transitzonen an Flughäfen hinke gewaltig, sagte Schäfer-Gümbel. Dieses Verfahren setze unter anderem darauf an, "dass Menschen sehr gezielt, nämlich durch zwei Flugzeugtüren in der Regel durch einen Korridor irgendwo ankommen", sagte der SPD-Vize. "Das kann ich mir an der bayerisch-österreichischen Grenze nicht vorstellen, dass wir da zwei Türen einbauen und alle da durchkommen." Nötig seien jetzt unter anderem zusätzliche Investiitionen in den Wohnungsbau und mehr Sprachkurse.

    Das Interview mit Thorsten Schäfer-Gümbel in voller Länge:
    Christiane Kaess: Er soll also gelöst werden an diesem Wochenende, der Konflikt zwischen Bayern und Berlin um den Umgang mit Flüchtlingen. Darin droht die CSU mal mit einer Verfassungsklage und mal wird darüber gemutmaßt, ob der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Horst Seehofer die CSU-Minister aus der Berliner Regierungskoalition abziehen könnte, sollte Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren Kurs in der Flüchtlingspolitik nicht ändern. Vor dem Treffen der drei Parteivorsitzenden am Sonntag kommen morgen schon mal Horst Seehofer und Bundeskanzlerin Angela Merkel zusammen. SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel hat sich nun auch zu Wort gemeldet.
    Und darüber sprechen möchte ich jetzt mit Thorsten Schäfer-Gümbel. Er ist stellvertretender Parteivorsitzender der SPD sowie Fraktions- und Landesvorsitzender der SPD in Hessen. Guten Morgen!
    Thorsten Schäfer-Gümbel: Schönen guten Morgen, Frau Kaess.
    Kaess: Horst Seehofer will also mehr als das, was bisher beschlossen wurde. Was wird er nach dem Koalitionsgipfel am Sonntag bekommen haben?
    Schäfer-Gümbel: Das kann ich Ihnen so auch nicht sagen, weil das Problem ist ja eigentlich, dass unsere Erwartung ist, dass das, was verabredet und vereinbart ist, endlich vernünftig umgesetzt wird. Und das Problem mit dem, was Horst Seehofer immer wieder veranstaltet, ist, dass er den Eindruck erweckt, dass das, was beschlossen ist, nicht wirkt, nicht ausreichend ist, bevor es überhaupt umgesetzt ist. Und deswegen entsteht ein Bild von Durcheinander, von Chaos, und da ist das Verhalten von ihm schon extrem verantwortungslos.
    "Ein politisches Spiel"
    Kaess: Aber mal Hand aufs Herz, Herr Schäfer-Gümbel: Wenn Sie die Lage in Bayern sich ansehen, haben Sie vielleicht auch etwas Verständnis dafür?
    Schäfer-Gümbel: Ich habe Verständnis für jeden dafür, dass er sagt, wir haben es mit einer außergewöhnlichen Situation zu tun. Das ist in Bayern sicherlich so. Das ist aber in vielen anderen Bundesländern auch so. Ich komme aus Gießen. Gießen ist, wenn ich das richtig sehe, derzeit in der Bundesrepublik die größte Erstaufnahmeeinrichtung überhaupt. Wir haben in Gießen 6500 Menschen, davon etwa ein Drittel in Zelten untergebracht. Also man braucht uns nicht zu erzählen, den anderen Bundesländern, dass die Lage kompliziert ist und dass wir alle gefordert sind. Da hat Bayern keine exorbitante Sonderstellung. Was der Unterschied ist, ist, dass an anderen Stellen alle darauf konzentriert sind, das umzusetzen, was vereinbart ist, um Menschen ein Dach überm Kopf zu geben, ihnen Kleidung zu geben, sie zu versorgen, weil sie auf der Flucht sind, während die bayerische CSU nach wie vor versucht, hier ein politisches Spiel zu inszenieren, und das ist nicht verantwortlich.
    Kaess: Aber die Zustände, die Sie gerade beschrieben haben, daran wird ja kurzfristig das schärfere Asylrecht auch nichts ändern.
