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Schau mir in die Augen, Beute

Paläontologie. - Das Krabbeltier Anomalocaris stand im Kambrium an der Spitze der Nahrungskette. Wer dem Urzeit-Monster vor 500 Millionen Jahren im Meer begegnete, hatte wenig Chancen zu entkommen, denn das Tier besaß die wohl größten und schärfsten Augen, die es je gegeben hat.

Von Dagmar Röhrlich |
    Wo sie auftauchten, konnte es ungemütlich werden: Anomalocaris war der "Hai" des Kambriums vor mehr als 500 Millionen Jahren. Ein Gigant, der an einen Hundertfüßer erinnert, aber mit breiten, beweglichen Flanken, die ihn wie einen Rochen durchs Wasser gleiten ließen:

    "Der Körperlänge eines kompletten Exemplars, das in Marokko gefunden worden ist, beträgt 90 Zentimeter. Im Kambrium waren sie die größten Tiere, die wir kennen. Die Art aus Südaustralien, mit der wir arbeiten, bringt es auf etwa 40 Zentimeter. Aber auch sie waren damals große Tiere."

    urteilt Greg Edgecombe vom Natural History Museum in London. Wie eine Gottesanbeterin hielt Anomalocaris stachelbewehrte Kopfanhänge nach vorn, mit denen er seine Opfer packte und zum Maul führte:

    "Wenn es darum geht, diese Beute zu entdecken und zu verfolgen, werden die Augen wichtig - und da kommen unsere fantastisch erhaltenen fossilen Augen ins Spiel. Sie zeigen, dass Anomalocaris voll ausgebildete Facettenaugen besaß. Er machte seine Beute visuell aus."
    Zwei bis drei Zentimeter waren diese Facettenaugen groß, die auf Stielen vom Kopf abstanden:

    "Der Kern der Sache ist, dass diese Augen sehr viele Linsen in sich vereinen. Es waren mindestens 16.000 Einzellinsen. Eine Stubenfliege hat rund 3000, moderne Libellen 23.000, und sie sehen hervorragend damit. Die Anomalocaris-Augen sind genauso aufgebaut wie die Facettenaugen moderner Gliederfüßer."
    Für Greg Edgecombe könnten diese Augen die Debatte entscheiden, wohin Anomalocaris im Stammbaum des Lebens gehört: Sie seien ein sehr starker Hinweis darauf, dass sie Gliederfüßer waren und damit Vorläufer der heute lebenden Insekten oder Krebstiere:

    "Wir kennen aus der fossilen Überlieferung zwar ältere Facettenaugen, aber auf das absolute Alter kommt es nicht an. Vielmehr legen die Anomalocaris-Augen nahe, dass schon der gemeinsame Ahne aller Gliederfüßer solche Facettenaugen hatte, sie also noch weiter in die Evolutionsgeschichte zurückreichen. Sie gehören wohl zu den grundlegenden Merkmalen der Gliederfüßer."

    Bleicht noch die Frage offen, wie Anomalocaris Beute machte:

    "Man hatte immer die Idee, dass Anomalocaris seine Beute packt und zermalmt. Aber er könnte seine Beute auch zerrissen und ausgesaugt haben. Allerdings haben wir in Australien mit unseren Anomalocaris-Fossilien Ansammlungen von zerbrochenen Trilobiten gefunden. Diese Bruchstücke sind an den Rändern abgerundet: Sie sind verdaut worden - und wer könnte diese faustgroßen Trilobiten erlegen und verspeisen? Zumindest scheint unser australischer Anomalocaris als Kandidat dafür infrage zu kommen."
    Die Augen von Anomalocaris beweisen eines, betont Greg Edgecombe: Als diese Jäger vor 520 Millionen Jahren auftauchten, waren die Nahrungsnetze ökologisch bereits so komplex, dass nur noch ein schwimmendes und hervorragend sehendes Tier die Position des Topräubers einnehmen konnte. Dabei waren Tiere überhaupt erst 20 Millionen Jahre vor Anomalocaris entstanden. Die Entwicklung lief damals wirklich sehr schnell ab.