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"Schengen ist Kernbestandteil der EU"

Silvio Berlusconi hat mit der Aufhebung der Visapflicht in Richtung Frankreich Europa herausgefordert. Dass er das Schengen-Abkommen ganz aufheben will, geht dem FDP-Politiker Jorgo Chatzimarkakis zu weit: "Wer raus will aus Schengen, der sollte konsequent eigentlich auch raus wollen aus der EU."

Jorgo Chatzimarkakis im Gespräch mit Dirk Müller |
    Dirk Müller: "Gleich zwei Napoleons sind los", schrieb gestern ein wütender Kommentator. Gemeint sind Silvio Berlusconi und Nicolas Sarkozy. Die beiden sind recht häufig los, diesmal geht es aber ums Ganze, um die Freizügigkeit der Bürger in Europa, im Schengenraum. 26 Mitgliedsstaaten der EU genießen dort Reisefreiheit, sprich ein Fortkommen per Auto, Bus oder Bahn ohne Grenzkontrollen. Genau das muss sich nun ändern, fordern der italienische Ministerpräsident und der französische Staatschef – als Konsequenz aus dem ungelösten Flüchtlingsdrama auf der italienischen Insel Lampedusa. Weil die EU nicht weiterhelfen wollte, hatte sich die Regierung in Rom entschieden, Tausenden Nordafrikanern befristete Visa auszustellen, zum Ärger aller anderen Europäer und auch zum Ärger der Europäischen Kommission. Aus Brüssel heißt es denn auch: Die Freiheit von Schengen ist unantastbar. Darüber sprechen wollen wir nun mit dem FDP-Politiker Jorgo Chatzimarkakis, Parlamentarischer Geschäftsführer der Liberalen im Europäischen Parlament. Guten Morgen!

    Jorgo Chatzimarkakis: Guten Morgen, Herr Müller!

    Müller: Herr Chatzimarkakis, Europa und Solidarität, warum funktioniert das nicht?

    Chatzimarkakis: Tja, wir reden immer über gemeinsame Flüchtlingspolitik, wir haben auch gemeinsame Übereinkommen – Dublin I, Dublin II –, aber es funktioniert eben nicht. Es funktioniert auch deswegen nicht, weil wir uns in Zentraleuropa, in Nord- und Mitteleuropa ein bisschen auch einen schlanken Fuß machen. Wir sagen halt, Dublin II, diese Übereinkunft der gemeinsamen Asylpolitik, gibt den Grenzstaaten sozusagen die Verantwortung, also die Staaten, die vor allem im Mittelmeer mit dem Flüchtlingsstrom kämpfen müssen, und wer zuerst aufnimmt, beziehungsweise wörtlich heißt es, wer die Einreise nicht verhindern kann, der ist selber schuld und der soll sich drum kümmern. Und das hat jetzt Berlusconi durchbrochen. Er hat durch die Aufhebung dieser Visapflicht Richtung Frankreich das Prinzip durchbrochen, damit die anderen Europäer provoziert, und jetzt stellt sich eben die Frage der bisherigen mangelnden Solidarität. Das ist nämlich das einzige Grundproblem, dass die Europäer keine wirkliche gemeinsame Flüchtlings- und Asylpolitik haben und entsprechend nicht gemeinsam an dem Thema arbeiten.

    Müller: War das richtig, dass Silvio Berlusconi mit Schengen gebrochen hat?

    Chatzimarkakis: Legal war es nicht, aber es war zumindest nachvollziehbar aus italienischer Sicht, dass er die Visa ausstellt, Richtung Frankreich, denn die bisher 26.000 tunesischen Flüchtlinge wollten ja nicht nach Italien. Die sprechen hauptsächlich eher französisch, die wollten eigentlich nach Belgien, nach Frankreich, dort wo andere Tunesier leben. Und es war nachvollziehbar, dass er sagt, okay, dann reist weiter. Aber dass er jetzt Schengen aufheben will, das ist natürlich die Axt anlegen an einen Kernbestandteil der Europäischen Union, nämlich die Reisefreiheit. Das kann auch nicht im Sinne der Bürger sein in Europa. Eine große Errungenschaft, die wir da erzielt haben, gehört zu den Kernwerten der EU. Wer raus will aus Schengen, der sollte konsequent eigentlich auch raus wollen aus der EU. Also ich sehe da nur Sand in die Augen streuen, was Berlusconi da will und was Sarkozy leider da auch mitgemacht hat. Ich glaube, dass Grenzkontrollen aufgehoben werden können müssen, vorübergehend – das ist passiert bei der Fußball-WM 2004, wir erinnern uns alle, das war aber wirklich nur für dieses Ereignis, der Fußball-WM so machbar. Dass man Schengen ganz aufhebt, wäre wirklich fatal für die EU, wäre nicht nachvollziehbar und wäre auch nicht akzeptabel.

    Müller: Wenn wir das richtig verstanden haben, Herr Chatzimarkakis, geht es ja auch nicht darum, Schengen komplett aufzuheben, es geht ja darum, Änderungen vorzunehmen. Würden Sie da mitmachen?

    Chatzimarkakis: Änderungen werden vorgeschlagen jetzt auch von der Kommission. Die liberale Kommissarin Cecilia Malmström wird am 4. Mai einen Vorschlagskatalog vorlegen, der wird dann von den Innenministern am 12. Mai diskutiert – auch der deutsche Innenminister ist ja für vorübergehende Aufhebung der Reisefreiheit, so wie viele andere Innenminister auch. Ich glaube, da muss man drüber reden können, dass man es wirklich sehr kurz machen kann, vorübergehend machen kann, aber willkürlich jetzt hinzugehen und zu sagen, ich, Frankreich, sehe hier einen Flüchtlingsstrom aus Italien oder aus Spanien, ich hebe jetzt die Reisefreiheit auf, ganz willkürlich das zu machen, ohne Einvernehmen mit den anderen Europäern, wäre falsch und wäre nicht akzeptabel.