    Schäfer-Gümbel: Natürlich nicht! Im Gegensatz zu Herrn Seehofer versucht auch niemand anders diesen Eindruck zu erwecken. Wir wissen alle, dass wenn es Krieg in Syrien gibt, wenn die Lage im Irak weiter so bleibt, wie sie ist, wie sie teilweise in afrikanischen Ländern ist, dass das nicht einfach und kurzfristig zu stoppen ist.
    Kaess: Genau. Und deshalb versucht Horst Seehofer noch mal nachzulegen. Bisher ist es ja so, dass sich die Bundeskanzlerin gegen die geforderte Obergrenze stellt, die Horst Seehofer eben immer wieder haben möchte und einfordert. Sollte die CDU der CSU hier entgegenkommen, würde die SPD mitgehen?
    Schäfer-Gümbel: Sehen Sie, die spannende Frage ist doch: Wie soll das umgesetzt werden? Ich weiß gar nicht, wie er sich das vorstellt. Jetzt nennt man irgendeine Zahl. Wie soll die denn anschließend durchgesetzt werden? Werden wir einen Zaun an der Grenze aufbauen? Wie soll das reguliert werden angesichts der derzeitigen Situation?
    Kaess: Zäune werden ja woanders in Europa im Moment auch diskutiert.
    "Das Schauspiel ist wirklich unerträglich"
    Schäfer-Gümbel: Das stimmt und sie wirken ja offensichtlich nicht, sondern Menschen suchen sich einen anderen Ausweg. Und deswegen ist das eine Scheinlösung. Wer glaubt, Menschen, die auf der Flucht sind, vor Krieg fliehen, vor Hunger, ernsthaft mit Zäunen aufzuhalten, der irrt gewaltig. Wir müssen Fluchtursachen bekämpfen und da muss man der Unionsfamilie schon klar vorhalten: Sie haben das Thema Flucht, Zuwanderung, Fluchtursachen über Jahre ignoriert. Sie haben sich überhaupt nicht mit dieser Frage beschäftigt. Und sie erleben im Moment einen Realitätsschock, weil sie sich der Frage nicht mehr entziehen können. Da erwarte ich wenigstens, dass sie angemessen darauf reagieren. Da scheint mir der Realitätssinn innerhalb der CDU deutlich stärker ausgeprägt zu sein als in der CSU.
    Und lassen Sie mich das auch mal politisch bewerten: Wenn wir die Union so attackieren würden, wie Horst Seehofer und Teile der CSU mit der Union umgehen, da wäre es aber nicht sehr lustig in der Koalition. Da hätten wir schon ganz andere Debatten. Das Schauspiel, was Horst Seehofer und seinesgleichen gerade organisieren, ist wirklich unerträglich.
    Kaess: Da schließen Sie sich dem SPD-Chef Gabriel an, der das ja auch heute schon kritisiert hat.
    Schäfer-Gümbel: Das ist keine Überraschung.
    Kaess: Das ist überhaupt keine Überraschung. Aber, Herr Schäfer-Gümbel, Sie bieten ja auf der anderen Seite auch keine Lösungen an.
    Schäfer-Gümbel: Das stimmt nicht. Wir haben bereits vor über einem Jahr gesagt, Leute, da kommen Themen auf uns zu, mit denen wir uns intensiver beschäftigen müssen. Es wird ja häufig gesagt nach dem Motto, wir würden schnell unsere Agenda wechseln, unsere Themen verändern. Sigmar Gabriel hat weit im letzten Jahr gesagt, wir müssen uns mit diesen Fragen beschäftigen. Eine Reihe von Landesregierungen hat ...
    Kaess: Beschäftigen ist ja keine Lösung.
