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Schauspielhaus Bochum
"Tartuffe" als Populist

"Tartuffe", das Stück über den scheinheiligen Heuchler des französischen Hofautors Molière, wurde 1664 zum ersten Mal aufgeführt. Regisseur Harald Schmidt-Rahmer und seine Schauspieler ziehen - mit den Mitteln der Komik - Parallelen zu Donald Trump und anderen machthungrigen Populisten von heute.

Von Dorothea Marcus |
    Das Schauspielhaus in Bochum
    Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer führt in seiner Inszenierung am Schauspielhaus Bochum die verblödete, selbstverliebte Gesellschaft von heute vor. (dpa / picture alliance / Horst Ossinger)
    Tartuffe, der Heuchler, der das Herz des Hausherren Orgon gewinnt – im Schauspielhaus Bochum sieht er wahrlich nicht aus wie ein Verführer. Jürgen Hartmann ist ein geifernder Lüstling mit wirren Haaren im asketischen Büßergewand. Er bricht in eine Familie ein, die Kostümbildner Michael Sieberock-Serafimowitsch in der ganzen Herrlichkeit des 17. Jahrhunderts ausstaffiert hat: glänzende Fräcke, lüstern ausladende Reifröcke, wippende Korkenzieherlocken.
    Die Bühne wird von einem riesenhaften Porträt des AFD-Politikers Björn Höcke grundiert – als eine Art Sehnsuchtsraum des Hausherren, der zu seinem Ermöglicher und Förderer wird. Er ist gewissermaßen die Republikaner-Partei des Donald Trump – auch wenn diese Analogie stets nur dezent mitschwingt. Vor der Videoleinwand stehen die riesenhaften Worte "Treue" und "Ehre" als Wände unter einer neongelben Neoklassik-Fassade, wie der inhaltsleere Wertekanon des reichen Hauses.
    Ästethetik schwelgt im Historischen
    Als Aufziehmännchen springen oder rollen Orlons Tochter, Sohn, Mutter und Gemahlin zu ihren Auftritten dahinter hervor. Sie plappern die schlicht übersetzten Einfachst-Reime des Molière-Übersetzers Wolfgang Wiens so präzise und lustig, dass es eine Freude ist. Ein überkandidelter Puppenhof ist das – kein Wunder dass Orgon den stinkenden Pseudobüßer Tartuffe dagegen für eine ehrliche Haut hält. Nur leider macht sich der an die Hausherrin heran, die auf goldenen Schuhen wie ein junges Fohlen heran tanzt.
    "Von ihrem Fieber sind sie ganz genesen. Ja, danke sehr! Ist wohl nicht so schlimm gewesen! Genug von mir. Ich traf mich hier mit Ihnen, um etwas sehr Intimes zu besprechen und wies die anderen an, uns nicht zu unterbrechen. Nicht - ich bin kitzlig! Ich lache gleich! Hörn Sie auf! – Ich hab mir die Freiheit nur genommen… - genug, wir sollten jetzt zur Sache kommen! Mein Mann wünscht Sie sich mir als Schwiegersohn. Was halten Sie davon?"
    Lasziv lutscht Tartuffe ihren Mittelfinger, was alsbald als "Breaking news" in Endlosloop auf der Leinwand erscheint und mit dem Björn Höcke-Porträt überblendet wird. Über sexuelle Fehltritte ist schon so mancher Populist gestolpert. Doch Orgon, den Michael Schütz feist und selbstzufrieden mit Elvis-Tolle und silber-goldenem Frack spielt, will es einfach nicht wahrhaben, auch wenn seine Familie Sturm läuft. Er überschreibt dem Betrüger Haus und Hof. Da nützen auch die Gewaltfantasien des Sohnes nichts.
    Regie zieht alle Register der Komik
    "Die Gelegenheit ist doch zu schön! Der Schuft wird meiner Rache nicht entgehen!"
    Die Aufklärung muss also Schwager Cléanthe leisten, der mit wehendem Ledermantel aus dem Zuschauerraum auf die Bühne stürmt. Mit Berliner Gossenakzent exerziert er mit der Familie hilflose demokratische Abwehrstrategien von heute gegen den Sieg der puren Lüge durch – alles vergebens, wenn Tartuffe auch nur ein bisschen Reue zeigt.
    "Ja, es ist wahr. Mir ist jedes Scham und Ehrgefühl gestorben… meiner Seele… ich bin Dreck… Ich habe Sie belogen! Sie müssen Handeln! Werfen Sie mich aus dem Haus! – Siehst du wie aufrichtig er ist, und wie verblendet du in deiner Missgunst bist! – Was Vater?"
    Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer zieht alle Register der Komik, und die Schauspieler ziehen bravourös mit – allein schon über das brillante Timing des knackigen Versmaßes. Obwohl Orgons Frau Tartuffe mit lasziv-französischer Klischeeerotik durchs Mikro aufs Glatteis führt, bauen die Bochumer Bühnentechniker nach und nach das Mobiliar ab, alle füllen eifrig ein Selbstauskunftsformular zur Vermögenslage aus.
    So etwas wie Wahrheit interessiert niemanden mehr
    Und obwohl hier, ästhetisch gesehen, so schwelgerisch dem Historischen gefrönt wird, führt der Regisseur die verblödete, selbstverliebte Gesellschaft von heute vor, die ihren falschen Verführern auf den Leim geht. Sie hat, auch wenn sie das Unheil kommen sieht, keinerlei Handhabe, ihnen etwas entgegenzusetzen. Denn so etwas wie Wahrheit interessiert niemanden mehr. Zum Schluss, als Tartuffes Lüge aufgedeckt und alles noch mal in letzter Sekunde gerettet ist, kann er einfach so aus der Tür spazieren. Wieder mal zu langsam reagiert. Ein lustiger, trauriger Abend, der einen Spiegel vorhält und doch keine Rezepte bereithält.