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Schauspiel Bochum nimmt Spielbetrieb auf
Kluger Kommentar zum Zeitgeschehen

Am Schauspiel Bochum wird wieder gespielt. Vor wenigen Zuschauern, aber mit viel Engagement. Erstes Stück nach der Corona-Zwangspause: „Die Befristeten“ von Literaturnobelpreisträger Elias Canetti. Eine Art Science-Fiction-Vision über eine Welt, in der jeder Mensch seinen Todeszeitpunkt kennt.

Von Dorothea Marcus |
Eine Szene aus "Die Befristeten" am Schauspielhaus Bochum. Die Schauspieler*innen Dominik Dos-Reis, Marius Huth und Gina Haller stehen mit Abstand im leeren Zuschauerraum aufgereiht, in rot angezogen.
In Zeiten von Abstandsregeln wird jeder Zentimeter genutzt und Teile des Zuschauerraums werden in Bochum zur Bühne (Schauspielhaus Bochum / Birgit Hupfeld)
Die Eintrittskarte war zum Selbstausdrucken. Quälend lang dauert die Abfertigungsprozedur im Foyer. Und dann findet sich ein Häuflein von 50 Zuschauern in einem traurig entkernten Theatersaal, der für 800 ausgelegt ist: versprengt, vereinsamt, und dennoch seltsam privilegiert.
Lichtspiele und Nebelschwaden
Denn es ist auch erhebend und tröstlich, endlich wieder im Theater zu sein. Und, wie um zu beweisen, wie unverzichtbar das für die Reflexion des Menschen über die letzten, nicht ganz erfassbaren Dinge ist, lässt Regisseur Johann Simons die gewaltige Bühnenmaschinerie anwerfen, die Technik tanzen: Eine riesige Windmaschine wirft Nebelschwaden, es heben und senken sich die Bühnenböden, schaffen Ebenen, Schluchten, Abgründe: stolze Lichtspiele und eine grandiose Theaterillusionsmeditation. Und dann kommen die neun Schauspieler, einer nach dem anderen durch die Saaltüren hinein, rot gekleidet, als seien sie Mitglieder einer fremdartigen Sekte, der Zukunft entsprungen.
"Wir haben keine Angst. – Warum habt ihr keine Angst? – Wir haben keine Angst, denn wir wissen, was uns bevorsteht. Ist es so herrlich, was euch bevorsteht? – Wir wissen wann. – Ist es so herrlich zu wissen wann? – Es ist herrlich. – Seid ihr gern beisammen? – Nein. Nein. Nein! Wir sind nicht gern beisammen!"
Seltsame Regeln schützen vor dem Tod
Gern beisammen sind sie nicht, und bizarren, von oben gemachten Gemeinschaftsregeln unterworfen – seltsame Resonanzen gibt das mit der Corona-Lage, in der wir Gemeinschaft so vermissen und doch abstrakt scheinenden Regeln gehorchen, damit uns der Tod nicht ereilt. Der Tod, bei Elias Canetti "Der Augenblick" genannt, ist den Figuren im Stück in ihren Namen eingeschrieben, der nur eine Nummer ist.
"Wie viele Jahre wirst du jetzt noch leben? – Nicht so viele. – Wenn ich einschlafe, schaue ich an die Decke und zähle die Kreise, das sind die Gutenachtküsse, die ich noch von dir bekomme. Ich sehe die Kreise, mal viele mal wenige. Ich will wissen, wie viele es sind!"
Das Geburtsdatum eines jeden dagegen ist in einer Kette eingeschweißt, die jeder um den Hals trägt und die ein großes Geheimnis birgt – privilegiert und begehrt sind die hohen Zahlen, bemitleidenswert die niedrigen, und niemand stellt das System infrage.
"Haben Sie sich nie für eine junge 88 interessiert? Alle Frauen sind nach denen verrückt. 88er sind aufgeblasen und dumm. Was hat so ein Mensch schon geleistet? Seine 88 kriegt er bei seiner Geburt umgehängt. Er braucht nichts tun, als sie spazieren zu führen. Ich mag Leute, die es mit ihrem Namen schwer haben. Ein Mann wie Sie muss nachdenken, sonst kriegen Sie nichts fertig."
Szenenbild aus "Die Befristeten". Mit dem Stück von Elias Canetti in der Regie von Johan Simons öffnet das Schauspielhaus Bochum am 10.6.2020 wieder für das Publikum. 
"Die Befristeten" am Schauspielhaus Bochum - Das Theater kehrt zurück - mit Abstand
Nur 50 Menschen mit Maske in einem großen Theater. Aber immerhin: Im Schauspielhaus Bochum wird wieder vor Publikum gespielt. Zum Start gibt es Elias Canettis "Die Befristeten".
Parallelen in die Gegenwart
Was bedeutet es, um den eigenen Tod zu wissen? Und was fängt man mit dem Leben an – wo liegt sein Sinn, wie gestaltet man es, wie wird es verschwendet? Große Fragen werden hier gestellt, die im Angesicht einer weltweiten Pandemie vielleicht noch dringlicher geworden sind. Gestellt werden sie vor einer riesigen weißen Wand: Jeder muss sein eigenes Schicksal in die Hand nehmen.
Und immer wieder fällt ein Körper dahinter einfach so in einen Bühnenschacht, verglüht wie eine Sternschnuppe: Ein Menschenleben ist so schnell vorbei. Manchmal ergreift das, öffnet Gedankenräume, schlägt Parallelen zum Heute. Listig spielt Regisseur Johann Simons mit Corona-Bildern: Mal trägt einer Maske, dann wird mit rot-weißen Abstandsstäben hantiert.
Rebellen gelten als verrückt
Aber immer wieder ist zu spüren, dass die Inszenierung in wenigen Wochen aus dem Boden gestampft wurde, beim Sprechen und Spielen entstehen einige Längen. Ein Mann, die 50, gespielt von Stefan Hunstein, zettelt schließlich eine Revolte an, enthüllt, dass alle Kapseln leer sind. Zunächst wird er als Verrückter ausgeschlossen, dann überzeugt er die Masse – individuelle Tode sind wieder erlaubt, Morde möglich. Und so sieht man auf der Bühne am Ende, wie die Schauspielerin Gina Haller gewürgt wird wie der Afroamerikaner George Floyd: Die neue Selbstverantwortung bringt auch den tiefsten Menschenhorror zum Vorschein. Johann Simons ist ein kluger Kommentar zum seltsamen Zwischenfall gelungen, der die Welt seit drei Monaten ereilt.