"Frau Vogelsang, wollen wir noch eine Flasche Eierlikör mitnehmen?" - "Ja, wenn es geht." - "Den trinken die Frauen ganz gerne, oder?"
Eine Betreuerin des so genannten Demenzdorfes Hameln geht mit einer Bewohnerin in den kleinen Minimarkt der Einrichtung. Der kleine Supermarkt gehört zum Konzept des Demenzdorfes. Wird den Demenzkranken hier eine Scheinwelt vorgetäuscht? Die Heimleiterin Christine Boss-Walek bestreitet, dass ihr Supermarkt ein Scheinelement sei: "Die Bewohner haben die Möglichkeit dort eigenständig auch mit Geld bezahlen zu können und können sich dort Kleinigkeiten kaufen, Naschereien, Kosmetikprodukte, und so weiter."
Vorgetäuschte Heimeligkeit?
Allerdings kritisieren einige Demenzexperten, das Konzept eines Demenzdorfes solle so etwas wie schöne Heimeligkeit vortäuschen, die es nicht gebe – zumal die Demenzsiedlung umzäunt ist, damit die Bewohner nicht weglaufen können. Heimleiterin Christine Boss-Walek:
"Natürlich kommen wir auch manchmal in bestimmte Situationen, wenn jemand nach Hause möchte, weil er denkt, er müsse seine Kinder bekochen. Aber wir sind der Meinung, dass wir möglichst authentisch, interaktiv mit den Bewohnern umgeben sollten."
Wie Menschen mit Demenz getäuscht werden
In einigen Heimen wie in einer Rostocker Seniorenanlage ist man dazu übergegangen, Bushaltestellen zu errichten: mit Halteschild, Fahrplan und Wartehäuschen. Nur dass hier nie ein Bus halten wird, wie Janine Graf-Wäspe, Betriebsökonomin und Ethikerin der Alterszentren Zürich, einräumt:
"Die Bushaltestelle ist ein Element, da geht es primär um Stressreduktion. Es ist ein Element, das in vielen Häusern viele Dienste leistet - im Bereich des Weglaufschutzes, Stressreduktion für Menschen mit Demenz, aber auch für die Mitarbeitenden."
Heimleiterin Boss-Walek wiederum kann mit Scheinelementen nichts anfangen: "Ich bin nicht dafür, dass man jemanden an eine Bushaltestelle setzt, also bei uns gibt es keine Bushaltestelle, wir haben andere Möglichkeiten. Das Gute an der Erkrankung Demenz ist ja auch: Der Bewohner vergisst dann, dass er gerade noch zu den Kindern wollte, und zwei Minuten später ist er bei einem ganz anderen Thema angelangt."
Fiktive Zugabteile
Zu den Scheinelementen, die auf einer Tagung des evangelischen Zentrums für Gesundheitsethik in Hannover vorgestellt wurden, gehört auch die Einrichtung eines fiktiven Zugabteils: mit dem Rattern der Räder und einer Bergwelt, die am Fenster vorbeizieht. Menschen mit Demenz wird suggeriert, sie würden noch mal auf eine große Reise gehen. Janine Graf-Wäspe ist nicht prinzipiell dagegen, aber es sollten keine falschen Tatsachen vorgespielt werden: "Warum kann man das Zugrattern nicht aus sichtbaren Boxen scheppern lassen? Ich denke, die Reduktion der Gestaltungsauthentizität ist wichtig, weil eine Täuschung als solche von Menschen mit Demenz erkannt wird."
Grundsätzlich geht es um die Frage, ob man Menschen mit Demenz täuschen darf, belügen darf. Lüge – das sei allerdings ein vielschichtiger Begriff, meint Hans Ulrich Dallmann, Professor für Theologie und Ethik an der Hochschule Ludwigshafen. In den Zehn Geboten stehe nicht: "Du sollst nicht lügen!"
