"Als ich vier Jahre alt war, sah ich das Rumpelstilzchen. Und habe tagelang, oder wochenlang, in einer Ecke unseres langen Flurs, im Dunkeln, ununterbrochen hab ich das gespielt. Und meine Mutter meinte irgendwann, also, das hat sie mir später erzählt, sie hatte Angst bekommen, und meinte: mein Gott, der Junge wird Schauspieler."
Gott sei dank ist er Schauspieler geworden, würde vermutlich heute seine Mutter rückblickend sagen. Jürgen Holtz ist einer der bedeutendsten seines Fachs in der Gegenwart. Er arbeitete mit Regisseuren von B bis W – von Benno Besson, Jürgen Gosch, Thomas Langhoff, Heiner Müller, Einar Schleef, Werner Schröter, Peter Stein, B.K. Tragelehn, Claus Peymann bis Robert Wilson. Derzeit ist Jürgen Holtz am Berliner Ensemble unter anderem als Zirkusdirektor Caribaldi in "Die Macht der Gewohnheit" , einem Stück von Thomas Bernhard, zu sehen. Regie führt Claus Peymann: "Es ist eine grandiose Sache, die der Jürgen Holtz da bietet, und das Wunder, dass ein 82 Jahre alter Schauspieler diese Rolle spielt, eine Rolle, die ist größer als der Lear, rein vom Textvolumen."
In seiner Laudatio für Jürgen Holtz anlässlich der Verleihung des Berliner Theaterpreises vor zwei Jahren charakterisierte Hermann Beil diesen unverwechselbaren Darsteller auf der Bühne mit den Worten: Holtz' Spiel ist hellsichtig und nicht ohne Grazie. Seine Komödiantik unwiderstehlich, ja herzerwärmend. Sie lasse erleben, dass Lachen eine besondere Form der Erkenntnis ist: vielleicht die schönste Form, zumindest die fröhlichste. Und sein Schweigen auf der Bühne, so Hermann Beil, das habe Jahrhunderte im Schlepptau.
Mehr als überfällig, dass der Verlag "Theater der Zeit" nun endlich eine Biografie dieses großartigen Mimen herausbrachte. Zumal Jürgen Holtz nicht nur Theater-, sondern auch deutsch-deutsche Geschichte verkörpert. Er resümiert in seinem Buch:
"Die Rollen, die ich spielte, das Theater, an dem ich teilnehme, fand fast von Anfang an und fast durchweg in einer ideologischen Bruchzone statt: Wo ich hintrat, brach schon immer der Boden weg. Das war in der DDR so. Das war in Frankfurt mit Schleef so. Der Boden, den ich mit der Wiedervereinigung in den neunziger Jahren betrat und der so fest schien, weichte immer mehr auf. Die Kuschelinsel des Schauspiels in Deutschland wird ausgeraubt und ruiniert, während sie in dem allgemeinen Sumpf der subventionierten und substantivierten Langeweile versinkt."
Das Buch von Jürgen Holtz ist deshalb auch weit mehr als eine Biografie sein könnte. Schon der Untertitel verrät, wo es langgeht: "Reden. Einreden. Widerreden", dazwischen Zeichnungen des mehrfachbegabten Holtz sowie Szenenfotos seiner Rollen. Claus Peymann: "Dieses Buch ist etwas ganz anderes. Es ist voller Zorn, voller Ausfälle, voller politischer Manifestationen, voller Empörungen. Und das macht es auch so bemerkenswert."
Zu Jürgen Holtz, der von sich selbst sagt, dass er sehr stark im Moment lebt, dass sein Leben Tätigsein heißt, der sich für die Literatur in den feinsten Nuancen interessiert, sich keines kritischen Kommentars zur aktuellen Lage von Theater und ganze Gesellschaft enthält – zu einem solchen Mann würde eine in die Vergangenheit gerichtete, schlicht biografische Summierung auch einfach nicht passen.
"Hier fängt es an, bei mir: Wer bin ich. Was tue ich. Worüber denke ich nach. Wie kommt das, was ich denke, in die Tat. Oder welche Behinderungen gibt es. Und so weiter. Damit beschäftigt sich das Buch. (...)
Weil, das Theater ist eine notwendige Angelegenheit. Schon allein deshalb, weil es unwiederholbar ist. Was gibt es in der Kunst, was unwiederholbar ist? Das heißt, jede Vorstellung, die wir spielen, ist aus vielen Gründen immer wieder anders. ... Jeder Abend ist nur ein Moment. Und er kann groß sein. Es ist etwas, was es sonst nicht gibt. Das diese Kunst ganz nah beim Leben ist. Verstehen Sie, was ich meine? Das ist eine Kostbarkeit."