    SPD-Antworten "wollte keiner hören"
    Schäfer-Gümbel: Beschäftigen heißt, auch Lösungen anzubieten, insofern, dass wir unsere internationale Verantwortung bei Fluchtursachen-Bekämpfung stärker wahrnehmen; dass wir beispielsweise das UNHCR, also das Flüchtlingshilfswerk der UN, ordentlich finanzieren. Dass das Flüchtlingshilfswerk der UN im September diesen Jahres die Zuweisungen an Flüchtlinge in den Flüchtlingscamps im Libanon, in Jordanien, in der Türkei von 28 Dollar pro Mann und Monat auf 13 Dollar reduzieren musste, weil die Finanzierung nicht stimmt, ist einer der Gründe, warum Leute sich auf den Weg machen. Die Perspektivlosigkeit in der Region ist ein Riesenthema. Wir haben lange gesagt, man muss an dieser Stelle auch mit Putin reden. Man muss alle Beteiligten an den Tisch holen, um eine Lösung in der Region zu finden. Es ist nicht so, dass wir keine Antworten geboten hätten; sie wollte keiner hören. Das ist aber eine andere Frage.
    Kaess: Die Punkte, die Sie jetzt aufgezählt haben, die werden ja auch mittlerweile diskutiert. Das ist ja auch erkannt worden.
    Schäfer-Gümbel: Ja, nach anderthalb Jahren.
    Kaess: Aber kommen wir noch mal zu den kurzfristigen innenpolitischen Maßnahmen. Es gibt ja noch mal ganz konkrete Vorschläge von Seiten der CSU wie zum Beispiel die Transitzonen. Bundesinnenminister Thomas de Maizière, der hat schon vor einer Woche eine Einigung mit der SPD verkündet. Das hat dann die SPD dementiert. Wird sich die SPD nach diesem Wochenende doch auf Transitzonen eingelassen haben? Werden die zum Schluss nur anders heißen?
    Schäfer-Gümbel: Transitzonen nach Vorstellung der CSU sind große Inhaftierungseinrichtungen, die im Prinzip außerterritorial funktionieren, und das wird es mit uns nicht geben. Es ist in der Ministerpräsidentenkonferenz zwischen Bund und Ländern lange vereinbart, dass wir sogenannte Wartezentren und Verteilzentren aufbauen. Die sind auch in Teilen schon eingerichtet. Trotzdem ist dort die Verfahrensbeschleunigung noch nicht so weit vorangeschritten, wie wir uns das wünschen. Das liegt aber in der Organisationsverantwortung des Bundesinnenministeriums. Und ich empfehle auch dem Bundesinnenminister, sich mehr mit der Frage der Umsetzung beschlossener Maßnahmen zu beschäftigen, als jeden zweiten Tag eine neue Sau durchs Dorf zu treiben und damit ebenfalls den Eindruck zu erwecken, wir würden sozusagen ständig unzureichend agieren. Jetzt geht es darum, das umzusetzen, was verabredet ist. Das ist die Beschleunigung von Verfahren, das ist die Verteilung, die beschlossen wurde, und da muss endlich die Umsetzung funktionieren und da ist vor allem auch das Bundesinnenministerium gefordert.
    Kaess: Wir halten fest: Man wird sich nach dem Wochenende geeinigt haben auf Verteilzentren, in denen nicht inhaftiert wird und in denen schnellere Verfahren stattfinden?
    Zwei Türen an der Grenze
    Schäfer-Gümbel: Entschuldigung! Auf die haben wir uns schon verständigt. Das ist längst vereinbart. Das ist Beschlusslage der Ministerpräsidentenkonferenz mit dem Bund und diese sind schon eingerichtet. Sie müssen nur hochgefahren werden, man muss mit ihnen arbeiten. Deswegen darf man die beiden Sachen nicht miteinander vermischen. Das, was die CSU versucht, nämlich jetzt sozusagen ein neues Instrument zu entwickeln, indem man außerterritorial mit Inhaftierungseinrichtungen arbeitet, das wird nicht funktionieren. Auch der Vergleich zum Flughafen hinkt an der Stelle übrigens von vorne bis hinten, weil das Flughafenverfahren unter anderem darauf ansetzt, dass Menschen sehr gezielt, nämlich durch zwei Flugzeugtüren, in der Regel durch einen Korridor irgendwo ankommen. Das kann ich mir an der bayerisch-österreichischen Grenze nicht vorstellen, dass wir da zwei Türen einbauen und alle da durchkommen.
