Archiv


Schauer der Emotion

Meist fängt sie am Kopf an, läuft den Nacken hinunter, den Rücken entlang und endet schließlich an Händen und Füßen: die Gänsehaut. Einst gute Waffe gegen Kälte und beeindruckende Drohgebärde sind die kleinen Pickelchen heute eigentlich sinnlos.

Von Tomma Schröder |
    Björn Katzur: "'Jack, Jack, bleib bei mir Jack!' Titanic, die Abschlussszene, die hat immer ganz gut funktioniert. Die ermutigende Rede aus Braveheart "Heute kämpfen wir um unsere Freiheit". Was jetzt Studenten von mir im Sommer hatten, das war so ein Film, den habe ich nie gesehen. Deswegen komme ich auch nicht auf den… ich will sagen 'L.A Confidential', aber der heißt nicht so, der heißt irgendetwas mit Crash."

    Also eines Tages kommt eine Fee in mein Zimmer. Sieh mal an, du bist also eine Fee, sage ich. Na ja, und so haben wir uns weiter unterhalten. Und da ist sie ständig durch mein Zimmer geschwirrt und hat sämtliche Poster runtergerissen.

    Sie ist rumgeschwirrt?

    Ja! Sie hatte so kleine Stummelflügel, und ich war auch nicht sicher, ob die echt sind. Vielleicht war sie ja gar keine Fee. Doch dann hat sie gesagt: Ich beweise es dir.


    Björn Katzur: "Da gibt es so eine Szene, da gibt der Vater seiner Tochter – zum Einschlafen erzählt er ihr so eine märchenhafte Geschichte, dass er mal von einer Fee so einen unsichtbaren Zauberumhang bekommen hat und den schenkt er ihr. Aber das ist natürlich nichts."

    Mami!

    Ich komm schon, ich komm schon!

    Er hat ihn nicht mehr!

    Er hat was nicht?

    Ich hab ihn. Er hat doch den magischen Umhang nicht mehr!


    Björn Katzur: "Und am nächsten Tag will jemand diesen Vater umbringen, und die Tochter wirft sich vor ihn, weil sie meint, sie hat diesen Zauberumhang um."

    Nein, nicht auf die Straße!

    Björn Katzur: "L. A. Crash, doch so muss der heißen! Auf jeden Fall, diese Szene hat supergut funktioniert. Also, wie sich die Tochter vor diesen Vater wirft, das ist fast garantierte Gänsehaut, ja."

    Ist alles in Ordnung Daddy? Ich beschütze Dich doch!

    "Dann kleb’ jetzt einfach die EEG-Elektroden, die müssten ja ganz gut hierhin passen. Wenn man auch etwas höher ansetzt – ah, da ist aber die Armbeuge…"

    Ein Labor des Instituts für Psychologie der Universität Kiel. Schon eine Viertelstunde kniet Björn Katzur vor der Probandin Zoraida und klebt ihr den Unterarm voll Elektroden.

    "Gleich kommt noch diese Elektrodenpaste in die EEG-Elektroden, die messen sonst kein Signal. Sieht ein bisschen aus wie Honig, ist aber glaub ich nicht so lecker."

    Im besten Fall messen die Elektroden eine winzige Spannung, sobald die so genannten Haarbalgmuskeln auf dem Arm aktiviert werden. Diese kleinen Muskeln lassen die typischen Erhebungen auf der Haut entstehen – die den Menschen so sehr an gerupfte Vögel erinnern, dass er ihnen den Namen "Gänsehaut" gab. Gleichzeitig erhebt Katzur noch andere Daten: Mit Hilfe von kleinen Klemmen, die er Zoraida an die Fingerspitzen steckt, registriert er Blutdruck, Herzfrequenz und den Hautleitwert, der Aufschluss über die Erregung der Person geben kann. Und dann ist da noch die erste Erfindung von Björn Katzur: Die Goosecam, eine Gänsehautkamera. Angeschlossen an eine eigens entwickelte Software kann sie die Intensität der Gänsehaut vermessen. Zumindest theoretisch. In der Praxis funktioniert auch das noch nicht einwandfrei

    "Es gibt sehr anstrengende Phasen und dann gibt es sehr schöne Phasen, wo dann andere von den Ergebnissen begeistert sind. Aber bis dahin ist das oft – ich will nicht sagen ein Tal der Tränen – aber doch ein weiter Weg."

