Archiv

Schamoni über Kiez-Größe
"Wolli Köhler war kein Zuhälter, sondern Bordellbetreiber"

Bordellbetreiber Wolli Köhler war eine schillernde Figur auf dem Hamburger Kiez der 60er- und 70er-Jahre. Nun bringt Rocko Schamoni Interviews mit der Kiez-Grüße am Hamburger Schauspielhaus auf die Bühne. "Mich interessieren Randgestalten eher als Zentralgestalten", sagte Schamoni im Dlf.

Rocko Schamoni im Corsogespräch mit Ulrich Biermann |
    Rocko Schamoni, Entertainer, Autor und Musiker
    Rocko Schamoni setzt sich in seinem Leseabend mit dem Hamburger Urgestein Wolli Köhler auseinander (DRadio / Daniel Marschke)
    Ulrich Biermann: Verblüffende Einsichten vermittelte der Hamburger Autor Hubert Fichte in Interviews, die er ab Ende der 1960er in St. Pauli führte. Ethnografische Gespräche über käufliche Liebe, Drogen, das Rotlichtmilieu. Einer seiner Hauptgesprächspartner dabei: Wolli Köhler, eine schillernde Figur, eine Größe auf dem Hamburger Kiez der 60er und 70er. Teile dieser Gespräche bringt der Autor und Musiker Rocko Schamoni heute Abend auf die Bühne des Hamburger Schauspielhauses. Rocko jetzt mit Hang zur Halbwelt?
    Rocko Schamoni: Ich habe ja gar keinen Hang zur Halbwelt – mich interessieren Randgestalten eher als Zentralgestalten. Und manchmal sind diese Randgestalten Halbweltler und manchmal sind es Viertelweltler oder Garnichtweltler. Und in diesem Fall ist jetzt gerade Wolli Köhler, sprich Wolli Indienfahrer, eine Figur, die aus dem Rotlichtmilieu stammt. Ob das halbweltlich anzusiedeln ist, überlasse ich anderen. Aber grundsätzliche Zuneigung zur Halbwelt spielt in meinem kulturellen Werk nicht die oberste Geige.
    "Er ist beleidigt, wenn ihn jemand als Zuhälter tituliert"
    Biermann: Drei Schlagworte – Zuhälter, Marxist, Weltreisender. Trifft das Wolli?
    Schamoni: Nein, er hätte sich sehr energisch dagegen verwehrt. Denn er war kein Zuhälter, sondern er war Bordellbetreiber – das ist ein Riesenunterschied. Als Bordellbetreiber, in seinem Fall, ist er Zimmerwirt und Zimmervermieter gewesen. Er hat die Zimmer an Huren vermietet und die Huren hatten wiederum jeweils ihre eigenen Zuhälter. Aber er hat sich niemals als Zuhälter gesehen und wenn Sie den Satz jetzt wiederholen wollten, dann müsste man zuallererst "Bordellwirt" oder aber "Puff-Boss" einsetzen – das hätte er gelten lassen.
    Biermann: Komischerweise finde ich genau diesen Dreiklang in allen Veröffentlichungen zu Ihrer Produktion, die heute Abend im Schauspiel Hamburg stattfindet. Woher kommt das?
    Schamoni: Weil vielleicht schon andere da nachgelesen haben – im Werk von Hubert Fichte oder in den Interviews. Es gibt ja dieses Interview-Buch "Wolli Indienfahrer" schon seit 50 Jahren fast. Und da berichtigt Wolli Köhler auch immer wieder, wenn von einem Zuhälter die Rede ist. Er sagt immer "ich bin Puff-Boss" – und da nimmt er es sehr genau mit und ist sehr beleidigt, wenn ihn jemand als Zuhälter tituliert.
    "Die Texte sind von Wolli"
    Biermann: Es ist ja nicht so, dass Sie jetzt nur Hubert Fichtes "Wolli Indienfahrer" gelesen haben, die Interviews, die er zwischen 1969 und 1977 mit diesem Bordellbetreiber geführt hat, sondern Sie haben Wolli die letzten Jahre seines Lebens begleitet. Wie kam dieser Kontakt zustande?
    Schamoni: Der kam zustande über den Dokumentarfilmer Gerd Kroske. Gerd Kroske hat eine Hamburger Trilogie verfilmt: Die Hauptfiguren dieser Trilogie waren zuallererst Norbert Grupe, der legendäre Boxprinz von Hamburg, dann, als zweites eben, Wolli – der Film über Wolli heißt "Wollis Paradies" – und der dritte Film war über Heino Jaeger, der heißt "look before you kuck". So ist es genau. Im Zuge dieser Beschäftigung mit diesen Filmen bin ich dann also auf Wolli gestoßen und hatte das große Glück, ihn persönlich kennenlernen zu dürfen. Und wir haben uns angefreundet. Und dann habe ich ganz viele Interviews mit ihm geführt und bin so in sein Werk auch eingestiegen, weil er selber eben viel geschrieben hat und auch gezeichnet und gemalt hat, und durfte da ganz viel lernen von ihm.
