Archiv

Schau der Hamburger Kunsthalle
Anita Rée in neuem Licht

Die Hamburger Kunsthalle präsentiert jetzt die erste umfassende Museumsausstellung zum Werk der Hamburger Malerin Anita Rée (1885–1933). Die rund 150 Objekte aus allen Schaffensphasen zeigen das Werk einer faszinierenden Künstlerin der 1920er-Jahre, die in vielerlei Hinsicht ein Leben zwischen den Welten führte.

Von Rainer-Berthold Schossig |
    Anita Rée: Selbstbildnis. Öl auf Leinwand. 66 x 60,8 cm.
    Anita Rée wie sie sich selbst sah. Im Jahr 1930, drei Jahre vor ihrem Selbstmord. (Anita Rée/Hamburger Kunsthalle/bpk)
    Die Hamburger Kunsthalle zeigt eine Retrospektive der von den Nazis verfemten Malerin Anita Rée.
    Dieses Selbstporträt spricht aus dem Jahre 1930 bis zu uns herüber. Ein ernster, brennender und zugleich verlöschender Blick, ungeschützte Nacktheit, vor fahlem, schwefelgelbem Leuchten. Die Wange melancholisch in die Hand gestützt, Schockstarre - Welten-Ende, Gefasstheit und Präsenz. Für die Hamburger Kuratorin Karin Schick ein Schlüsselbild:
    "Anita Rée war als Persönlichkeit und Künstlerin ein Widerspruch in sich. Ich glaube, dass ihre Kraft aus diesen Quellen herrührt: Faszination für die Moderne, Begeisterung für die angewandte Kunst, für die Gegenstände, das Wahrnehmen von Alltag - das sind die Polaritäten, innerhalb derer sie gelebt, gedacht und in der Kunst gearbeitet hat."
    Im Mittelpunkt stehen ihre enormen Fähigkeiten als Zeichnerin, Menschen wiederzugeben, Attitüden zwischen Lebenslust und Ausgrenzung, Krankheit, Exotik und Alltag zu skizzieren. Bezeichnenderweise hatte die gebürtige Hamburgerin ein sehr nördliches Vorbild:
    "Anita Rée hat Paula Modersohn-Becker unglaublich geschätzt für ihre Entschiedenheit, in ihrem Leben und in ihrer Kunst. Diese Entschiedenheit hatte Anita Rée nicht. Die Kraft ihrer Kunst steckt im Abwägen, Verharren und Bewegen zwischen den Möglichkeiten - in dieser Zwischenzone."
    Anita Rée entstammte einer deutsch-jüdisch-lateinamerikanischen Kaufmannsfamilie, nach unbeschwerten Anfängen trieb der NS-Horror sie in Vereinzelung, später in scheinbare Ausweglosigkeit: Mit 45 Jahren, im Dezember 1933 wählte sie - auf der Insel Sylt, wohin sie sich in einer letzten Ausweichbewegung zurückgezogen hatte - den Freitod.
    Doch die Hamburger Schau blickt nicht von diesem Fluchtpunkt auf das bewegte Werk Anita Rées. Es geht ums Ganze, das Gesamtwerk dieser besonderen Malerin, mehr als 80 Jahre nach ihrem Tod. Dazu kann die Hamburger Kunsthalle auf einen großen eigenen Bestand an Zeichnungen und Gemälden zurückgreifen. Im Mittelpunkt der Blick aufs eigene Ich:
    "Es gibt zeitgenössische Stimmen, die sagen, sie hatte ein fremdländisches Auftreten, Erscheinungsbild. Deshalb ist sie auch in vielerlei Hinsicht sensibler gewesen, wenn sie Porträts gezeichnet und gemalt hat von den anderen - im Bewusstsein der eigenen Verfasstheit."
    In solch selbstkritischer Wachheit gelingen Anita Rée eine Reihe hervorragender Porträts von Zeitgenossen. Jahrelang gilt sie als beste Bildnismalerin Hamburgs. Rein stilistisch geht ihr Weg über Kubistisches und Expressionistisches bis hin zu einem Hauch Neuer Sachlichkeit. Das Faszinierende an ihrem Werk aber sind die immer neuen Versuche und Experimente, die zu überraschenden Synthesen führen. Sie schwärmt für van Gogh und Cézanne und reist noch früh nach Paris, danach entstehen ganz neue Selbstporträts: melancholisch verschattet, kühl modelliert, in blau-grauem Pastell, doch in sichtlich energetischer Spannung.
    "Anita Rée war als Persönlichkeit und Künstlerin, ein Widerspruch in sich. Ich glaube, dass ihre Kraft aus diesen Quellen herrührt. Faszination für die Moderne, Begeisterung für die angewandte Kunst, für die Gegenstände, das Wahrnehmen von Alltag, dann wieder diese Distanziertheit von der Realität, das sind die Polaritäten, innerhalb derer sie gelebt, empfunden und in der Kunst gearbeitet hat."
    Ausgedehnte Italien-Reisen, das Erlebnis der südlichen Landschaft geben ihr schließlich noch einmal ganz neue Anstöße. Es entstehen atmende mediterrane Stadtansichten, sonderbar gemischt aus mineralisch verkanteten Formen, weißleuchtenden Bäumen, märchenhaft-exotischen Mauern, Felsen und Treppen ins Nirgendwo, Vedutten einer Welt außerhalb der Zeit, Zwischenreiche aus Erinnerung und Hoffnung, zwischen magischem Realismus, und intensiv beobachteter Sachlichkeit. Berührend die Madonnen- und Kinderbildnisse mit ihren Geborgenheiten und Ausgesetztheiten. Seltsam kontrastieren dazu die letzten, immer düsterer werdenden Bilder, die 1932/33 auf der Insel Sylt in den Monaten vor ihrem Freitod entstanden: Dünenbuckel wie urtümliche Schildkröten, zwischen den versprengte Schafe weiden, hoffnungslos regnerische Strände, wolkenverhangene Himmel. Keine Aussichten auf bessere Tage.