    Auf diesem Weg soll es heute ein Stückchen weiter gehen. Abgehängte Decken, ein bequemer Sessel und sogar Kerzen sorgen im Labor für das richtige Ambiente. Zoraida wird gleich Auszüge aus Filmen und Musikstücken präsentiert bekommen. Gänsehautklassiker wie etwa L.A. Crash in der Regie von Paul Haggis, die bei vielen Menschen für pickelig-prickelige Haut sorgen. Aber eben nicht bei allen. In einem Nebenraum steht ein Computer, auf dem etliche Fenster scheinbar wahllos nach oben und unten verlaufende Kurven anzeigen. Es sind die Signale der verschiedenen Elektroden, die Björn Katzur jetzt aufmerksam verfolgt:

    Flieht und Ihr lebt. Wenigstens eine Weile. Und wenn Ihr dann in vielen Jahren sterbend in Eurem Bett liegt, wäret Ihr dann nicht bereit jede Stunde einzutauschen von heute bis auf jenen Tag, um einmal, nur ein einziges Mal nur, wieder hier stehen zu dürfen, um unseren Feinden zuzurufen: Ja, sie mögen uns das Leben nehmen, aber niemals nehmen sie uns – unsere Freiheit!

    Jaaa!


    Katzur: "Das war sogar schon ein Stimulus. Wenn an dieser Stelle nachher eine sichtbare Gänsehaut ist, dann haben wir genau, was wir wollen."

    Nur ein paar Minuten läuft Braveheart von Mel Gibson – dann ist der Versuch schon vorbei.

    Katzur: "So, das war’s dann für heute"

    Zoraida: "Oh, schade. Habe mich gerade dran gewöhnt."

    Katzur: "Hattest du beim ersten Stimulus eine Gänsehaut?"

    Zoraida: "Ja. Mit den Schotten"

    Katzur: "Ah, Braveheart!"

    Zoraida: "Es ging einfach nur darum, ob man um seine Freiheit kämpfen möchte oder einfach feige davon läuft oder sich halt mutig dem Kampf stellt. Aber darum ging’s mir gar nicht. Was mich bewegt hat, war wirklich eher die Musik und die Stimmen als die Aussage."

    Oft ist es Probanden ein wenig peinlich, wenn sie bei Stücken, die etwa als kitschig oder schlicht verschrien sind, Gänsehaut bekommen. Auch deshalb möchte Björn Katzur gerne eine objektive Messmethode entwickeln. Denn bisher wurde Gänsehaut gemessen, indem Probanden selbst über Knopfdruck mitteilten, ob und wann sich bei ihnen die Haare aufstellten. Nicht gerade ein zuverlässiges Verfahren. Der Psychologe will erst einmal eine ausreichende Datenbasis beschaffen, bevor es an die eigentliche Frage geht: die nach dem Sinn der Gänsehaut. Theorien dazu gibt es bereits. Zum Beispiel diese hier:

    Theorie Nr. 1: Der Trennungsschrei

    Als sicher gilt, dass unsere Vorfahren vor allem dann Gänsehaut bekamen, wenn ihnen kalt war oder sie sich in einer bedrohlichen Situation befanden. Das ursprünglich vorhandene Fell stellte sich auf und konnte seinen Träger so wärmen oder Feinden gegenüber größer erscheinen lassen.. Eine Reaktion, wie sie sich heute zum Beispiel bei Katzen noch gut beobachten lässt. Beim Menschen mit seiner jämmerlichen Behaarung ist diese Funktion nicht mehr als ein sinnloses Relikt aus grauer Vorzeit. Doch neben dem Wärmen und Abschrecken scheint die Gänsehaut noch eine weitere Funktion gehabt zu haben. Die wird in Filmen wie Alfred Hitchcocks Klassiker "Psycho" genutzt und könnte auch heute noch ihren Zweck erfüllen. Günther Bernatzky, Biologe und Gänsehautforscher an der Universität Salzburg.

    "Die evolutive Erklärung der Gänsehaut stammt eigentlich von Panksepp. Er hat dargestellt, dass, wenn Tiere getrennt werden, dann erschallt der Ruf der Mutter in einer ganz bestimmten Frequenz."