Sondern: "Du sollst nicht falsch Zeugnis reden! Es geht um ein Verbot der falschen Beschuldigung vor Gericht und nicht um die Lüge. Und wenn man genau hinschaut, welche Sprache- und Handlungsrahmen unter dem Dach der Lüge sind: dann finden wir ganz verschiedene Dinge: faken, verheimlichen, schummeln, heucheln, Komplimente machen, aber auch betrügen und schlimmere Sachen."
Also sind kleine Lügen legitim, um den Alltag von Dementen und Pflegenden zu erleichtern? Die Zürcher Ethikerin Janine Graf-Wäspe sagt Nein: "Für mich sind Lügen nie zu rechtfertigen, auch wenn vielleicht verzeihlich. Ich habe Situationen erlebt, wo ich keine andere Handlungsoption mehr sah, als auf eine Notlüge zurückzugreifen. Das ist Realität in der Praxis. Trotzdem sehe ich Lügen nicht rechtfertigbar und würde davon absehen, das als Handlungsmaxime in den Betreuungsalltag aufzunehmen."
Computer-Robbe mit weißem Kuschelfell als Haustier-Ersatz
Sehr gefragt in Altenheimen ist Paro, eine computer-animierte Robbe: Unterm weißen Kuschelfell verbergen sich 13 elektronische Tastsensoren und sieben Mini-Motoren. Die 50 Zentimeter lange und knapp drei Kilo schwere Nachbildung einer jungen Sattelrobbe reagiert auf Stimmen und auf Berührung mit einem wohligen Fiepen. Viele Demenzkranke halten Paro für ein richtiges Tier. Die japanische Erfindung wird mittlerweile weltweit in Seniorenheimen eingesetzt, allerdings nicht im Demenzdorf Hameln, betont Christine Boss-Walek: "Ich persönlich kann mir das gar nicht vorstellen, ich finde Robben sehr schön, aber ich finde es schöner, wenn sie in der Nordsee weiter verbleiben."
Für den Theologen und Ethiker Hans-Ulrich Dallmann kann die kleine Robbe zu einem Beziehungsersatz werden: "Auch das wäre nicht so schlimm, für Kinder sind Spielzeuge auch oft Beziehungsersatz, aber wenn das gezielt dafür eingesetzt wird, dass andere Beziehungen nicht notwendig sind. Das ist genau so, als wenn ein Kind vor den Fernseher gesetzt wird, damit es nicht stört, und das wäre ein Problem."
Wie werden Roboter genutzt?
Die entscheidende Frage sei, wie die Robbe genutzt wird: als mögliche Brücke, um Kontakt zu Menschen mit schwerer Demenz herzustellen oder um Kosten zu reduzieren? Dazu der Theologe Dallmann: "Das ist eine Gefahr, persönliche Zuwendung durch gefakte Zuwendung zu ersetzen. Wenn das zu Lasten geht der persönlichen Betreuung und Versorgung von Menschen, dann fängt es an schräg zu werden, dann geht es auch nicht mehr um die Menschen selber, sondern es geht darum, Geld und Personal zu sparen, und das ist ein anderes Ziel."
Wissenschaftliche Untersuchungen belegen allerdings, dass die Roboterrobbe – mit entsprechendem Personal - erfolgreich eingesetzt werden kann: So zeigten Befragungen, dass die Robbe die Stimmung unter den Bewohner hebt; Urinproben weisen bei jenen Demenzkranken, die eine Beziehung zur Robbe Paro aufbauen können, niedrigere Stresshormone nach; Hirnstrommessungen belegen eine Aktivierung des Gehirns.
Schöne neue Demenzwelt? Warum nicht, meint die Schweizerin Janine Graf-Wäspe: "Wenn man nach Japan blickt, die ja eine ganz andere Kultur haben, da werden ja auch Babys mit Robotern betreut. Die haben einen anderen Zugang. Das wir uns davon inspirieren lassen? Warum nicht? Aber ich glaube, es liegt dann an uns, ganz klare Vorgaben für den Umgang mit diesen Hilfsmitteln festzulegen."