Sind die besten Plätze im Theater schon ausverkauft, muss man nehmen, was man kriegt: Reihe zwanzig, ganz links außen, beispielsweise. Und dann verrenkt man sich den Hals, weil die blöde Säule im Weg ist und der blöde Zwei-Meter-Mann genau vor uns sitzt. Luxusprobleme eigentlich, denn was sollen die sagen, die wirklich nichts sehen? Leipzig hat die Lösung. Das Theater dort kann sich nämlich hören lassen:
"Guten Abend, meine Damen und Herren. Ich begrüße Sie zur heutigen Vorstellung von „Emilia Galotti“. Mein Name ist Beatrix Hermens. Ich hoffe, Sie haben mithilfe dieser Audiodeskription, die übrigens auch für mich als Sprecherin eine Premiere ist, ein eindrückliches Theatererlebnis."
Und dieses eindrückliche Erlebnis fängt schon an, bevor Emilia Galotti da ist: Dramaturg Matthias Huber führt die rund zwanzig blinden und sehbehinderten Gäste vor der Vorstellung direkt auf die Bühne.
"Jetzt gehen wir erst mal einen langen Gang, und dann schön verwinkelt mit Rechts-Links-rechts-Kombination, in den hinteren Bereich des Theaters."
Wie schnell dreht sich die Bühne? Was macht das Licht mit den Szenen, mit den Schauspielern? Und überhaupt, wie sehen die Kulissen aus, wie fühlen sie sich an, diese großen, schwarzen Säulen? Jedes Detail bekommen die Besucher präzise beschrieben – auch später, wenn der Vorhang sich öffnet und eine junge Frau auftaucht:
"Im Gegenlicht zeichnet sich Emilias Silhouette ab. Sie lehnt seitlich am hinteren Pfeiler und wird langsam nach vorn mitgedreht."
Seit Anfang Oktober ist „Emilia Galotti“ zwar schon als normaler Theaterabend auf dem Spielplan - aber erst nach der Premiere, als alle Bühnenabläufe feststanden, konnte sich ein Team aus fünf Leuten an das Skript für die Audiobeschreibung setzen - darunter Maila Giesder-Pempelforth und Kerstin Rupp. Vor dem Schreiben stand das nämlich das genaue Beobachten. Vor dem ersten, aufgeschriebenen Wort hieß es also: Emilia, Emilia und nochmals Emilia.
"Also, es war tatsächlich so, dass wir es richtig oft gesehen haben, bevor wir dann losgeschrieben haben. Und selbst dann haben wir mit einer DVD sozusagen gearbeitet und haben ganz viele Sachen auf den vierten oder fünften Blick erst selbst gesehen."
"...und wir sind auch in die erste Vorstellung alle mit Notizblöcken rein, haben da im Dunkeln mitgeschrieben und haben uns die Notizen gegenseitig zugeschickt, und jeder hat eigentlich ein anderes Stück gesehen."
Genau das war die Herausforderung: Das Geschehen auf der Bühne so neutral und so präzise wie möglich zu beschreiben, den Besuchern keine Emotionen vorzugeben, sondern einen absolut reinen Blick zu bekommen, einerseits. Dabei aber möglichst wenig Worte zu verlieren, andererseits. Denn die Audiobeschreibung muss immer genau in die Lücke passen. Dann nämlich, wenn sich die Schauspieler gerade mal nichts zu sagen haben:
"Der Prinz hockt am Boden. Er hebt einige Blütenblätter auf, lässt sie durch seine Hände rinnen, steht auf und wendet sich Marinelli zu. Nervös fasst er sich ans Kinn."
Ein Feilschen um jedes Wort war es, bis der Text stand, der im Laufe des Abends live gesprochen wird. Sind das jetzt Pfeiler, weil sie eckig sind, oder sind es nicht eher doch Säulen? Wie sieht das Kleid von Emilia überhaupt aus, etwa nur filigran? Ob die Sätze was taugten, das wusste das Autorenteam schnell: Eine ihrer Kolleginnen ist selbst blind. Und die konnte immer gleich ausprobieren, ob die Übersetzung vom Sehen ins Hören auch wirklich hinhaut:
"Zum Beispiel, wenn wir gesagt haben: Er lehnt sich an den Pfeiler und rutscht herab und sinkt zu Boden, oder so. Dann hat sie wirklich versucht, das mit ihrem Körper darzustellen. Und wir haben gemerkt, oh mein Gott, man kann sich mit dem Rücken an den Pfeiler lehnen, man kann sich mit der Schulter ranlehnen, man kann sich mit dem Kopf anlehnen und runterrutschen...“
Zwar gibt es die Audiodeskription auch schon an anderen Theatern - aber nicht regelmäßig wie zukünftig bei den Leipzigern. Die sammeln jetzt Spenden, damit noch mehr spezielle Kopfhörer angeschafft und noch mehr Produktionen als Audiobeschreibung angeboten werden können. Dramaturg Matthias Huber jedenfalls sieht von „Emilia Galotti“ jetzt mehr als vorher - besonders dann, wenn er die Augen geschlossen hat.
"Es schärft wirklich die Sinne, es ist Wahnsinn. Wenn man die Augen zumacht und das hört, es ist ein wahnsinnig schönes Erlebnis - man fühlt sich so an die Hand genommen!"
Die blinden und sehbehinderten Theatergänger saßen zusammen, man erkannte sie an ihren Kopfhörern. Zwar konnten sie das bittersüße Ende der armen Emilia nicht sehen – wohl aber Wort für Wort mitverfolgen, wie sie auf die finale Katastrophe zusteuert.
"Emilia stößt den Prinzen weg, er würgt sie, drückt sie an den Pfeiler und küsst sie auf den Hals. Vom linken Portal auf beobachtet Galotti die beiden. Zärtlich umfasst Emilia mit der linken Hand den Nacken des Prinzen. Mit der Rechten hält sie sich die Pistole an die Schläfe."