    Einer Frequenz, die sich dem amerikanischen Emotionsforscher Jaak Panksepp zufolge bei einem Garanten für Gänsehaut beim Menschen wiederfindet: der quietschenden Kreide auf der Tafel. Bernatzky:

    "Und das soll bedeuten, dass die Tiere wieder zueinander kommen oder Jungtiere sollen wieder zur Herde kommen. Gleichzeitig weiß man auch, dass sich, wenn Tiere isoliert sind, deren Haare aufrichten. Das soll ihnen auch ein bisschen mehr Wärme geben, das soll ihnen auch signalisieren: hier stimmt etwas nicht. Um es sehr einfach zu formulieren: Der Sinn des Trennungsschreis liegt auf jeden Fall darin, dass Mutter und Kind wieder zusammenfinden. Möglicherweise liegt auch dabei eine Erklärung in der Gänsehaut, dass wir mehr zueinander kommen."

    Vater und Tochter beschützen einander, eine Armee schottischer Freiheitskämpfer stellt sich gemeinsam dem Feind entgegen – viele Filmszenen, die als Gänsehaut-Klassiker gelten, verweisen tatsächlich auf ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Auch Nationalhymnen oder Zeugnisse von historischen Ereignissen gehören hierher. Christian Kaernbach, Gänsehautforscher der Universität Kiel.

    "Bei mir gibt es vor allem eine Szene, die todsicher Gänsehaut auslöst. Und das ist interessant, die Szene funktioniert und funktioniert und funktioniert, auch wenn ich vorher weiß: Pass auf, in fünf Minuten kommt es!"

    Wir sind gekommen, Ihnen mitzuteilen, dass Ihre Ausreise….

    Kaernbach: "Der Satz von Genscher in der Prager Botschaft. Der Halbsatz 'wir sind gekommen, ihnen mitzuteilen'. Da geht es los, also jetzt auch. Ich spreche drüber, und es fängt schon wieder an."

    Björn Katzur: "Man kann sich ja schon überlegen, dass Gänsehaut auch etwas deutlich Sichtbares ist und dass das dann auch als Kommunikationsmittel durchaus eingesetzt wird. Zusätzlich auch natürlich, wenn man in der Gruppe gemeinsam Gänsehaut erlebt, dass das vielleicht den Zusammenhalt stärkt. Oder es einfach leichter ist, weil man sich da auch gehen lassen kann, weil man merkt: Ah, die anderen, die bewegt das auch so, da muss ich mich ja selber nicht zurückhalten. Also, es gäbe gute Argumente, warum da auf jeden Fall eine soziale Komponente enthalten ist. Aber auch dazu: noch keine Daten!"

    Theorie Nr. 2: Die Gänsehaut als Belohnung

    Auffällig ist, dass es vor allem auditive Reize sind, die Gänsehaut auslösen oder einfacher gesagt: Musik! Was wären die untergehende Titanic und die verzweifelten "Jack, Jack!"-Rufe ohne die passende musikalische Untermalung? Eckart Altenmüller hat sich daher mit seinen Kollegen an der Hannoveraner Hochschule für Musik und Theater auf die Suche nach Gemeinsamkeiten von Gänsehaut-Stücken gemacht und dafür unzählige mögliche Kandidaten untersucht.

    "Gehen wir ans Klavier! Also Musik, die keine Gänsehaut auslöst, ist Musik, die in jeder Hinsicht vorhersagbar ist. Und ich kann Ihnen da ein Beispiel machen. Wenn wir in der so genannten ernsten Musik Kadenzen spielen. Also Tonika, Subdominanten, Dominante, Tonika. Also ich mache Ihnen mal ein Klavierstück vor, das improvisiere ich gerade… Das ist ein Stück, das lockt niemanden hinter dem Ofen vor. Aber in dem Moment, wo ich eine ungewöhnliche Wendung bringe, da kann ich so etwas erzeugen was so sehnsuchtsvoll ist… Das waren jetzt überwiegend unvermutete Sprünge zwischen so genannten Terzverwandtschaften. Das ist sehr viel interessanter. Da gibt es natürlich auch sehr viel mehr Spielräume. Was wir noch gefunden haben, sind Stücke, die so einen gewissen Crescendo-Raum und weiten Charakter haben. Also ein Beispiel ist – ich kann das jetzt nicht wirklich solistisch spielen – der Anfang vom Klavierkonzert von Brahms, 2. Klavierkonzert… Und da wird ein Klavierspieler, der das Stück gut kennt, der wird dann sagen: 'Ah, das ist schon mal sehr schön und wird vielleicht schon die erste Gänsehaut haben.'… Und dann kommt die Flöte im Solo im Orchester… Und dann kommt der Solist, und jetzt haben wir einen Strukturbruch… Und dann haben Sie an solchen Enden, an solchen Schnittpunkten, das sind also so gänsehautverdächtige Momente."