Umso weniger versteht der leidenschaftliche Schauspieler Jürgen Holtz, warum gerade das Theater - als gesellschaftskorrigierender und notwendiger Einspruch – nicht nur zusehends an förderlichem Zuspruch seitens der Gesellschaft verliert, sondern ebenso oft an der Fadheit seiner Macher krankt. Gründe dafür benennt er klar in einem Fragment, betitelt "Epilog: Verlust 2":
"Deutschlands Schauspieler sind nicht talentloser als anderswo auf der Welt. Aber sie sind, als Angestellte geführt, unselbstständig, heute mehr denn je. Sie sind unselbstständig im Verhältnis zu französischen, englischen, italienischen oder israelischen Schauspielern. Sie sind, wenn sie Arbeit haben, besser versorgt als die Schauspieler in diesen Ländern. Sie sind in Deutschland als sogenannte Lohnabhängige für ihr Tun nicht verantwortlich und in ihrer Selbstachtung gestumpft. Sie sind als Modeartikel geführt, top oder nicht top; das ist jedenfalls die gläubig-bequem gepredigte Auffassung ihrer verantwortlichen Leiter. Dabei träumen sie von ihrer Karriere in den Medien. Die Schauspieler sind für ihre Leiter Mittel zum Zweck, Schaufensterpuppen ihres Dekorateurgeschmacks, die man so oder so drapiert, bekleidet, dekoriert."
Jürgen Holtz hat in beiden Systemen, in der ehemaligen DDR wie in der ehemaligen und jetzigen BRD, gelebt und gearbeitet. Im Ost-Theater war er gemeinsam mit Heiner Müller und B.K. Tragelehn subversiv.
"Wir waren begeistert sozusagen, wir WOLLTEN den Sozialismus, wir WOLLTEN die Gerechtigkeit, wir WOLLTEN die Schönheit des Menschen, so wie es bei Brecht steht: Anmut sparet nicht noch Mühe, aber: Anmut bitte! Danach haben wir gelebt. Oder, wir haben es versucht. Ich will doch keine Sau sein."
Im West-Theater spielte er gemeinsam mit Schleef, Gosch oder Stein gegen den Wohlstandsstillstand in den Köpfen.
"Ich habe in Frankfurt eine Versammlung erlebt, von Schauspielern, der Rühle war Intendant, und wir hatten die Premiere von "Müttern", ein Projekt von Schleef, das Antikenprojekt, wo er zwei antike Stücke zusammenfügte und zu einer außergewöhnlichen Inszenierung zusammentat. Und dann gab es eine Versammlung, und ich wusste sehr bald: ich saß in einer Parteiversammlung der DDR. Sie machten uns mit den übelsten Argumenten zur Schnecke. Da wusste ich eben plötzlich: Es geht eben um kleinbürgerliches Denken. Wie kommt man selber mit dem Arsch an die Wand. Und der Rest, die können über die Klinge springen."
Wenn es etwas gibt, worüber Jürgen Holtz in seinem Buch reden möchte, unbedingt, dann ist es diese vergleichbare Summe seiner Erfahrungen und Erkenntnisse. Erlebt und gezogen aus seiner selbst gewählten Lage konfrontativ zu allen gesellschaftlichen Saturiertheiten, Manipulationen und Verlogenheiten.
Eine nicht ganz bequeme Position, die er generell mit Theatermachern, Künstlern oder Literaten teilt, die sich schon immer quer zu den Gegebenheiten befanden. Die immer wieder nach dem menschlichen Verhalten jedes Einzelnen fragen, seinem Furor und seinem Versagen, seinen Ansprüchen und seinem Handeln.
"Und ich habe mir einige Mühe gemacht beim Nachdenken, genau über diesen Punkt zu schreiben. Dass nämlich sich ganz grundsätzlich gesehen, die beiden Deutschlands, die es damals gab, so wesentlich nicht voneinander unterscheiden. Die einen hatten die Fahnen und die anderen hatten die Butter. Naja, schön. Das war obenauf. Aber was untendrunter und drinnen war, war einander sehr ähnlich."
Insofern sieht der 1932 geborene Jürgen Holtz, der den Zweiten Weltkrieg als Kind erlebte, das, von seinen Eltern verschickt, sich in den letzten Kriegstagen allein zurück nach Berlin durchschlug, der also weiß, was Krieg bedeutet, noch immer ein bleibendes, schwelendes Konfliktpotenzial in den Köpfen der Menschen, das selbst Friedenszeiten überlebt.
"Mein Beruf ist der des Narren. Hinter dem Frieden, in dem ich heute lebe, sehe ich den Krieg! Wir leben im Krieg."
Denn es gibt nicht nur den Krieg der Waffen. Sondern auch den der Meinungen, der politischen Grabenkämpfe. Es gibt, kurz gesagt, die Macht der Worte. Davon erzählt das Theater. Davon erzählt der Schauspieler Jürgen Holtz in seinem Buch "He, Geist! Wo geht die Reise hin?".
"Und was machen wir jetzt? ... (eine Stimme:) signieren gehen!" ... (Applaus) ...
Jürgen Holtz: "He, Geist! Wo geht die Reise hin? Reden. Einreden. Widerreden." Theater der Zeit, 2015, 138 Seiten, 25 Euro