    Kaess: Aber Verteilzentren könnten durchaus in der Grenzregion auch angesiedelt werden?
    Schäfer-Gümbel: Das ist schon so! Das sind schlicht und einfach Auffanglager, in denen man versucht, Menschen zu sammeln, damit man sie dann ordentlich im Sinne von geordneten Verfahren auf die Bundesländer verteilen kann, wo sie dann weiter entweder zunächst in die Notunterbringungen oder direkt in die Erstaufnahmeeinrichtungen weitergeleitet werden. Es geht ja darum, dass wir in der Tat auch eine bessere Struktur hier reinkriegen. Das ist etwas, was längst vereinbart ist, was es in Teilen bereits aufgebaut gibt, beispielsweise, wenn ich das richtig sehe, in Manching und in Bamberg, um nur zwei Standorte zu nehmen. Ein Verteilzentrum entsteht beispielsweise oder ist eingerichtet in Mannheim, wo beispielsweise die Zuweisungen auch nach Hessen laufen. Das Entscheidende ist die Beschleunigung von Asylverfahren in solchen Bereichen und da kann ich nur noch einmal sagen: Ich erwarte einfach, dass jemand wie der Bundesinnenminister sich um die Umsetzung der getroffenen Beschlüsse kümmert. Das, was die CSU hier an rechtspopulistischer Stimmungsmache macht, wird es mit uns nicht geben.
    Entspannung der Flüchtlingskrise
    Kaess: Herr Schäfer-Gümbel, dann sagen Sie uns doch noch: Wenn die SPD nichts Neues will, sondern mit den Instrumenten arbeiten will, die schon beschlossen sind, wann können wir mit einer Entspannung der Situation rechnen?
    Schäfer-Gümbel: Wir können mit einer Entspannung der Situation rechnen, wenn es die entsprechenden Vereinbarungen auch auf der europäischen Ebene gibt, wenn wir mit der Türkei Verabredungen getroffen haben und wenn wir Fluchtursachen wirksam bekämpfen. Deswegen sind im Moment auch so viele unterwegs. Frank-Walter Steinmeier ist ständig unterwegs, um mit Blick auf die europäische Situation, aber auch mit Blick auf die Situation in Syrien an Lösungen zu arbeiten. Und dass das möglich ist, hat im Übrigen sein großer Erfolg, an dem er ganz wesentlich mitbeteiligt war, zum Atomabkommen mit dem Iran gezeigt. Das ist einer der ganz großen Schritte, um in der Region zu politischen Lösungen zu kommen.
    Kaess: Herr Schäfer-Gümbel, wir haben nur noch ganz wenig Zeit. Ich möchte einmal noch ganz kurz zurückkommen zur innenpolitischen Situation. Wenn die SPD bei ihrer Position bleibt, nichts Neues, wie soll dann der Streit in der Koalition an diesem Wochenende gelöst werden?
    Schäfer-Gümbel: Ich sage Ihnen: Nichts Neues ist nicht das Thema. Wir werden beispielsweise über zusätzliche Investitionen reden müssen in Wohnungsbau. Wir haben da erste Schritte gemacht; da muss aber mehr kommen. Das sind die Maßnahmen, um die es geht: bessere Integration, Beschleunigung und Verstärkung der Sprachkurse. Da geht es auch um Personal. Es ist nicht so, dass es nicht neue Maßnahmen geben muss, aber wir reden über die richtigen Maßnahmen und nicht über die falschen.
    Kaess: Wir werden sehen, ob sich die CSU damit zufrieden geben wird.
    Schäfer-Gümbel: Sicher nicht!
    Kaess: Thorsten Schäfer-Gümbel war das. Er ist stellvertretender Parteivorsitzender der SPD und Fraktions- und Landesvorsitzender der SPD in Hessen. Danke für dieses Gespräch heute Morgen.
    Schäfer-Gümbel: Gern geschehen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.