    Plötzliche Strukturwechsel also, Lautstärkeänderungen oder der Einsatz von Stimmen, sind die wesentlichen Auslöser von Gänsehaut in der Musik. Eckart Altenmüller vermutet deshalb, dass es darum geht, Muster zu erkennen und schnell zu erfassen.

    "Wir wissen, all die Musik, die Gänsehaut auslöst, prägt sich auch gut im Gedächtnis ein. Und unsere Idee ist dabei, dass eben einer der wichtigen Punkte der Evolution der Musik war, dass es eine Spielwiese war, um auditive Mustererkennung im Menschen zu üben, in einer Zeit, wo es für uns extrem wichtig war, dass wir sofort erkannt haben, welcher Klang, welches Geräusch ist hier im Moment gerade um mein Lager herum. Schleicht sich jetzt gerade ein Höhlenlöwe an oder kommt die befreundete Gruppe von der Höhle nebenan. Das war ja irgendwann mal extrem wichtig, dass wir auditiv kategorisieren konnten. Und da konnte Musik so eine Art Spielwiese sein, dass wir Mustererkennung trainieren. Und wenn wir’s richtig gemacht haben und Strukturwechsel erkannt haben, wurden wir mit einer Gänsehaut belohnt."

    In Montreal, Kanada, legte Valerie Salimpoor Probanden in den Hirnscanner und spielte ihnen währenddessen ihre ganz persönliche Gänsehaut-Musik vor. Was die Neurowissenschaftlerin der McGill University mit Hilfe eines speziellen Verfahrens dabei beobachten konnte, bestätigt jetzt die schon länger gehegte Vermutung: Sobald sich die Härchen der Probanden aufrichten, wird in ihrem Gehirn Dopamin ausgeschüttet.

    "Dopamin ist das Hormon, das die stärkste bestätigende Wirkung in unserem Gehirn hat. Wenn unser Gehirn uns zeigen will, dass wir eine Handlung, ein Erlebnis wiederholen sollen, dann schüttet es dieses Hormon aus. Und dann machen wir das immer und immer wieder."

    Das Hormon ist bekannt dafür, dass es Verhalten, das dem Überleben dient, positiv verstärkt. Wer hungrig ist und Nahrung zu sich nimmt, wer sich fortpflanzt, wird mit einer Dosis Dopamin belohnt. Im Umkehrschluss hieße das: Auch die mit der Gänsehaut verbundenen Reaktionen müssten überlebenswichtig sein. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Hirnregion, in der das Dopamin ausgeschüttet wird: der Nucleus accumbens. Salimpoor:

    "Das ist die gleiche Hirnregion, in der beispielsweise Kokain oder andere starke, süchtig machende Drogen wirken. Der Nucleus accumbens ist eng mit unserem Gefühlszentrum verknüpft und ist eine entwicklungsgeschichtlich sehr alte Region, die auch bei Tieren existiert."

    Die Hirnregion verweist darauf, dass es sich bei der Gänsehaut zunächst einmal um einen archaischen Reflex handelt, so wie er etwa von Jaak Panksepp in seiner Theorie des Trennungsschreis beschrieben wurde. Bestimmte Töne und Musiksequenzen lösen Gänsehaut aus und rufen dabei den Wunsch nach Vereinigung mit anderen hervor. Das wäre ein guter evolutionärer Grund für eine Gänsehaut: Wer in einem starken sozialen Verbund lebt, wer den Schutz der Mutter sucht beziehungsweise den eigenen Nachwuchs beschützt, hat einen evolutionären Vorteil. Doch als alleinige Ursache für die Gänsehaut scheint die archaische, auch Tieren eigene Suche nach Gruppenzugehörigkeit und Schutz nicht auszureichen. Denn Valerie Salimpoor und ihre kanadischen Kollegen haben bei den Hirnscans noch mehr herausgefunden:

    "Sehr interessant ist, dass Dopamin nicht nur während des musikalischen Höhepunktes ausgeschüttet wird, sondern auch circa 15 Sekunden vorher – und zwar in einer anderen Hirnregion: im Nucleus caudatus. Und diese Region ist mit dem präfrontalen Cortex verknüpft – unserem Denkzentrum. Der präfrontale Cortex ist der am höchsten entwickelte Teil unseres Gehirns und unterscheidet uns von den Tieren. Seine Aufgabe ist es, gemachte Erfahrungen zu speichern und mit aktuellen Erlebnissen abzugleichen, um Vorhersagen zu treffen."