    Biermann: Das ist ja nicht nur ein Abend von Ihnen, sondern das ist ja ein Abend zusammen mit Lina Beckmann, Bastian Lomsché, Michael Weber und der Dame aus der Tagesschau, Linda Zervakis. Kaprizieren Sie sich ganz auf die Texte, die Fichte zusammengestellt hat oder gibt es auch eigene Texte von Wolli?
    Schamoni: Na ja, das sind ja eigene Texte, also Fichte war ja nur Stichwortgeber und Fragender. Und die Texte, die Aussagen, sind eben von Wolli und von einer Hure namens Sandra. Die berichten aus ihrem Alltag im Rotlichtmilieu und bei der Sexarbeit. Das sind sehr interessante, aufschlussreiche Interviews über ihr Leben dort und über die Schwierigkeiten, die man in diesem Milieu hat. Und insofern würde ich die Urheberrechte eher Wolli Köhler und der Hure namens Sandra zuschlagen als Hubert Fichte. Dem würde ich die Rechte an den Fragen zuschlagen.
    "Interessierter Blick" statt Romantizismus
    Biermann: Keine Angst vor Romantisierung? Oder dass Sie in die Romantisierungs-Ecke gedrängt werden?
    Schamoni: Doch, doch, das kommt schnell auf, dass man denkt, dass ich jetzt das 70er-Jahre Rotlichtmilieu romantisieren will und dass da irgendwie so ein zärtlicher Blick auf eine vergangene Zeit in St. Pauli vorherrscht. Ist bei mir aber gar nicht so. Das war eine sehr interessante und teilweise sehr harte und auch sehr erschreckende Zeit mit ganz schlimmen Episoden – aber auch mit sehr interessanten. Und insofern ist das kein zärtlicher Blick zurück auf etwas, was auf traurige Art und Weise vergangen ist, sondern ein interessierter Blick auf eine Zeit, die eine vollkommen andere Freiheitswahrnehmung hatte als heute. Das heißt, dass damals der Begriff "Freiheit" komplett neu definiert worden ist in den Endsechzigerjahren, wie wir alle wissen. Und eben auch alle Formen der Freiheit nochmal neu buchstabiert wurden, vor allen Dingen die sexuelle Freiheit. Und das ist eben sehr interessant, mit dem heutigen Freiheitsbegriff und mit dem heutigen Sexualbegriff, das quasi miteinander abzugleichen.
    Biermann: Das klingt für mich fast wie eine soziokulturelle Studie.
    Schamoni: Ja. Das wird aber dann lebendig, wenn man diese Leute berichten hört. Und wenn sie berichten von ihrem Alltag – gerade die Hure Sandra. Wenn sie also berichtet über ihre Aversionen gegen die deutschen Freier und wie ungern sie ihren Beruf eigentlich ausübt. Auf der anderen Seite will sie das aber trotzdem machen, weil sie mehr Geld mit weniger Aufwand verdienen kann als in anderen Berufen. Das ist dann doch sehr lebendig und sehr aufschlussreich – und überhaupt gar nicht wissenschaftlich.
    Biermann: Die Zeitung mit den Großbuchstaben, die frohlockt in Hamburg schon: "Das wird sicher ein saftig-skurriler Theaterabend".
    Schamoni: Ja, da kann man sich ja nicht gegen wehren (lacht). Die Zeitung mit den Großbuchstaben, die schreibt halt immer, was sie will. Und man kann es ihr nicht verbieten – so ist das halt, ne?
    Biermann: Überrascht Sie das?
    Schamoni: Na ja, die suchen natürlich, wenn man so will, den Romantizismus in dem Ansatz und würden sich freuen, wenn da so ein skurriler 70er-Jahre-Anekdotenabend über lustige Bordellbesuche abgefeiert wird. Aber so wird es nicht sein. Das ist, glaube ich, teilweise sehr lustig, was da, zumindest von den Protagonisten, von sich gegeben wird. Ob die Leute das dann vorgelesen auch so empfinden werden, wissen wir nicht. Aber es ist eben auch sehr tragisch manchmal und eben auch sehr aufschlussreich – es hat also alle Texturen, die ein guter Leseabend braucht.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.