    Müller: Sie haben ja auch gesagt, das ist illegal, aber politisch, wenn ich Sie richtig, zumindest zwischen den Zeilen richtig verstanden habe, bedeutet das, dass es doch durchaus politisch richtig war, aus der Sicht Roms, diesen Druck auf Europa durch diesen Schritt zu erhöhen?

    Chatzimarkakis: Ja, die Aufhebung der Visapflicht für die jungen Tunesier, die da gekommen sind, war richtig. Man muss einfach mal die Dinge sehen. Seit Ende der 80er-Jahre sind 16.000 Menschen, Flüchtlinge gestorben, die nach Europa wollen, die meisten im Mittelmeer, 11.000 davon im Mittelmeer. Also der Druck auf Europa ist enorm, aber die Nordeuropäer machen sich meines Erachtens einen schlanken Fuß, wenn sie meinen, das ist ein Problem der Mittelmeeranrainer – ist es eben nicht. Mittlerweile hat ja sogar das Bundesverfassungsgericht beschlossen, dass Flüchtlinge nach Griechenland zurückzuführen, nicht den Menschenrechten entspricht, weil in Griechenland die Situation noch schlimmer ist als in Lampedusa. Dort ist der Flüchtlingsdruck so stark, dass Griechenland mit den Flüchtlingen nicht mehr menschenrechtsgerecht umgehen kann, die Menschenrechte dort nicht wahren kann, und deswegen darf man auch nicht mehr zurück nach Griechenland abschieben, obwohl es nach dem Dubliner Übereinkommen möglich wäre. Das heißt, der Druck auf einige Staaten – Spanien insbesondere, Italien, aber eben auch Griechenland, Malta – ist so stark, dass man die nicht damit allein lassen kann. Es ist so ähnlich wie damals nach der Wende in Osteuropa. Wir haben immer die Osteuropäer eingeladen, zu uns zu kommen, die Freiheit zu genießen, als es dann aber soweit war, dann haben wir uns das noch mal neu überlegt. Das geht so nicht. Man muss konsequent sein und zum Beispiel in Deutschland ganz konsequent die Frage überlegen, ob wir nicht tatsächlich eine Zuwanderungspolitik brauchen, eine geregelte Zuwanderungspolitik.

    Müller: Herr Chatzimarkakis, ich muss Sie da noch mal unterbrechen. Sie reden immer von Nordeuropa, gehört Deutschland auch zu Nordeuropa?

    Chatzimarkakis: Natürlich. Deutschland ist ja das Land, das mit verursacht hat, dass es Dublin I, Dublin II, diese Übereinkommen, die die Flüchtlingsfrage in Europa regeln, aber eben nur oberflächlich regeln ... Deutschland war Anfang der 90er-Jahre unter starkem Druck, Einwanderungsdruck aus Mittel- und Osteuropa, und deswegen ist Deutschland hier auch am Zug, innerhalb Europas zu gestalten. Und da bin ich schon bei der Zuwanderungsfrage. Diese jungen Tunesier, das waren bisher nicht viele, 26.000 an der Zahl, damit könnte Italien, damit könnten Frankreich alleine fertig werden, aber auch wir in Deutschland sollten uns interessieren für diese jungen Leute. Die sind meist gut gebildet, die sind so ausgerichtet, dass sie unseren Arbeitsmarkt verstärken könnten, unsere Wirtschaft boomt. Und hier erwarte ich eigentlich von der Bundesregierung, dass sie hingeht und sagt: Schauen wir uns das doch mal genau an, was braucht jetzt die deutsche Wirtschaft, was braucht der Bundesverband der deutschen Industrie, wie viele von diesen Flüchtlingen könnten wir vielleicht aufnehmen und bei uns in den Arbeitsmarkt integrieren, vielleicht sogar auch nur vorübergehend.

    Müller: Also hat die Bundesregierung bislang in dieser konkreten Frage, die Flüchtlinge, die aus Nordafrika jetzt gekommen sind, einen großen Fehler gemacht?

    Chatzimarkakis: Meines Erachtens hat die Bundesregierung einfach weggeschaut. Und wir können nicht uns freuen über die Freiheitsrevolution auf dem Tahrir-Platz in Kairo oder in Tunesien, das, was in Libyen passiert – aus Libyen sind bisher nur 5000 Flüchtlinge, nur in Anführungszeichen, zu uns nach Europa gekommen – und andererseits sich abschotten. Das geht nicht. Man muss dann sehr konsequent sagen, wir unterstützen als Europäer, als Deutsche, unterstützen diesen Prozess ...

    Müller: Auch als FDP?

    Chatzimarkakis: Auch als FDP. Wir als FDP haben einerseits den Grundwert der Reisefreiheit ganz, ganz hoch auf dem Sockel stehen, aber auf der anderen Seite sind wir auch den Menschenrechten verpflichtet. Und wir als FDP sind für eine geregelte Zuwanderungspolitik. Rainer Brüderle hat sich für ein Punktesystem ausgesprochen bei der Zuwanderung und Bildung, und der hohe Bildungsgrad der jungen Tunesier spielt da eine Rolle. Bildung ist die Grundvoraussetzung, und da müssen wir jetzt konsequent mal auch uns dieser Frage annehmen.

    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk der FDP-Politiker Jorgo Chatzimarkakis, parlamentarischer Geschäftsführer der Liberalen im Europäischen Parlament. Vielen Dank für das Gespräch!

    Chatzimarkakis: Danke Ihnen!

    Müller: Auf Wiederhören!

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