    Die emotionale Gänsehaut wäre damit nicht nur in entwicklungsgeschichtlich sehr alten Hirnregionen angesiedelt, sondern auch im Denkzentrum. Die Gänsehaut könnte demnach als Belohnungsmittel für richtige Vorhersagen gesehen werden, als Anreiz, auditive Muster für zukünftige Vorhersagen zu speichern. Hier deckt sich die Theorie von Eckhard Altenmüller weitgehend mit der Interpretation von Valerie Salimpoor.

    "Es geht wie bei vielen anderen ästhetischen Reizen, vor allem um eine intellektuelle Belohnung. Aber es scheint, dass sie sehr stark an unsere vorangegangenen Erfahrungen geknüpft ist. Vielleicht ist die Art der Sprache oder die Art der Musik, die wir in der Vergangenheit gehört haben, ausschlaggebend für unsere Erwartung. Und wenn diese Erwartung dann bestätigt oder überraschend ergänzt wird, fühlt sich das physiologisch gut an."

    Was sich für wen gut anfühlt, ist dabei höchst individuell. Allgemeine Parameter in der Musik, in Filmen oder bei historischen Ereignissen zu finden, die bei vielen Menschen Gänsehaut auslösen, ist vor diesem Hintergrund sehr schwierig. Das musste auch der Musikwissenschaftler Eckhard Altenmüller nach vielen Analysen feststellen:

    "Da, muss ich sagen, sind wir eigentlich gescheitert. Wir haben außer dieser allgemeinen Regel des Strukturwechsels und Strukturbruchs, haben wir keine Regel gefunden, die irgendwie eine Gänsehaut erklärt."

    Günther Bernatzky: "Die letzte Gänsehaut, die ich hatte, war gestern beim Hören der Musik von John Miles zum Thema 'Music was my first love.' Ja, ja, jetzt habe ich es am Oberschenkel sogar gekriegt."

    Eckhard Altenmüller: "Wahrscheinlich gestern. Und zwar hatte ich gestern einen jungen Mann hier aus Mexiko, und der hat mir eine CD mitgebracht, die er selber eingespielt hat mit Orchester, ein Antillen-Gitarren-Konzert. Und da gibt es eine tolle Stelle, wo das Orchester laut wird, und dann setzt die Gitarre ganz leise und sehnsuchtsvoll an."

    Björn Katzur: "Ganz stark auf jeden Fall bei einer Hochzeit vor einigen Wochen, wo ich Gast war und wo ich die Zeremonie wirklich sehr, sehr schön und rührend fand. Schon als die Musik einsetzte, zu der die Braut dann kam, hatte ich eine leichte Gänsehaut. Das war der Kanon von Pachelbel. Und als dann die Braut den Gang entlang schritt, da hatte ich eine ganz starke Gänsehaut."

    So alltäglich das Phänomen ist, so schwer ist es zu fassen: Von der Kreide, über Filme und Musik bis hin zu Berührungen gibt es eine Vielzahl an Reizen, die Gänsehaut auslösen. Bekannt ist, dass jeder Mensch unterschiedlich auf solche Reize reagiert. Personen, die eine niedrige Reizschwelle haben, die abhängig von Bestätigung, vom Lob der Gruppe sind, gelten dabei als besonders gänsehautanfällig. Insgesamt aber, so schätzt Valerie Salimpoor, bekommen 30 Prozent der Menschen überhaupt keine Gänsehaut. Bleibt die Frage, warum die anderen 70 Prozent mit Gänsehaut belohnt werden. Warum stellen sich ihnen die Haare auf? Würde es nicht reichen, wenn das Gehirn, wie etwa beim Essen und beim Sex, als Belohnung einfach Dopamin ausschütten würde? Es scheint, dass die Gänsehaut – einst einfacher physiologischer Reflex als Antwort auf Kälte oder Gefahr – im Laufe der Evolution weitere Funktionen übernommen hat. Heute fördert sie soziale Nähe, die intellektuelle Freude an der Vorhersage und korrekten Deutung von Geräuschen. Darüber hinaus gilt die Gänsehaut in der Emotionsforschung aber auch ganz allgemein als zuverlässiger "Emotionsmarker", als Beweis für starke Emotionen.

