Schiedsrichter im Profifußball wurden in den vergangenen Jahren mit immer mehr technischen Hilfsmitteln ausgestattet. Trotz aller anfänglicher Skepsis haben sich Headset-Kommunikation, die Funkfahne oder auch das Freistoß-Spray bewährt. Aber kein Schiedsrichter, ob im Profi- oder Amateurbereich, kann bislang Kameras tragen. So schreibt es das Regelwerk des IFAB vor, dort sitzen die globalen Regelhüter.
Aber auch die können Ausnahmen erlauben, wie nun in England geschehen. Dort werden in den untersten Spielklassen sogenannte Körperkameras getestet. Wegen steigender Gewalt gegen Schiedsrichter sollen sie mehr geschützt werden, indem alles aus der Perspektive der Unparteiischen festgehalten wird.
Schiedsrichterausbilder Feuerherdt: "Traurig, dass es nötig ist"
Wie bewertet Alex Feuerherdt, Schiedsrichterausbilder und Mitbetreiber des Podcasts „Collinas Erben“, das Experiment in England? „Als ich davon gelesen habe, dass da jetzt die Unparteiischen mit Kameras ausgestattet werden, zumindest in einigen Grassroots-Ligen, habe ich mich erstmal gefragt: Ist das wirklich nötig? Und man muss ja sagen, offensichtlich ist es nötig – und es ist traurig, dass es nötig ist. Denn das bedeutet, dass es ein Verhältnis zu den Unparteiischen gibt, mit dem es wirklich zum Schlechten bestellt ist“, sagt Feuerherdt und ergänzt: „So gespannt ich darauf bin, wie das Ganze läuft und was das konkret nach sich zieht, so traurig bin ich auch darüber, dass man offensichtlich sich gezwungen gesehen hat, diesen Schritt zu gehen.“
Das Experiment mit den Kameras steckt in den Anfängen, sodass sich fundierte Erkenntnisse noch nicht ermitteln lassen. Aber durch die Präsenz von Kameras verschwindet eine gewisse Anonymität, die in niedrigen Spielklassen oder auch in weiten Teilen des Jugendfußballs vorherrscht. Die Schiedsrichter sind meist auf sich allein gestellt und deshalb ein leichtes Opfer für verbale oder auch körperliche Attacken von Fans wie auch den Aktiven auf dem Rasen.
"2400 Gewalt- und Diskriminierungsvorfälle gegen Unparteiische"
In England hat das Thema mittlerweile eine breite Öffentlichkeit erreicht. Unter anderem hat die BBC junge Schiedsrichterinnen, die Opfer von Gewalt wurden, ausführlich zu Wort kommen lassen.
In Deutschland sind ähnliche Tendenzen wie auf der Insel zu beobachten, berichtet Alex Feuerhardt: „Wenn man sich den jüngsten Lagebericht Amateurfußball anschaut aus der Saison 2021/22, da sind 911 Fußballspiele abgebrochen worden. Und in etwa der Hälfte der Fälle ist der Schiedsrichter oder die Schiedsrichterin das Opfer gewesen. Dazu kommen insgesamt 2400 Gewalt- und Diskriminierungsvorfälle gegen Unparteiische. Man darf das nicht an der absoluten Zahl der Spiele messen, sondern man muss sich immer vergegenwärtigen, das sind jetzt vielleicht 2500 unterschiedliche Schiedsrichter und Schiedsrichterinnen von 50.000, die diese Vorfälle in einem Jahr wohlgemerkt erlebt haben.“
Kameras als neues Trainingstool für die Schiedsrichter
Kaum verwunderlich angesichts dieser Zahlen, wenn der Schiedsrichtermangel in Deutschland größer wird. Wie Alex Feuerherdt hervorhebt, braucht es einen kulturellen Wandel. Kameras sind lediglich ein Mittel, um die Auswüchse einzudämmen.
Doch ihr Einsatz könne für Schiedsrichter auch ganz andere Vorteile haben, betont Nicolas Winter. Er ist Schiedsrichter in der 2. Bundesliga und darüber hinaus zusammen mit seinem Kollegen Patrick Kessel und der Firma Riedel Communications an der Entwicklung einer kleinen Kamera für Unparteiische beteiligt, die nicht am Körper, sondern unauffällig am Kopf beziehungsweise am Headset getragen werden sollen.
Doch was bringen diese Kameras den Unparteiischen auf Profiniveau, wo Gewalt keine so große Rolle spielt? „Grundsätzlich glaube ich, dass es einfach ein neues Trainingstool für uns Schiedsrichter ist. Für die Schiedsrichter, allerdings dann auch für die Coaches in der Analyse, weil eines interessiert mich nach jedem Spiel und nach jeder Entscheidung: Wie war meine ursprüngliche Perspektive im Spiel? Ich kann mir ganz viele verschiedene Perspektiven angucken, aber nie die originäre Perspektive, die ich eigentlich während des Spiels hatte. Das ist ein megaspannender Punkt, bei dem ich glaube, dass er uns in Sachen Stellungsspiel, was essenziell ist für unsere Entscheidungsqualität auf dem Feld, einfach weiterhelfen kann“, sagt Winter.
Alles noch in der Testphase
Anders als Mannschaften können die Unparteiischen im Training unter der Woche gewisse Spielsituationen nicht noch einmal simulieren. Umso wichtiger sei die Analyse von Bewegtbildern am besten aus der Ich-Perspektive, argumentiert Winter. Zum Einsatz kam die „Ref Cam“ bislang nur beim Testspiel zwischen dem 1. FC Köln und dem AC Milan im vergangenen Sommer.
Winter erinnert sich: „Viele Medienexperten oder auch Trainer wie beispielsweise Steffen Baumgart haben nach dem Spiel ein sehr, sehr positives Feedback gegeben. Dass sie es spannend finden, diese Perspektive einmal zu sehen und dadurch auch mehr Verständnis für unsere herausfordernde Arbeit haben.“
Für den Augenblick bleibt es jedoch bei Experimenten und Testphasen. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass Kameras künftig das nächste technische Hilfsmittel für Schiedsrichter werden.