Diesen Zwiespalt beschreibt Safeta Obhodjas in allen ihren Büchern, auch in diesem autobiographich geprägten Roman "Scheherazade im Winterland'. Aber es spielen noch andere Gründe mit, warum Nadira, das Mädchen mit der literarischen Begabung, keinen Ort für sich findet. Aus ihrer Sicht wird in diesem Buch die Situation der Muslime in Bosnien überscharf beleuchtet. Die Kindheit der Heldin ist überschattet von der Verfolgung der "Jungen Muslime", jener Intellektuellen, die nach dem Zweiten Weltkrieg vom jugoslawischen Staat forderten, die bosnischen Muslime als Nationalität anzuerkennen. In den Familien spricht man mit vorgehaltener Hand über jene Männer, von denen einige auch zum Tode verurteilt wurden. Das Mädchen versteht wenig, bekommt aber deutlich mit, daß die eigene Kultur mit Tabus behaftet ist. Nach außen soll sie möglichst wenig in Erscheinung treten, im privaten Raum der Familie hingegen werden Traditionen hochgehalten, wird oft auch die gute alte Zeit glorifiziert, als die Bosniaken noch für den Sultan in den Krieg zogen. Und natürlich dürfte die aktuelle Realität nicht kritisiert werden. Als Nadira später eine Erzählung schreibt, in der ein betrügerischer Moslem vorkommt, wirft ihr Onkel sie aus dem Haus.
Diese Existenz zwischen den Stühlen der alten Tradition einerseits und dem Minderheitenstatus im neuen Jugoslawien andererseits hatte natürlich Folgen für die Lage der Intellektuellen und Künstler in Bosnien. Viele von ihnen ließen sich vereinnahmen, wechselten sozusagen auf die Seite der Kroaten oder Serben. Als Nadira ihre ersten Erzählungen veröffentlicht und Bekanntschaft mit dem kleinen Literaturbetrieb von Sarajevo schließt, stellt sie mit Schrecken fest, daß es nicht möglich ist, einfach nur als Autor oder als Autorin Anerkennung zu finden. Auch das sind Erfahrungen, die Safeta Obhodjas mit ihrer Heldin Nadira teilt.
Safeta Obhodjas berichtet aus einem nicht mehr existierenden Land, jenem sozialistischen Jugoslawien, in dem die verschiedenen Kulturen eben nicht ohne Spannungen miteinander lebten. Sie erzählt einfach, ohne Schnörkel und ohne hohen literarischen Anspruch, und in der Übersetzung von Brigitte Kleidt wirkt der Text manchmal auch etwas holprig. Aber ihre Berichte fesseln als Einblicke in einen Alltag, der nicht allzuweit von dem unserem entfernt ist, respektive war. Die Bücher von Safeta Obhodjas zeigen, daß Bosnien sich auf dem Weg in eine moderne Gesellschaft befand - und immer wieder denkt man beim Lesen mit Schrecken daran, daß der Krieg und die ethnischen Säuberungen diese Entwicklung abgewürgt haben.
Den Kriegsroman "Die Balkanpest" hat Safeta Obhodjas übrigens nicht aufgegeben. Als Stipendiatin im Künstlerdorf Schöppingen ist sie derzeit dabei, ihn neu zu konzipieren. Er wird die Beziehung von Nadira und ihrem Förderer und Freund weitererzählen in die Zeit des Kriegs hinein, als der aufgeklärte, liberale Muslimenfreund sich plötzlich auf seinen serbischen Patriotismus besinnt.