    Theorie Nr. 3: Gänsehaut als Emotionsverstärker

    Wer ins Kino geht oder schöne Musik hört, durchlebt dabei oft starke Emotionen, für die er mit einer Gänsehaut belohnt wird, lautet eine weitere ergänzende Theorie von Valerie Salimpoor.

    "Wir mögen diese Intensität der emotionalen Erregung, weil es sich gut anfühlt, aber keine direkten Konsequenzen für uns hat. Wenn wir im echten Leben starke Angst oder Traurigkeit erleben, hat das immer einen wirklichen Grund. Aber wenn wir ins Kino gehen oder Musik hören, dann ist es uns erlaubt, diese Intensität zu erleben, ohne dass wir gleichzeitig die Konsequenzen fürchten müssten."

    Die Tochter, die sich vor ihren Vater wirft, der schicksalhafte Entschluss der Schotten, die nervenaufreibende Duschsequenz aus dem Film "Psycho" – bei all diesen Szenen würden uns im echten Leben vermutlich auf eher unangenehme Weise die Haare zu Berge stehen. Doch trotz der Bedrohlichkeit, der Traurigkeit liefern diese virtuellen Filmszenen oft positive Gänsehaut-Erlebnisse, weil sie uns intensive Gefühle geben, ohne dass wir fürchten müssen, dass die eigene Tochter erschossen wird, dass wir im Kampf fallen oder unter der Dusche abgestochen werden. Gleichzeitig, so meint Valerie Salimpoor, aktivieren diese potentiell bedrohlichen Szenen und die starken Emotionen, die in Filmen oder Musik kodiert sind, aber auch unseren Kampf- und Fluchtreflex. Eben jenen, der uns schon zu grauen Vorzeiten die Haare zu Berge stehen ließ.

    "Man bekommt Gänsehaut, wenn das autonome Nervensystem stark erregt ist. Und das ist eine Art Kampf- und Fluchtsystem, das dir sagt: 'Hau ab oder kämpfe!' Und die Tatsache, dass Musik oder Filme diese Erregung - verbunden mit positiven Vorgängen - in uns auslösen, ist vielleicht der Grund dafür, warum wir sie so gerne mögen."

    Eine weitere Theorie, die immerhin den zwiespältigen Charakter der Gänsehaut erklären könnte. Schließlich werden Gänsehaut-Momente oft nicht nur rein positiv, sondern auch als ein wenig melancholisch oder unheimlich beschrieben. Björn Katzur:

    "Aber auch dazu: noch keine Daten!"

    Der Emotionspsychologe Björn Katzur will sich mit den vorläufigen Erklärungen noch nicht zufrieden geben. Er sammelt weiter Daten und hat dazu einen besonderen Gast in seinem Kieler Labor:

    "Müssen wir hier auch ran?"

    "Nein, heute nicht ans Bein, aber an beide Arme."

    Der große Mann schält sich aus seiner Motorradkleidung. Er war schon öfter hier und kennt die Prozedur.

    "Ich spanne meine Nackenmuskulatur an, und dann kommt so ein wohliger Schauer. Das ist ein schönes Gefühl. Das kribbelt überall, der ganze Kopf kribbelt."

    Matthias Köpke gehört zu den wenigen Menschen, die Gänsehaut auf Befehl auslösen können. Abwechselnd werden ihm blaue oder schwarze Kästchen auf einem Bildschirm präsentiert: Blau heißt: Gänsehaut bitte! Bei schwarz darf er entspannen. Dabei wird wieder alles erfasst, was von Belang sein könnte: Strom auf der Haut, Atmung, Blutdruck, Puls, Hautbild. Anschließend wird Matthias Köpke wieder entkabelt und muss beim Lösen der mit Tape befestigten Elektroden auch schon mal ein paar Haare lassen.

    Köpke: "Das sind die einzigen Schmerzen, die ich hier erleiden muss. Beim Abziehen des Tapes."

    Katzur: "Für die Wissenschaft."

    Köpke: "Ja, ja."

    Während Matthias Köpke mit einer Aufwandsentschädigung von zehn Euro und einigen Haaren weniger nach Hause geht, hat Björn Katzur wieder Material, das es zu analysieren gilt. Vielleicht gibt es neben den für Massenerhebungen viel zu teuren Hirnscans schon bald eine weitere zuverlässige Messmethode für Gänsehaut. Bis dahin wird Matthias Köpke aber noch einige Haare lassen, und so manch ein Proband ergriffen auf die Leinwand des Labors schauen.